Inhaltsverzeichnis Einleitung


Wie die Kultur uns geholfen hat, über uns selbst hinaus zu wachsen



Yüklə 2,08 Mb.
səhifə33/45
tarix26.07.2018
ölçüsü2,08 Mb.
#59660
1   ...   29   30   31   32   33   34   35   36   ...   45

13.2 Wie die Kultur uns geholfen hat, über uns selbst hinaus zu wachsen

Wissenschaftliches Denken und wissenschaftliche Erkenntnisse bilden sich, wie die Menschheitsgeschichte zeigt, ausschließlich in Hochkulturen. Das liegt daran, dass sie eine ausgeprägte Arbeitsteiligkeit mit einer gesellschaftlich hierarchischen Schichtung aufweisen. Auf diese Weise gibt es Gruppen in der Gesellschaft, die von den Aufgaben der Beschaffung des Lebensunterhalts, aber auch von der Verteidigung der Gesellschaft, befreit sind und sich scheinbar nutzlosen Aktivitäten des Nachdenkens widmen können. Ein zweite Bedingung, die Hochkulturen liefern, sind repräsentative, meist religiöse, Bauwerke. Sie erfordern die Entwicklung von Erkenntnissen über Statik und andere mathematisch-physikalische Sachverhalte. Schließlich muss die Verwaltung und Versorgung einer umfangreichen Bevölkerung sichergestellt werden, was Planung, Berechnung, Warenlisten und vieles andere mehr erfordert. Dazu sind schriftliche Fixierung von Daten und Rechenleistungen vonnöten. Bezüglich des Rechnens und der Mengenerfassung hat uns die Evolution besonders mager ausgestattet. Was über die Menge fünf bis zehn hinausgeht, liegt nach heutigem Wissen schon jenseits unseres evolutionären Mathematik-Potenzials. Es ist das Verdienst der Hochkulturen, über dieses einfachste Mengenverständnis hinauszukommen. Die Nutzung eines 60iger Zahlensystems durch die Babylonier ist ein Beispiel für die Einführung eines Rechensystems. Da 60 eine Zahl mit vielen Teilern ist (2, 3, 4, 5, 6, 10, 12, 15, 20, 30), eignet sie sich besonders gut als Grundlage für die Aufteilung von Land, das sowohl in Mesopotamien als auch am Nil nach den Überschwemmungen jährlich neu verteilt werden musste. Noch heute benutzen wir das System bei der Zeitunterteilung in Sekunden und Minuten.

Aber was um alles in der Welt führte zu einer axiomatischen Mathematik, deren Systematik völlig abgehoben von der Realität des Alltags entwickelt wurde? Sie entstand im Abendland um 600 vor Christus in Griechenland und ist mit den Namen Thales,

Pythagoras und Euklid verbunden. Warum gerade in Griechenland? Dort kamen einige günstige Bedingungen zusammen. Griechenland war ein buntes Gemisch von nach Autonomie strebenden Kleinstaaten, die sich nicht einem Herrscher unterwarfen, der alle Griechen hätte vereinigen wollen. Trotz dieser Vielfalt waren die Griechen geistig und kulturell durch die gleiche Sprache und die gleiche Religion sowie den Mythos von Ilias und Odyssee miteinander verbunden. In diesem freien Klima gab kein despotischer Herrscher vor, was man denken durfte und was nicht. So konnten Philosophen ihre Gedanken entwickeln und genossen Narrenfreiheit. Man nahm sie nicht sehr ernst, aber man ließ sie gewähren. Wenn aber die Gedanken frei umherschweifen können und an keine Religion und keine Vorschriften von Herrschern und Priestern gebunden sind, muss man doch nach Regeln suchen, wie man seine Gedanken mitteilen und begründen könnte. Das Instrument für diese Regeln ist uns allen bekannt, es ist die Logik. Ein Gedankengebäude musste logisch aufgebaut sein, wollte man sich in der Diskussion mit anderen behaupten. So kam es, dass die Naturphilosophie der Vorsokratiker bereits Vieles von den modernen Naturwissenschaften vorwegnahm. Dies ist erstaunlich angesichts der mythologisierten Welt, in der die Menschen damals lebten. Naturerklärungen ohne Götter und Geister waren etwas völlig Neues und etwas ganz anderes.

