Masse und Proportion
Einer der wenigen offenen Fragen ist die nach dem Format des Bildes. Auch Krischel hat bereits die vier eingebogenen Eckzwickel als original erkannt, sind sie doch auch von der Komposition her als 'leer' konzipiert: weder beginnen oder enden dort bauliche noch malerisch relevante Elemente, ja die Aststruktur des 'pergolato' biegt rechts in Begleitung zum Viertelskreis ein und der kniende Krieger rechts unten lässt sich nur mit Mühe "richtig" vervollständigen, was vielen Kopisten beim Ausfüllen ihrer orthogonalen Wiedergaben dementsprechend misslang.
Die fehlenden Leinwandbeträge95 lassen sich mühelos auf ein hypothetisches Ausgangsformat vervollständigen; schon dem blossen Auge stellen sich naheliegende Forderungen:
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Die wunderwirkende Hand des Evangelisten verlangt, zentralsymmetrischer "Auslöser" sowohl von 'disegno' als auch 'istoria'96 zu sein. Eine absolut zentrale Anlage drängt sich auf.
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Die Pergola ruft nach Vertiefung; Astwerk und Querstreben benötigen Volumen und Bedeutung, der Mantelzipfel des fliegenden Markus ebenso seine Ergänzung wie der heute abgetrennte Fuss.
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Die Architektur des linken Portikus entbehrt eines plausiblen, bzw. vollständigeren Architravansatzes.
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Rechts erwartet man die Handgeste des Padrone und jenen bildeinwärtsblickenden Porträtkopf als weniger abrupt angeschnitten.
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Links verlangt die im Vordergrund abschliessende Säule mehr Volumen und das Guckkasten-Bildnis des 'Zeugen' im Vordergrund mehr Abstand vom Rande.
Die These einer, wenn auch geringfügigen Formatänderung wird nicht nur durch J.B.Jacksons Clairobscur-Holzschnitt von ca 1740,97 J.Mathams Kupfer, sondern auch durch eine ausführliche Kopie in Böhmen98 untermauert (Abb.0), wo just jene geforderten Ergänzungen zu sehen sind: Das Pergolagestänge zählt dort vier Querstreben, Fuss und Mantel Marci sind zur Gänze erhalten und auch das Gesims links reicht höher hinauf. Lediglich der linke 'Zeuge' ist unterschlagen, eine Eigenschaft vieler Kopien, die den kompositorischen 'Mangel' dieses mittlerweile nicht mehr identifizierbaren Zaungastes zu korrigieren suchten.
Da fast alle Stimmen zum Sklavenwunder die viertelkreisförmige Stutzung der Ecken überliefern, fragte sich auch J.Wilde, ob diese im 16.Jh. nur an Deckengemälden99 übliche Achteckform echt sei (Abb.0).
Ein Ausmessen der vier Eckzonen ergab, dass sie nicht nur unregelmässig sind, sondern verschiedene Randabstände aufweisen. Da eine aufwendige Originalrahmung sicherlich spiegelgleich gearbeitet war und keine Proportionsfehler erlaubte, rekonstruieren sich (mit dem unteren rechten Winkel als Modell) die Kreiswinkel auf einem durchschnittlichen Normalschnitt mit gleichen Schenkellinien.
Die Ergebnisse überraschen: Der linke Bildrand muss um 10-11 cm, der obere um etwa maximal 19,5 cm, gekürzt sein, rechts fehlt ein Minimum von nur ca 2 cm, unten noch weniger. Die rekonstruierte Bildfläche mass 434,5x556 cm, was den einfachen venezianischen Massen von 12½ zu genau 16 piedi entsprach (Abb.0,0).
Der Fluchtpunkt der Architektur, der sich in der Malschicht sichtbar markiert hat, liegt zwischen Daumen und Zeigefinger der segnenden Hand Marci, der, sportlich ausgedrückt, einen akrobatischen Handstand im Angelpunkt der Perspektive vollführt.100 Dieser Punkt liegt heute nicht mehr in der Bildmitte, sondern um just 10 cm dem linken Rande näher als dem rechten und entspricht somit dem Fehlbetrag der Distanz der Kreisausschnitte. In Analogie zur Adultera Chigi lag er auch auf der Vertikalteilung.
