Prof. Dr. med. em. Hartmut Radebold
Prof. Dr. phil. Jürgen Reulecke
10.März 2011
Zeitzeugenarchiv weltkrieg2kindheiten (ZZAw2k)
Viele der in den Jahren in den 1930er und frühen 1940er Jahren geborenen Kinder erlebten in ihrer Kindheit und Jugendzeit die krassen Existenzbedingungen im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Als „Kriegskinder“ umfassten ihre Erfahrungen – häufig langfristig und mehrfach – Bombenangriffe und Ausbombungen, Evakuierung und Kinderlandverschickung, Flucht und Vertreibung sowie den Verlust zentraler Bezugspersonen (insbesondere der Väter, aber auch von Geschwistern, Müttern, Großeltern). Geschätzt wird, dass aus heutiger Perspektive ca. 30 % als ausgeprägt traumatisiert, weitere 30 % von ihnen als zumindest zeitweise beeinträchtigt/ oder beschädigt und nur 40 % als weitgehend dadurch unbetroffen aufgewachsen sind. Nach Abklingen ihrer schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit auffallenden und beeinträchtigenden akuten psychischen und sozialen Störungen boten sie – unterstützt durch ihre in der Folgezeit ablaufende Entwicklung in Kindheit und Pubertät - bald durchaus „gut funktionierend“ ein Bild von in Wirklichkeit anormaler Normalität. Da damals keine anhaltenden Folgen einer derartigen Kriegskindheit vermutet wurden, interessierte deshalb bis zum mittleren Erwachsenenalter ihre diesbezügliche weitere Entwicklung weder die Öffentlichkeit noch die Wissenschaft.
Ab 2000 und insbesondere ab 2003 aufgrund von Untersuchungen der Interdisziplinären Forschungsgruppe w2k (weltkrieg2kindheiten) wurde allmählich der allgemeinen wie auch der fachlichen Öffentlichkeit in Deutschland zunehmend bewusst, dass jenen beeinträchtigenden bzw. beschädigenden, insbesondere den traumatisierenden Erfahrungen aus der Kindheit doch eine lebenslang nachwirkende Bedeutung für die eigene Entwicklung zukam, die sich sich oft infolge des jetzt erfolgenden Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß (re-)aktivierten.
Die Forschungsgruppe w2k hat bis zum Herbst 2010 die Ziele, die sie sich zunächst gesetzt hatte, erreicht (s. www.weltkrieg2kindheiten.de) und ihre Tätigkeit beendet. Ihre interdisziplinäre Zusammensetzung (Zeitgeschichte, Entwicklungspsychologie, Psychoanalyse/Psychosomatik/Psychiatrie, Soziologie/Sozialwissenschaften, Literaturwissenschaft und Jura) ermöglichte es, zahlreiche Forschungsideen zu diskutieren, diese unter Nutzung quantitativer und qualitativer Zugänge in konkrete Projekte einzubringen und deren Ergebnisse gemeinsam auszuwerten. Für die notwendige Perspektive psychohistorischer Forschung steht also jetzt ein erprobtes interdisziplinäres Forschungsdesign und –instrumentarium zur Verfügung. (der Abschlußbericht ist ab 15.11.2010 unter www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de abrufbar!)
Um zukünftig weitere (interdisziplinäre wie auch monodisziplinäre) Forschungen zu ermöglichen, bedarf es eines nächsten Schrittes, nämlich des Aufbaus eines repräsentativen Zeitzeugen-Archivs „Kinder des Weltkriegs“. Notwendig sind Sammlung und anschließende Archivierung von Zeitzeugen-Berichten (einschließlich entsprechender biographischer Unterlagen), die systematisch und repräsentativ die Kindheitserfahrungen von etwa zwanzig Alterskohorten (1930 -1949) widerspiegeln. Aus Vergleichsgründen sollten zusätzlich noch die Jahrgänge 1927-1929 (die den Krieg in der Adoleszenz und teilweise mit eigenen aktiven Kriegserfahrungen erlebt haben) sowie die Jahrgänge 1949-1952 (um die Veränderungen in der Nachkriegszeit zu erfassen) einbezogen werden.
Geht man von einer Stichprobengröße von jeweils dreißig Interviews (50 % Frauen, 50 % Männer) aus den insgesamt 26 Jahrgängen aus, so liegt ihre Gesamtzahl bei etwa 780 Interviews. Möglicherweise müssen aber zusätzlich noch besondere zeitgeschichtliche Erfahrungen jener Zeit (z.B. bezüglich des Umgehens mit der Kriegskinderfrage in der ehemaligen DDR) einbezogen werden.
Berücksichtigt man die durchschnittliche (Rest-)Lebenserwartung der betroffenen Jahrgänge, so ist ein bald anzugehender Aufbau dieses Archivs dringend erforderlich. Wenn eine Durchführung der Interviews nicht in absehbarer Zeit erfolgt, besteht die Gefahr, dass gerade die Risiko-Betroffenen der älteren Jahrgänge bereits verstorben sind.