Wie kommt man auf solche fremdartigen Gedanken? Sie entfernen sich ja auch von den Erkenntnismöglichkeiten der evolutionären Grundlagen des Menschen. Es ist viel „natürlicher“, Akteure hinter den Erscheinungen der Natur zu vermuten, als Gesetze zu entwickeln, die ohne solche Akteure auskommen. Die Narrenfreiheit, die die Philosophen genossen, reicht für die Entwicklung neuer Ideen nicht aus. Aber es gibt eine Haltung, die weit in die Phylogenese zurückreicht und die das Ausdenken von Neuem erleichtert: die Spielhaltung. Wir haben bereits in Kap. 10 auf den Zusammenhang von Spiel und Wissenschaft hingewiesen. Viele Tiere, vor allem aber die Menschen, beginnen zu spielen, wenn sie nicht gerade für ihren Lebensunterhalt sorgen müssen. Ich erinnere an die afrikanische Weichschildkröte „Pigface“, sie verbrachte 30% ihrer Zeit mit dem spielerischen Umgang von Bällen, Stöcken und Gummiringen. Menschen, die freigestellt von Arbeit und Lebensunterhalt sind und die zugleich Denkfreiheit haben, spielen nicht nur mit Bällen oder Karten, sondern lieben auch Gedankenspiele. Kommt hinzu, dass die Gedankenspiele den Gesetzen der Logik folgen sollen, so entspringen daraus Philosophie und Mathematik. Die Logik wäre dabei die Spielregel, nach der man mit seinen Gedanken spielt.

13.3 Kultur überhöht die Evolution: das Beispiel der Zahlen

Große Zahlen

Wie gesagt, unsere evolutionäre Ausstattung für den Umgang mit Mengen ist äußerst beschränkt, sie geht nicht über die Menge 5 bis 10 hinaus. Immerhin können Säuglinge im Zahlenbereich von 3 bis 4 addieren und subtrahieren. Das ist ein Beleg dafür, dass wir eine Ausstattung für die Grundoperationen des Rechnens vor aller Lernerfahrung besitzen.

Auch Tiere können zählen und einfache Rechnungen ausführen (Cantlon 2012). Zwei Rhesusaffen bewiesen in 150 Labortests an der Columbia University in New York, dass sie von eins bis neun zählen können. Dafür mussten sie auf einem berührungsempfindlichen Bildschirm Symbole, wie zum Beispiel einen Apfel, zwei Bananen, drei Herzen in der richtigen Reihenfolge berühren, wobei Form, Farbe und Größe der Symbole stark variierte, sodass nur die Beachtung der Menge zur richtigen Lösung führte. Auch Tauben, Ratten und Dohlen verfügen über eine Gehirnregion, die „Akkumulator“ genannt wird und für das Erkennen von Mengen zuständig ist. Vielleicht, so mutmaßen die Forscher, hat der Urmensch bereits über diesen „Zahlensinn“ verfügt, lange bevor er sprechen konnte.

In einfachen, wenig arbeitsteiligen und gegliederten Kulturen kann es vorkommen, dass diese Grundausstattung ausreicht. Everett (2005) studierte die Pirahã, ein Jägerund Sammlervolk an einem Nebenfluss des Amazonas. Dort wird nur zwischen „eins“, „zwei“ und „vielen“ unterschieden. Die Sprache der Pirahã kennt nur diese drei Mengenbezeichnungen. Everett hat sich übrigens lange bemüht, den Pirahã das Zählen bis zehn beizubringen. Vergeblich. Trotzdem war er von dieser Kultur so begeistert, dass er, der ursprüngliche Missionar, seinen Glauben aufgab.