Wenn Ridolfi die Masse des Bildes mit "piedi venti in circa per ciascun lato" bezeichnete, übertrieb er dank einer in Anbetracht der Monumentalität verzeihlichen Augen-täuschung. Sein 'Irrtum' lag wohl darin, dass er die reichdekorierten skulpturalen Rahmungsprofile der umgebenden Täferung mitmass, betrug doch die freie Wandfläche zwischen den beiden Fenstern wenig mehr denn 21 Fuss. Zudem öffnete sich das Bildfenster erst auf einer Höhe von zweieinhalb Metern über den Rücklehnen der Kapitelbänke ("spalliere"), um wenig unter der Friesleiste der Deckenkassettierung101 zu enden. Der stark ansteigende Blickwinkel hat die späteren Kopisten102 mehrheitlich in Massen und Proportionen irregehen lassen. Selbst die Werkstattkopie in Lucca (Abb.0)103 ist vor gravierenden Proportionsfehlern nicht gefeit. Eine kleine, wenn auch ungelenke Skizze der Uffizien104 veranschaulicht (Abb.0), welche Verzeichnungen üblicherweise entstehen mussten: die dem Betrachter nahen Figuren gerieten übergross, der Himmelsraum, die oberen Architekturen und der fliegende Evangelist wurden weit unterschätzt. Selbst heutige photographische Aufnahmen sind ausnahmslos verzerrt. Erst seit Anfang des 19.Jhs, als die galeriemässige Ausstellung das Bild in die Nähe des Besuchers rückte, entstanden massgetreuere Kopien oder Reproduktionen,105 obwohl auch dann fast keinem Kopisten die streng zentralperspektivische Anlage auffiel. Es gibt unter ihnen kein Exemplar, das die Qualifizierung eines Bozzetto verdiente, wie dies für manche von ihnen erwogen worden ist (Kopien Brüssel, Florenz, Lucca, Pavia, Venedig u.a.), besonders, sobald das Porträt des bärtigen 'Zeugen' am linken Bildrande fehlte.
Da der junge Meister mit dem höchsten Einsatz seiner künstlerischen Reputation zu spielen beabsichtigte, musste das Sklavenwunder, was Bildgeometrien und proportionale Bezüge zu Raum, Wand und Fenstern106 angeht, akribisch durchgeplant sein. Diese Vorgaben sind noch weitgehend unerforscht und benötigen zulängliche photogrammetrische Aufnahmen und Radiographien. Hier kann nur auf die mit Gewissheit genutzte Anwendung von Zirkel und Messband, Perspektive- und Proportionentheorie verwiesen werden,107 die dem Gemälde seine so überwältigende kompositäre Einheitlichkeit, Sicherheit und Ausgewogenheit verleihen (Abb.28).
Zwei Aspekten, denen die meisten Autoren bisher geflissentlich aus dem Wege gingen, möchte ich die folgenden Seiten widmen: Einer ist die Klärung der oft denunzierten ikonographischen Verwandtschaft des Sklavenwunders zu seinem Vorbilde, einem der sechs Sängerkanzelreliefs Jacopo Sansovinos im Chor der Markusbasilika, was eine neue Lesung des nordseitigen Bronzetriptychons von 1542 erfordert. Der andere, notwendig an die Figur Sansovinos als "amicissimus" unseres Künstlers anknüpfend, ist der weit brisantere Versuch zur Identifikation einiger im Sklavenwunder auftretender Protagonisten.