Aus psychohistorischer Perspektive bedarf es der Sammlung/Archivierung folgender Unterlagen:
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Video-Interviews
Zwei Video-Interviews einerseits durch einen Historiker/eine Historikerin (Schwerpunkt Zeitgeschichte mit umfassenden Erfahrungen in der oral history) und andererseits durch einen psychosomatisch/psychoanalytisch weitergebildeten Interviewer/ eine Interviewerin (Arzt/Psychologe) mit OPD-Training – dies mit jeweiligen Zusammenfassungen.
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Fragebögen-Instrumentarium
Mit Hilfe eines umfassend erprobten Fragebogen – Instrumentariums werden
schwere Belastungen und Kriegserfahrungen, körperliche und psychische Beschwerden einschließlich Angst und Depression, Lebenszufriedenheit u.a.m. erfaßt. Ergänzt werden diese Informationen durch die Sammlung von Daten über die Einbindung der Betroffenen in soziale Beziehungs- und Netzwerkstrukturen. Diese Daten sollen es ermöglichen, berufliche, familiäre und kulturelle Orientierungsmuster zu analysieren, die zur Bewältigung belastender Kindheitserlebnisse beigetragen bzw. diese u.U. auch verstärkt haben. Zusätzlich wird die soziale Entwicklung dokumentiert. Bei speziell interessierenden Fragestellungen bedarf es der direkten Nachfrage in den beiden Videointerviews.
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Zusätzliche Sammlung persönlicher Unterlagen und Dokumente der Interviewten (Tagebücher, Schulhefte, Briefe, Fotoalben etc.)
Die Archivierung dieser Unterlagen erfolgt an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Diese Unterlagen werden dann dort für entsprechende nationale wie auch internationale (interdisziplinäre und monodisziplinäre) Forschungen zur Verfügung stehen. Der in Hamburg einzurichtende Sammelschwerpunkt soll sowohl die schon vorliegende, und dabei insbesondere die aktuelle einschlägige Literatur archivieren als auch die Unterlagen aus den bisher schon durchgeführten Forschungsprojekten.
Bisherige Realisierungsschritte
Unterstützt durch den Förderverein Kriegskinder für den Frieden e.V. (www.kriegskinder-fuer-den-frieden.de) ist von dem Projekt schon Folgendes realisiert worden:
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Einleitung erforderlicher Werbemaßnahmen zur Startfinanzierung
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Entwurf und interdisziplinäre Diskussion des Forschungsdesigns
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Durchführung und interdisziplinäre Diskussion probatorischer Video-Interviews von Zeitzeugen (1.4.2009 in Frankfurt/Main)
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Konferenz in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zur Klärung der notwendigen formalen und inhaltlichen Aspekte (18.12.2009)
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Vorläufige Festlegung des benötigten Forschungsdesigns (siehe oben)
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Durchführung von 10 – 12 Interviews (Zeitgeschichte jeweils zu Hause, Psychosomatik OPD in der Klinik in Münster) im Frühjahr 2011
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Auswertungskonferenz dieser Interviews mit Festlegung des endgültigen Interviewverfahrens und des Forschungsdesigns
(Frühsommer 2011)
Projektkoordinatoren
Prof. Dr. med em. Hartmut Radebold, Arzt für Psychiatrie/Neurologie, Psychoanalyse, Psychotherap. Medizin, Lehrstuhl Klinische Psychologie, Universität Kassel 1976 – 1997.
Prof. Dr. phil.em. Jürgen Reulecke, Zeithistoriker, bis Ende 2008 Sprecher des DFG-Sonderforschungsbereichs 434 („Erinnerungskulturen“) an der Universität Gießen.
Projektberater
Werner Bohleber, Dr.phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis in Frankfurt.
Prof. Dr. hum. biol. E. Brähler, Abteilung Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie, Universität Leipzig
Prof. Dr. phil. em. R. Eckert (Trier), Allgemeine Soziologie, Bildungs- und Jugendsoziologie, Universität Trier
Prof. Dr. Insa Fooken, Universität Siegen, Fachbereich 2, Psychologie, Adolf-Reichwein-Str., 2, 57068 Siegen
Prof. Dr. med. Gereon Heuft, Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Münster, Domagkstr. 22, 48149 Münster
Prof. Dr. phil. C. D. Krohn (Hamburg)
Prof. Dr. phil. M. Leuzinger-Bohleber, Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt/Main
PD Dr. A. von Plato, 21640 Neuenkirchen
Prof. Dr. rer. nat. Dr. rer. pol. B. Rüger (München)
Prof. Dr. phil. Barbara Stambolis, apl.-Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, Fakultät für Kulturwissenschaften, Historisches Institut, Universität Paderborn, Pohlweg, 33095 Paderborn (www.barbara-stambolis.de)............
Prof. Dr. em. phil. H. U. Thamer (Münster)
Prof. Dr. D. Wierling, Stellvertretende Direktorin, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), Beim Schlump 83, 20144 Hamburg
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