Andere schriftlose Kulturen benutzen die Finger beider Hände zur Mengenangabe, sodass das Zehnersystem einen Vorrang erhält. Der evolutionäre Zufall, dass wir zehn Finger und zehn Zehen haben, trifft sich mit dem Zehnersystem der Zahlen, das wir heute benutzen. Die Mayas rechneten mit einem Zwanziger-System, vermutlich, weil sie Finger und Zehen zum Zählen benutzten. Bis in unsere abendländische Kultur hinein reicht das Denken in Zwanziger-Einheiten. So hat das Pfund zwanzig Schilling und 80 wird im Französischen als vier-mal-zwanzig (quatre-vingt) ausgedrückt. Auf Papua-Neuguinea und den Strait-Inseln finden wir ein Zählsystem, das über die Finger und Zehen hinaus eine Reihe von Stellen am Körper zum Zählen benutzt und dadurch immerhin auf die Menge 41 kommt. Tab. 13.1 zeigt das Zählsystem im Überblick (Ifrah 1986).

Nicht selten haben sich Zählsysteme wie das obige von einer Kultur zur anderen ausgebreitet. Gleichwohl ist es von hier noch ein weiter Weg zur sprachlichen oder zeichenhaften Fixierung großer Zahlen. Wir finden sie, wie gesagt, nur in Hochkulturen. Dort wurde Verwaltungsarbeit bezüglich der Steuern, der Landaufteilung und des Warenumsatzes nötig. Dabei kam man ohne schriftliche Fixierung größerer Mengen nicht mehr aus. Abbildung 13.1 zeigt Darstellungen von Zahlen im alten Ägypten. Die Ägypter verwendeten bereits das Zehnersystem, sodass die Zahlen 10, 100, 1000 usw. eigene Zeichen bekamen. Im Unterschied zu schriftlosen Kulturen kam man in diesem Zählsystem bis über eine Million. Welch ein Unterschied! In Abb. 13.1 sind die Zeichen für Zehnerpotenzen bis 1 Million und für einige Stammbrüche dargestellt.

Die Babylonier verwendeten die Zahl sechzig als Basis. Damit schlugen sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen hatten sie eine Zeiteinteilung von 6 mal 60 = 360 Tagen für das Jahr, 60 min für eine Stunde und 60 s für eine Minute, eine Einteilung, die wir bis heute beibehalten haben. Zum andern eignete sich die Zahl 60, wie bereits erwähnt, optimal für die Aufteilung von Mengen, was bei Landverteilung und Abgabenaufteilung vorteilhaft war (s. Ifrah 1986).

rechte Hand, kleiner Finger

1.

rechte Hand, Ringfinger



2.

3.

rechte Hand, Mittelfinger



4.

rechte Hand, Zeigefinger

5.

rechte Hand, Daumen



6.

rechtes Handgelenk

7.

rechter Ellbogen



8.

rechte Schulter

9.

rechtes Ohr



10.

rechtes Auge

11.

Nase


12.

Mund


linkes Auge

13.


linkes Ohr

14.


linke Schulter

15.


16.

linker Ellbogen

17.

linkes Handgelenk



18.

linker Daumen

19.

linke Hand, Zeigefinger



20.

linke Hand, Mittelfinger

21.

Linke Hand, Ringfinger



linke Hand, kleiner Finger

22.


23.

rechte Brust

24.

linke Brust



25.

rechte Hüfte

26.

linke Hüfte



27.

Genitalien

28.

rechtes Knie



29.

linkes Knie

30.

rechter Fußknöchel



31.

linker Fußknöchel

32.

rechter Fuß, kleine Zehe



33.

rechter Fuß, nächste Zehe

34.

rechter Fuß, nächste Zehe



35.

rechter Fuß, nächste Zehe

36.

rechter Fuß, große Zehe



37.

linker Fuß, große Zehe

38.

linker Fuß, nächste Zehe



39.

linker Fuß, nächste Zehe

40.

linker Fuß, nächste Zehe



41.

linker Fuß, kleine Zehe



Tab. 13.1 Körper-Zählsystem auf Papua-Neuguinea (Ifrah

1986)