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24 Grundriss von Sala Grande, Scuola Gr. di San Marco Cappella, Albergo Standort des Sklavenwunders
25 Anonymer Kopist Sklavenwunder Schloss Opoçno Böhmen
26 Cristoforo Sorte oktogonale Deckenrahmungen in der Sala del Maggior Consiglio des Dogenpalastes
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27 mit Hilfe der Kreissegmente rekonstruierte Bildfläche des Sklavenwunders (fehlende Bildteile:---)
28 Rekonstruktion der Wandtäferung an der Südwand der Sala Grande; das Sklavenwunder im Wandverband mit dem kompositorischen Geometriegerüst
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29 Anonyme Skizze nach dem Sklavenwunder in situ mit typischen Verzeichnungen Uffizien Florenz
30 Werkstattreplik Sklavenwunder Lucca, Pinakothek
Präliminarien zum Sklavenwunder : Sansovinos zweiter Markus-Pergolo und die Loggetta108
"[dei sudori mirabili del Sansovino]
questo serenissimo impero ha due tesori:
uno in San Marco e l'altro in Piazza."
Aretin an Diego Mendoza im Februar 1540
(lettere II,146)
Wer sich als Liebhaber des Cinquecento Veneziano in jüngerer Zeit Restaurierungen monumentalen Ausmasses und Prominenz, etwa der Sixtina oder des Palazzo del Té in Mantua vergegenwärtigt, ist unweigerlich genötigt, die Rezeption der Protagonistenhände, der florentinischen Quattro- und Cinquecentisten, Michelangelos oder Giulio Romanos (wie anderer raffael'scher Trabanten) durch die venezianische Künstlerschaft neu zu überdenken.
Eine der noch immer enigmatischen Figuren, der junge Jacopo Tintoretto, dem man ob seines markanten Michelangiolismus und ob seines als manieristisch angesehenen Formengutes nicht aufhört, eine Bildungsreise nach Rom in den mitt-40er Jahren nachzusagen, verdient unter dem Licht des restauratorisch zurückgewonnenen Kolorismus109 – nicht zuletzt in Hinsicht auf sein soeben vollendetes Zentenar – eine besondere Aufmerksamkeit. So stellt sich heute einerseits die spekulative Frage, was und wie hätte Jacopo formal, inhaltlich und farblich rezipiert, wäre er wirklich in Rom gewesen, anderseits gälte es im Falle negativen Bescheids, seine Palette, die ihrerseits dank der Restaurierungen der letzten Jahre eine ungeahnte Leuchtkraft zurückgewonnen hat und ihm buchstäblich das technische Prädikat eines genialen 'Freskanten in Öl' zuzumessen erlaubt, aus lokalen oder autodidaktischen Quellen herzuleiten, die jene 'vexata questio' der Romreise als überlebt erscheinen liesse.
Eine Konfrontation mit den malenden Wahlvenezianern der beiden Salviati, eine Kenntnis des üppigen toscorömischen Idioms Giulios und seiner manieristischen Dialektik in Mantua liegt auf der Hand, einer Rezeption Raffaels, namentlich seiner Sixtinagobelins, die als Kopien im Dominikanerkonvent zugänglich waren, gälte es eingehender nachzugehen; das graphische Erbe Parmigianinos und seiner Imitatoren ist ebenso unbestritten wie die frühe Kollaboration und Einflussnahme Schiavones, Bonifazios und Pordenones oder eines Lotto... Diesbezüglich sind die Verdienste Rodolfo Pallucchinis um den ersten Bildungshorizont Jacopos dank seiner Giovinezza del Tintoretto ungeschmälert.110 Trotzdem wäre es nicht müssig, die Aufnahme der Leitbilder im einzelnen genauer zu untersuchen und zu unterscheiden. Dessen eines ist die prädominante Gestalt Jacopo Sansovinos111 und zwar in bildhauerischer Hinsicht: er könnte als eigentlicher erster formaler Zuträger einer 'modernen' Formensprache Robustis gelten,112 sehen wir von der spontanen und autodidaktischen Reflexion über das antike Lehrmaterial ab, das die Skulpturensammlungen in Venedig, Padua und Mantua boten (und über das zu handeln eine weit reizvollere Aufgabe wäre, als Robustis Quellen im florentinischen Raum zu suchen!).113
Sansovinos zweiter Sänger-'Pergolo' von 1544
Wie John Shearman und Bruce Boucher richtig gesehen haben, ist die (m. M. so oft im Widerspruch zu einer trotz allem unvermeidlichen Architekturumgebung stehende) Glyptik Jacopo Tatti's, wie etwa die Madonnengruppen der Loggetta, des Arsenals und des Palazzo Ducale bezeugen,114 schon im frühesten Formengut der ersten noch etwas linkisch verräumlichten und ikonenhaften Madonnen Robustis zu spüren.115 Andere Vorbilder mögen die Cartapesta-Reliefs116 und Modelli des Typus der Madonna delle Muneghette117 gewesen sein, wenn nicht gar die nurmehr schriftlich dokumentierbaren Besitztümer Tommaso Rangone's, dem wohl frühesten Mäzen und Förderer Tintorettos, der mit dem Bildhauer befreundet und auftraggeberisch zeitlebens verbunden war.118
Hier sollen uns indessen die Spurenelemente Sansovinos im kurzen Debüt des Malers als 'madonnero' weniger kümmern, als das gereiftere 'Omaggio' an den eine Generation Älteren im Momente seines kometenhaften Auftretens als frecher Forderer der gesamten Malergilde Venedigs.
Dass dem Sklavenwunder von 1547 Sansovinos gleichthematisches Sängerkanzel-Relief im Presbyterium der Markuskirche starke mäeutische Hilfe leistete, ist so offensichtlich, wie mancherorts behandelt. Zum Verständnis des malerischen Geniestreiches benötigt das plastische Leitbild jedoch eine korrigierende ikonographische Analyse (Abb.0). 119
Sansovinos Sklavenwunder oder Markus hindert die Marterung des provençalischen Knechtes ist das linksäusserste Feld der drei nördlichen 'pergolo'-Reliefs aus der zwischen 1541 und 1544 geschaffenen zweiten Serie von "sei storie di bronzo di mezzo rilievo"120 "(istorie) figurate per i miracoli di San Marco",121 die mit der rechten Serie von 1537 mit Szenen aus dem Leben, Wirken und Sterben des Evangelisten anhoben.122 Laut der Mehrzahl aller kunsthistorischen Stimmen seit Laura Pittoni's J.Sansovino scultore von 1909 enthält die zweite Dreierserie die alleinige Legende vom Sklavenwunder in drei Sequenzen, nämlich Marter und Danksagung des Knechtes sowie die anschliessende Bekehrung des Gebieters. Schon der Canonicus Stringa glaubte 1604 in seinen Kommentaren zu Francesco Sansovinos Città Nobilissima zusätzlich eine durch ihn gedeutete Szene, die 'Heilung einer paralytischen Frau von Murano' zu erkennen. Somit wäre die Thematik des Triptychons mehr diversifiziert gewesen.123 Während Boucher 1976 eher geneigt war, Stringa zuzustimmen,124 kehrte Deborah Scott 1983 in ihrer sonst akribischen Untersuchung der Serie zum vermeintlichen "servant and the people praising S.Marc"125 im Mittelfelde zurück. Seither hat sich diese Sehweise zementiert. Einen Ausstattungskomplex an prominentester Stelle des Staatsheiligtums, dem Grabe des Evangelisten, unter erheblicher Vernachlässigung von Funktion, Programmatik und ikonologischer Aussage nach nurmehr artistischen Leistungsmasstäben zu beurteilen, erscheint mir doch etwas unzulässig. Dasselbe gilt nicht minder für Tintorettos Sklavenwunder, dessen zeichengebendes Ereignis sich nicht im künstlerisch-schöpferischen Produkt erschöpfte, sondern vor einem 'ikonostrategischen' Hintergrund auftrat und mit 'ikonologistischer' Raffinesse und Ellenbogigkeit focht! Doch davon später.
1) Vom planerischen Aspekt der beiden zeitlich wenig auseinanderliegenden Pergoli her ist die Verwendung zweier, aber unkongruenter Ausstattungsprojekte vom gleichen Meister innerhalb eines byzantinisch ausgeklügelten Organismus wie der Markuskirche für ein- und dieselbe liturgische und dekorative Aufgabe, wie sie die beiden 'Tribunetten'-Pendants erfüllten, ausgeschlossen: kamen rechts drei wesentliche parataktische Momente aus Mission, Martyrium und Heilsleben Marci zur Sprache, konnten links nicht die geradezu lückenbüssenden Felder eines einzigen, eher marginalen posthumen Ereignisses ausgebreitet worden sein.