Abb. 13.1 Darstellung von Zahlen im alten Ägypten. (Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/%C3% 84gyptische_Zahlschrift, Version 21. Juni 2013)

Irrationale Zahlen

Die alten Kulturvölker besaßen erstaunliche mathematische Kenntnisse, aber sie nutzten sie nicht zum Aufbau einer Wissenschaft und waren, soweit wir wissen, nicht an Beweisen interessiert. Die Entwicklung der Mathematik als axiomatische Wissenschaft blieb den Griechen vorbehalten. Dort entwickelte sich die Mathematik um 600 vor unserer Zeitrechnung und ist mit den Namen Thales und Pythagoras verbunden. Pythagoras gründete eine Schule, die die Zahlen als Grundlage für den Aufbau der Welt ansah. Alles war durch Zahlen beschreibbar und erfassbar. Zunächst arbeiteten die Pythagoreer wie die Ägypter und Babylonier nur mit rationalen Zahlen, also ganzen Zahlen und Brüchen, die aus ganzen Zahlen gebildet werden (Ratio = Bruch). Bis eines Tages Hippasos von Metapont die Behauptung aufstellte, dass die Diagonale eines Quadrats mit der Seitenlänge 1 nicht messbar sei. Er soll als erster die Inkommensurabilität erfasst und veröffentlicht haben, was ihn in Konflikt mit den Pythagoreern brachte, die ihn aus ihrer Gemeinschaft ausschlossen. Schließlich erlitt er Schiffbruch und ertrank, eine göttliche Strafe für seinen Geheimnisverrat und dafür, dass er das einfache und klare Gebäude der rationalen Zahlen zum Einsturz gebracht hatte. Irrationale Zahlen sind solche, die nicht als Bruch von ganzen Zahlen darstellbar sind (daher die Bezeichnung irrational



Abb. 13.2 Zwei von vielen Möglichkeiten, wie die Zahl π in unendlichen Reihen dargestellt und in Annäherung berechnet werden kann. (Guedj, 2001, S. 571, 572)

= ohne Bruch). Die historische Wahrheit hat mit dieser Geschichte allerdings wenig zu tun. Der Konflikt, den Hippasos heraufbeschwor, scheint eher ein politischer gewesen zu sein. Immerhin ist es eine schöne Geschichte, die zeigt, dass die Entdeckung irrationaler Zahlen einen gewaltigen Fortschritt in der Mathematik brachte. Da geht es zunächst darum zu beweisen, dass eine bestimmte Zahl, z.B. √2 irrational ist. Schon der Pythagoreer Archytas bewies die Irrationalität von√ √(m + 1)/m. Euklid weitete den Beweis für beliebige Wurzeln n aus. Auch der Goldene Schnitt ist eine irrationale Zahl:



(13.1)

Transzendente Zahlen

Eine Untergruppe der irrationalen Zahlen bilden transzendente Zahlen. Sie lassen sich nicht in Form einer algebraischen Gleichung ausdrücken. Die Besonderheit dieser Zahlen wurde erst im 19. Jahrhundert herausgearbeitet. Aber zwei bekannte Zahlen, nämlich π und e (die Eulersche Zahl) machten lange zuvor auf sich aufmerksam. Besonders die Zahl π beschäftigte die Mathematiker seit der Antike. So versuchten die Griechen, einen Kreis in ein flächengleiches Quadrat umzuwandeln, was ihnen nicht gelang. Erst in der Neuzeit konnte bewiesen werden, dass die berühmte Quadratur des Kreises nicht lösbar ist. Das hängt mit der Transzendenz der Zahl π zusammen; π lässt sich nur als unendliche Reihe, nicht als algebraische Gleichung darstellen. Zwei Möglichkeiten zeigt die Abb. 13.2. Die erste Reihe verwendet nur die Zahl 2. Ist es nicht verblüffend und wunderbar, dass daraus die Zahl π entsteht? Genauso merkwürdig mutet die zweite Reihe an. Im Zähler werden gerade, im Nenner ungerade Zahlenpaare multipliziert.