2) Wenn mit Francesco Sansovino (1556) die 'pergoli' dazu dienten, "a cantar l'Epistola e il Vangelo quando bisogna",126 so war die rechte südliche Sängerkanzel nach ältestem Brauch die Epistelseite ('cornu epistola'), von der die direkten Worte der Apostel als gleichsam Lebende und Wirkende gehört wurden, während die evangelische Verheissung links und nördlich des Altars der Nachwirkung und dem künftigen Heil reserviert blieb. Dort trat der Evangelist in seiner numinalen Funktion als Sprachrohr und wundertätiger Mittler Gottes auf. Die posthume Reliefserie schrieb sich ein in ein strenges liturgisches Programm als Gegenpart zur gegenüberliegenden.
3) Während die früheren rechten Episoden punktuell im christenfeindlichen Alexandria stattfinden, mit paganer Architektur, Skulptur und Kostümen als sprechende Hintergrundsfolie auf die aktuelle, dem Türkenfeinde ausgelieferte Christenheit anspielend (die Kreuzzugsfarce Karls V war gerade erst in Nordafrika so gut wie gescheitert!), so ist die zweite Serie in die sorgfältig diversifizierten Kulissen eher okzidentaler Requisiten ambientiert: ein Stadtinneres, ein Kastellvorhof und – was bisher nie zum Stutzen Anlass gab – eine freie, aber vegetationslose Landschaft (Abb.0). Gerade für das letzte Feld bestand nicht der geringste Anlass, auf Architekturdekor ganz zu verzichten, wenn es die Legende nicht ausdrücklich verlangte!
4) Niemanden störte bis heute, dass für eine offenbar einzige Folge von Wunderwirksamkeit der Einstand des Heiligen gleich dreimal als fliegender Deus ex machina gefordert war, als benötigte nach der wundersamen Unverletzlichkeit des Sklaven, auch Volk und Kastellan aufmunternden Simultanbesuch... eine optisch-artistische Notlösung? Wohl kaum.
5) Selbst dem kritischen sottinsu-Auge Deborah Stotts entging, dass in der sogenannten 'Bekehrung' der kniende 'Patron' (Abb.0) weder gewandlich noch physiognomisch mit dem Gebieter des 'Marterwunders' übereinstimmt (so der Brustharnisch, Schulterstücke und -riemen, Rockfältelung), sich hingegen kaum von seinen eigentlichen 'Untergebenen', den Soldaten der rechten Reliefhälfte, absetzt, d.h. auch ohne Wolfshelm, Schild und Lanze ein kommuner "miles" zu sein scheint. Und ist es derselben 'künstlerischen Freiheit' zuzuschreiben, wenn in der Marterszene die dem Padrone sicher beidemal nützliche Gardeeskorte fehlt?
6) Das dreimalige Erscheinen Marci diente gewiss höherer Mission, wenn er zum einen jenen niederen Sklaven vor dem Verderben bewahrt, vor allem aber seinen grausamen Feudalherren bekehrt, zum anderen einer offensichtlich ruralen Bevölkerung erscheint und schliesslich sich einer Bürgerschaft und ihrer soldatischen Besatzung zuwendet. Die Pluri-Versilität Marci über soziale bzw. ständische Unterschiede hinweg ist buchstäblich Programm: sein wunderwirkendes Eingreifen im Rahmen der Standesunterschiede ist Gegenpart zu seinem auf Geist, Körper und Seele agierenden Heilswirken im ersten Pergolo-Pendant (Taufsakrament, physische 'sanità' und moralische Bestrafung der Martyriumsschergen).
7) Der Kosmopolitismus Marci wird deutlich, sobald die drei Szenen als grundsätzlich verschiedene identifiziert und lokalisiert werden können. Zweifellos ist der 'Padrone' oder "castellano" des Sklavenwunders in der "Provenza" beheimatet,127 folgen wir der Legenda Aurea Voragines oder dem Parallelbericht Pietro da Chioggia's: Sansovino gibt Orientalismen, wie dies Tintoretto in der Folge tut, wenig Raum; die fremdländische Note in den beiden linken Zuschauern genügte, die Ungläubigkeit, Feindseligkeit oder Ferne des Landstriches zu betonen. Thema der Episode ist die Gefolgschaft des Heiligen, die Schutz, Immunität und das Heil der Konvertierten gewährt.
Das zweite Exempel behandelt Gehorsamkeit und Gratifikation der Gemeinde nach einer vorausgehenden Vernachlässigung des Markuskultes: wenn im gegenüberliegenden Relief der Schleifung Marci die Hintergrundsarchitektur von Naturgewalten durchbrochen wird, ist hier auf eine Staffage nahezu verzichtet, weil unsere Szene im agraren Flachland Apuliens, oder der "terra di lavoro"128 spielt. Eine isokephale Menge entzückten Bauernvolkes entbricht in Dankbarkeit für den ersten erfrischenden und befruchtenden Regenguss, den Markus den Wiederbekehrten nach langer Dürre (als Ausdruck seines Grolles) bescherte. Noch ziehen wellenartig die Wolken davon,129 man kniet nieder, küsst die getränkte Scholle. Die Szene ist vornehmlich ein Trost- und Mahnwort an die in der Regel schwer arbeitenden Frauen, hier in evidenter Überzahl (die übrigens angesichts der Markus-Tumba im Kirchenschiff, also auf der linken Evangelienseite der Frauen den Messen und der kultischen Markusverehrung beiwohnten).130 Wenn in beiden mittleren Reliefpendants Naturphänomene zu Worte kommen, die vom Titelheiligen ausgelöst werden, so ist dies gerade in ihrer Ausrichtung auf die Elemente Wind und Wasser für die Lagunenstadt bezeichnend: Giorgiones (bzw. Palmas/Bordones) Burrasca aus der gleichsam staatlichen Repräsentations-Bruderschaft Marci und später Tintorettos ebendortiges Sarazenenwunder mögen für manches andere Beispiel stehen.
Gehört die Schleifung des Evangelisten zum brutalsten Ausdruck menschlichen Unrechts, so sind die fanatisierten Schänder des Leichnams, gegenüber dem mitleidigen, verschüchterten Frauenvolk, Stellvertreter der rohen Mannsgewalt. Das Pendant des Regenwunders ist optisch wie inhaltlich in feiner Nuancierung als friedliches Gegenstück131 gedacht: die bewegt sich veräussernde kriegslärmige "actio" aus dem Stadttumult steht bewusst gegen die statuarisch-feierliche innere Ergriffenheit der "contemplatio" der bäuerischen Menge, der "acclamatio" des Landvolkes.
Das dritte Exemplum ist in eine städtische Umgebung verlegt und mag der Posen und winterlichen Bekleidungen halber in ein nördliches Gefielde – man denke nicht ungern an die Lombardei – gehören. Eine antikische, mitunter wolfskopfbehelmte Soldateska hört sich die Geschichte der wundersamen Errettung eines der Ihren – ob Ritter oder Fussoldat – an, der Markus die verdiente Gefolgschaft gelobt und sich somit der Zähmung ungezügelter Gewaltsamkeit des Militärs befleissigt. Im Feldzeichen martialischer Wolfs-Symbolik mag man vielleicht eine Anspielung an die barbarischen Horden germanischer- sprich habsburgisch-spanischer Marodeure sehen, die noch unlängst Venetien verwüstet hatten. Ein unbewaffneter Ignudo, Sansovinos eignen zeitgleichen Loggetta-Apoll paraphrasierend (und so einer Sängerkanzel nicht unangemessen!) steht in der Muschelnische eines städtischen Monumentes, als Gegensatz zum Waffengetümmel des Vordergrundes und als Mahnmahl der Pax, Concordia und der Musenblüte in Friedenszeiten. Selbst die Waffen- und Helmlosigkeit des "miles" hindert nicht, gleich zwei Episoden des Legendenschatzes Marci als Vorwände für seinen Markus als 'Soldatenfreund und –helfer' in die Schranken zu fordern: so zog dieser einen Ritter, der vollbewaffnet vom Pferde in den Graben einer belagerten Burg gefallen war und ob der Schwere seiner Rüstung zu ertrinken drohte, mit