Im Palais de la Découverte in Paris ist die Zahl π in einem Kuppelbau mit 707 Dezimalstellen aufgelistet, die William Shanks errechnet und dazu 20 Jahre seines Lebens gebraucht hatte. 1947 rechnete Ferguson nochmals nach und entdeckte, dass die 528. Stelle falsch war und damit alle restlichen Ziffern. Zwei Jahre später hatte man den Fehler ausgemerzt. Man hat im Laufe der Jahrhunderte also immer mehr Stellen nach dem Komma errechnet. Anfangs war dies sehr mühsam. Heute helfen uns die Computer. 1958 erreichte man 10.000 Stellen, 1987eineMillionund1989einerMilliarde! WersolchefaszinierendenGeschichten der Mathematik in amüsanter Weise lesen will, dem sei das Buch „Das Theorem des Papagei“ von Denis Guedj (2001) empfohlen. Der Autor erzählt die Geschichte der Mathematik eingekleidet in einen Kriminalroman. Die obigen Beispiele sind seinem Buch entnommen.

Die Konstruktion einer fiktiven Realität

Die Griechen waren die ersten, die mathematische Sätze bewiesen haben. Sie waren auch die ersten, die mathematische Aussagen losgelöst von einem praktischen Bezug formulierten. Der Satz von Thales, der bekanntlich besagt, dass alle Winkel am Halbkreisbogen rechte Winkel sind, bezieht sich nicht auf einen konkreten Halbkreis oder Winkel, sondern auf alle Halbkreise und Winkel. Alle mathematischen Aussagen gelten fortan losgelöst vom konkreten praktischen Fall. Damit eröffnet sich eine neue Welt, die Popper als Welt III bezeichnet hat. Es ist dies eine rein kulturelle Welt, die nichts mehr mit der Evolution zu tun hat. Ob wir diese Welt nur entdecken bzw. nachkonstruieren oder ob Mathematik nur in den Köpfen und Büchern der Menschen existiert, darüber sind die Meinungen immer noch geteilt. Insofern ist die Mathematik eine fiktive Welt. Sie ähnlich der, die das Kind im Spiel konstruiert. Nur zeigen sich in der Mathematik permanent Anwendungsmöglichkeiten in der Realität, sodass Naturwissenschaftler und viele erkenntnistheoretische Philosophendavonüberzeugtsind, dassdieMathematikdieSprachederNaturist(Näheres zum ontologischen Status von Mathematik siehe Kap. 15).



Die Null

Zurück zu den Zahlen. Es dauerte merkwürdigerweise ziemlich lange, bis die Null in das Zahlensystem eingeführt wurde. Sie kam von den Arabern aus Indien zu uns ins Abendland (Gericke 1970). Seit dem 7. Jahrhundert wird die Null in Indien als Punkt oder Kreis dargestellt. Der Mathematiker Brahmagupta gab in seinem Lehrbuch von 628 n. Chr. Rechenregeln für die Null an. Die früheste nachweisbare Verwendung der Null findet sich in Kambodscha und Sumatra Anfang des 7. Jahrhunderts.

Die Zahl Null brauchte viele Jahrhunderte, um ins Abendland zu gelangen. Sie erreichte wohl um das Jahr 1.000 Europa. Allerdings war die Null damit noch lange nicht „etabliert“. Auch wenn man die arabischen Zahlen angenommen hatte, wurde die Null als arabische Magie von der Kirche abgetan. Dem italienischen Mathematiker Fibonacci haben die Europäer die Einführung der Null als mathematisches Konzept im 13. Jahrhundert zu verdanken. Der Siegeszug der Null begann, als die Kaufleute deren praktischen Nutzen erkannt hatten.