dem Lanzenschaft ans rettende Ufer.132 Der dominikanische Hagiograph Pietro Calò da Chioggia präzisiert seinen Wunderbericht, indem er den Verunfallten waffenlos "equo, clypeo atque lancea super pontem relictis" das Treuegelübde aussprechen lässt: "voto se ad famulatum sancti Marci astrinxit." Dieser Geschichte, die als kleine Hintergrundsszene auch im Markus-Gobelinzyklus von 1551 (der ja nicht ohne wesentliche programmatische Mitplanung Sansovinos entstanden sein dürfte), auftritt,133 steht jene andere Calò's und Voragines, die ebenso zutreffend gemeint sein könnte134 zur Seite: ein Soldat verlor im Kampfe nahezu die Hand, welche zu amputieren Freund und Ärzte anrieten. Die Scham vor Verstümmelung und sein Vertrauen in die chirurgischen Heilkräfte Marci, liessen ihn in extremis unter Anrufung des Heiligen eine Bandagierung versuchen, die von Erfolg gekrönt wurde, ihm aber als Zeugnis des Wunders, eine sichtbare Narbe hinterliess. Eine Art Band am Handgelenk des Knienden, die Erregung der "familiares" links und die zurückhaltende Geste eines imponierenden Greises (ev. ein Arzt) liessen sich auf diesen Bericht anlegen, nähmen der Lanzen-Legende jedoch nicht ihre gleichzeitige Daseinsberechtigung.135 Möglich ist, dass Sansovino selbst eine allzu einseitige Entscheidung offenliess, da mit einer Doppeldeutigkeit der Ruhm Marci als Soldatenfreund nur gewinnen konnte, wenn seine thaumaturgischen Kräfte auch dem streitbaren Stande auf die Fahnen geschrieben wurden. Ähnlicher Mehrdeutigkeit bediente sich Tintoretto später im Markuszyklus von 1562 im noch immer nicht zureichend gedeuteten Markuswunder der Brera.136
8) Der moralisierende Grundgehalt der drei linken Pergoloszenen ist an eine weitgesteckte Koimé gerichtet, deren Stammland in Provence, Apulien und Lombardei als Tutel des Staatsheiligen vom venezianischen Grenz- und Einflussgebiet somit kultur- und religionspolitisch eingekreist, missioniert und ideologisch anektiert werden konnte: in Nord, Süd und West lieferten sich derzeit die Ränkespiele um die Macht zwischen Frankreich, Habsburg und den Türken verlustreiche Schlachten, die der Staatspatron trotz mancher hilfreicher Einwirkung allerdings selbst zu Lepanto nicht nachhaltig für Venedig zu entscheiden vermochte.
Die rechte Sängertribüne diente hingegen der Exaltation der Ausserordentlichkeit des heiligen Protagonisten am Orte seines Lebenswerkes im urchristlichen Orient, dessen evangelische Erbschaft, unter Umgehung der erzfeindlichen Rivalin Rom, Venedig rechtens anzutreten glaubte.
Die harmonische Abstimmung aufeinander, die gewiss mehr inhaltlicher denn stilistischer Art ist, liegt einem ebenso weisen Gesamtkonzept zugrunde, wie die übrigen Ausstattungswerke Sansovinos am nämlichen, schon von klarsichtigen Vorgängern des "proto" zielstrebig durchgeplanten Orte: die Sakristeitür, die einstige Evangelistenbalustrade um die Markusaltar-Tumba, die Wirkteppichserie der "spalliere" des des Johannes Rost (1551)137 (gemäss Entwürfen Giuseppe Portas oder Schiavones) nach Anleitung Sansovinos, die Schreintüre des Sakramentsaltares, das Taufbecken, der Intarsienkomplex, schliesslich die Kopffelder der nämlichen Pergoli selbst, mit je einer sitzenden Markusfigur,138 gedacht, auf weite Sicht hin die Reliefinhalte an- und abzustimmen.
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