Negative Zahlen

Es erscheint uns heute verwunderlich, dass die negativen Zahlen erst relativ spät eingeführt wurden und dass es große Schwierigkeiten mit ihrem Verständnis gab. Zunächst war die Einführung der Null für die Einführung der negativen Zahlen notwendig. Aber das reichte nicht aus. Man musste Abschied von der aristotelischen Vorstellung nehmen, wonach der Zahlenbegriff dem Mengenbegriff untergeordnet ist. Zwar vergegenwärtigen wir uns auch heute noch im Alltag negative Zahlen als konkrete Mengen, wie Schulden, Verluste, Gewichtsabnahme, Bevölkerungsrückgang, doch werden solche Vorstellungen der heutigen Konzeption der negativen Zahl nicht gerecht. Der Konflikt mit den elementaren Größenvorstellungen hat die Geschichte der negativen Zahlen über die Jahrhunderte begleitet. Das Verhältnis zwischen Zahlbegriff und Größenbegriff hat sich nun gegenüber früheren Auffassungen umgekehrt: der Zahlbegriff wird dem Größenbegriff übergeordnet und nicht mehr untergeordnet. Zahlbereichserweiterungen werden nicht mit Hilfe der materiellen physikalischen und biologischen Realität begründet, sondern umgekehrt werden reale Situationen unter Verwendung von Zahlen gedeutet und beschrieben. Zahlen sind losgelöst von der materiellen Realität „fiktive“ Größen, ihre Existenz und Gesetzmäßigkeit wird rein logisch durch Beweise und Widerspruchsfreiheit begründet. Die negativen Zahlen sind also ein Beispiel für die oben allgemein getroffen Kennzeichnung der Mathematik als fiktives Reich von Aussagen.



Komplexe Zahlen

Noch dramatischer verhält es sich mit den komplexen Zahlen. Sie sind aus reellen Zahlen und den imaginären Zahlen, die alle Quadratwurzeln von negativen Zahlen umfassen, zusammengesetzt. Der erste, der sich mit imaginären Zahlen beschäftigte, war wohl Cardano (1501–1576), ein Mathematiker, der zugleich der wohl berühmteste Arzt seiner Zeit war. Als Erfinder verdanken wir ihm die Kardanwelle. Als Astrologe erstellte er sogar ein Horoskop für Jesus, was ihm eine Verhaftung durch die Inquisition einbrachte, aus der er durch Zahlung einer Kaution wieder freikam. Dieser geniale Mann stellt in dem letzten Band seiner „Ars Magna“ Gleichungen vor, in denen negative Zahlen unter der Wurzel auftreten. Er betrachtete diese Zahlen als quantitas sophistica (spitzfindige Größen) und hielt sie für eine Spielerei. Dieses Spielen mit scheinbar absurden Zahlen kann man sich eben in der Mathematik leisten, vorausgesetzt man hält die Spielregeln der Logik und Widerspruchsfreiheit ein. Cardanos Schüler Rafael Bombelli, der als Ingenieur Sümpfe trocken legte und als Mathematiker ein Lehrbuch schrieb, operierte bereits mit Wurzeln aus negativen Zahlen und wandte die geläufigen Rechenregeln auf sie an. Er nannte sie meno, Minus, und wandte die üblichen Gesetze der Multiplikation von negativen und positiven Zahlen auch auf sie an. Wenn wir die imaginären Zahl mit i bezeichnen so gilt (,minus‘ = i):

„plus“ mal „plus von minus“ ist „plus von minus“ (+1 mal + i =+i) „minus“ mal „plus von minus“ ist „minus von minus“ (−1 mal + i = − i) „plus“ mal „minus von minus“ ist „minus von minus“ (+1 mal − i =−i) usw.

Die Gleichbehandlung imaginärer Zahlen mit reellen Zahlen entspricht wieder einmal der typischen Spielhaltung: Ich tue so als ob. In diesem Falle: Ich tue so, als wären diese unmöglichen imaginären Zahlen ganz normale Zahlen.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) entdeckte die Beziehung

(13.2)

und war von dieser Gleichung sehr beeindruckt. Schließlich stellte Euler die Gleichung auf



eiπ = −1 (13.3)

Sie gilt laut Umfrage unter den Mathematikern als die schönste Gleichung. Sie vereint elegant transzendente, imaginäre und negative Zahlen. Schließlich stellte Gauß die nach ihm benannte Zahlenebene vor, bei der auf der Abszisse die reellen Zahlen und auf der Ordinate die imaginären Zahlen angeordneten sind. Die komplexen Zahlen füllen die vier Felder des Koordinatensystems. Damit wies man den imaginären Zahlen die gleiche Geltungsberechtigung wie den reellen Zahlen zu. Und siehe da, sie eignen sich hervorragend für die Beschreibung von Sachverhalten in der physikalischen Realität. In der Elektrotechnik benutzt man komplexe Zahlen zur Berechnung der Phasenverschiebung von Stromstärke, Spannung und Widerstand. Phasenverschiebung bedeutet, dass Stromstärke und Spannung nicht gleichzeitig einsetzen. In diesen Fällen eignen sich komplexe Zahlen besser als reelle Zahlen zur Berechnung.

Zum Schluss noch eine nette Geschichte und zugleich ein wundersames Beispiel dafür, wie sich Gesetzmäßigkeiten von Zahlen in der Natur wiederfinden. Kaiser Friedrich II. plante eine Kaninchenzucht und wollte wissen, wie sich Kaninchen vermehren. Er veranstaltete ein Preisausschreiben, an dem auch der italienische Gelehrte Leonardo da Pisa mit dem Spitznamen Fibonacci teilnahm und sein Ergebnis 1202 vorlegte. Er errechnete die Kaninchenzahl folgendermaßen. Ein Paar wirft nach einem Monat wieder ein Paar Jungen (was zusammen zwei Paare macht), das junge Paar benötigt bis zur Geschlechtsreife 1 Monat. In diesem Monat wirft das Mutterpaar wieder ein Paar (was zusammen drei Paare macht). Das inzwischen geschlechtsreife junge Paar wirft ein Paar und das Mutterpaar ebenfalls eines (was zusammen fünf Paare macht). Auf diese Weise ergibt sich eine Reihe, die als Fibonacci-Folge bezeichnet wird, aber bereits im Altertum bekannt war. Sie hat eine Reihe von interessanten Eigenschaften und wird gebildet, indem man die zwei vorausgehendenZahlmiteinanderaddiert: 0-1-1-2-3-5-8-13-21-34usw. DasMerkwürdigeandieser Folge ist, dass sie sich auch in der Natur findet (Hegi 1987). Beispielsweise trägt die Silberdistel Hunderte von Blüten, die in kleineren Köpfen in einer 21 zu 55 Stellung, in größeren Köpfen in 34 zu 89 und 55 zu 144-Stellung in den Fruchtboden eingefügt sind. Das sind alles Fibonacci-Zahlen. Auch die Schuppen von Fichtenzapfen und von Ananasfrüchten bilden Spiralen mit zwei aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen. Dadurch wird vermieden, dass ein Blatt oder eine Schuppe genau senkrecht über dem/der anderen steht und sich so die jeweils übereinanderstehenden Blätter bzw. Schuppen Schatten machen. Auch die Kerne der Sonnenblume gehorchen der Fibonacci-Reihe, und die Gänseblümchen haben entweder 34, 55 oder bisweilen sogar 89 Blütenblätter. Die Fibonacci-Folge beschreibt sogar die Ahnenmenge einer männlichen Honigbiene. Die Bienendrohne (n = 1) entwickelt sich aus unbefruchteten Eiern, die in ihrem Genom dem Erbgut der Mutter (zusammen
n = 2) entsprechen. Die Mutter hat wieder Eltern (also zusammen bereits n = 3) usw. Das entspricht der Kaninchenrechnung.

Resümee

Ich habe am Beispiel der Zahlen zu zeigen versucht, wie kulturelle Vielfalt und Erfindungsgabe unsere mickerige evolutionäre Ausstattung für Zahlen zu einem gewaltigen System aufgestockt hat. Diese mathematische Welt liegt jenseits unseres evolutionär vorgegebenen Weltverständnisses. Sie bildet ein neues und faszinierendes Reich.



Yüklə 2,08 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   29   30   31   32   33   34   35   36   ...   45




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin