Drittes Kapitel
Katalog der hysterischen Renaissance
Es gibt viele Arten ein Kunstwerk zu beschreiben: die Beschreibung kann sich dabei selbst in ein Kunstwerk verwandeln, oder die einfache Funktion erfüllen, in einem Katalog das sichtbare Material festzuhalten, das ohne Bild oder ohne Worte in der Erinnerung in Einzelteile zerfallen würde. Es ist eine fast existentielle Bedingung, das Objekt auszuweisen, und wenn möglich den Künstler, oder zumindest die letzte Zuordnung. Solange es kaum Reproduktionen gab und die meisten nur malerische Neuschaffungen gesehener Gemälde waren, schien die Schönheit noch mystischer und die Evozierung mit Worten war der „Ersatz“ der Kontemplation. Für die Vertreter des letzten europäischen Romantik war dies eine gefällige Garantie von Aristokratie. Die Salomé Gustave Moreaus ist auf den Seiten Huysmans vielleicht sogar sinnlicher als die gemalte. Die auf das Kissen Sant’Orsolas geschriebene „Kindheit“, ist auf den Seiten D’Annunzios Fuoco reproduziert, und verdichtet in einer Art gewollter, erotischer Unschuld die Beschreibung des Bildes von Carpaccio, das John Ruskin mit einer subtilen, ganz pädagogischen Präzision festhält.
Der Leser, der sich davon angezogen fühlt, kann sich am Original überzeugen und die empfundenen Eindrücke suchen, oder auch neue und andere entdecken. Im Inneren eines Romans ist die Beschreibung eines Kunstwerks meist funktional in bezug auf ein oder mehrere Details, kann sogar für einen ganze Reihe von Bezügen gelten. Aber auch als Hilfsmittel, Verschönerung, indikatives Signal des Ambientes, der Kultur, des persönlichen Geschmacks der Figur oder des Autors.148 Die Literatur der letzten Jahrhundertwende bediente sich in vielfältiger Weise damit und hatte ein eigenes, präzises und gesuchtes sichtbares Repertoir: von der letzten Romantik hatte es die professionell-künstlerischen Helden der Romane geerbt und eine Soziologie, deren Extreme von der Bohème bis zum großen Meister-Künstler vertreten waren. Der Maestro lebte seine „kreative Pein“ entsprechend der letzten Notwendigkeiten oder der Interpretation des Liberty. Noch konnten optisch-literarische Kontaminierungen vorhanden sein. Die Beschreibung eines irrealen Kunstwerks, inexistent, weil von der Romanfigur erfunden oder von seinem Autor als technisches Hilfsmittel erschaffen wurde zur strukturellen oder ästhetischen Unterstützung149; oder eines realen Kunstwerks, existent, berühmt oder unbekannt, erhält ebenfalls funktionalen oder symbolischen Wert, sowie eine romanhafte Interpretation, angereichert mit den Details des letztgenannten Zusammenhangs. Es gibt noch eine weiter Möglichkeit, ein reales Kunstwerk „zu benutzen“: als wäre es ein einziges Bild, eine Metapher des gemeinsamen Erbes, weshalb die Bestimmung unnötig ist. Heinrich und Thomas Mann nutzen die Kunstwerke als Zitate, als zur allgemeinen Verfügung stehende Topoi aufgrund ihrer großen europäischen Tradition des Sichtbaren, in dem sie Elemente und Details komponierten und dekomponierten.
Weil es sich um eine ungewöhnlichen Verwendung handelt, kann daraus das Problem der Legitimität entstehen. In dem die Herkunft verschwiegen wird, ist die sichtbare Koiné nicht leicht zu rekonstruieren, die Präferenzen und die Wahl, gerade aufgrund der Reichhaltigkeit und objektiven Austauschbarkeit der religiösen und profanen Motive, die die Kunstwerke in den verschiedenen Epochen charakterisierte.150
Der ästhetische Genuß kann manchmal von der Vorstellung derselben oder der Mode abhängen, die man sich davon gemacht hat, von den Präferenzen des Geschmacks, die an die Ideale gekoppelt sind. Es genügt daher nicht, ein Objekt zu identifizieren, um den Stil daraus abzuleiten, wenn man mit Übersetzung des figurativen Stils in einen anderen literarischen Stil nicht zum Ursprung des Topos gelangt.
Eine erste Lektüre der Göttinnen provoziert eine Irritation der Sicht, die Unanehmlichkeit, einen Betrug der Erinnerung zu entdecken, oder dem Betrug eines ausgeklügelten Blendwerks zu erliegen. Es kann passieren, daß man die Erleichterung der optischen Erinnerung verspürt in einigen Gedichte Rilkes - aber hier auf legitimere Weise - oder in Passagen aus dem Werk Hofmannsthals, für Schriftsteller und Dichter, deren figurative Kultur man kennt, sowie ihre äußerste Sorgfalt in den stilistischen Feinheiten, um das Bild dem Rahmen anzupassen, so daß es schwierig wird, die Umrisse oder einzelne Teile zu entfernen. Die Quellen dieser Irritationen in den Göttinnen sind die Topoi, deren sich Heinrich Mann bedient, um seinen künstlerischen Diskurs zu komponieren, der zunehmend fantastischer und geheimnisvoller wird. Das Studium der Quellen dient der Aufdeckung des Ambientes, in dem sich die frühen Romane gebildet haben, und den Überlagerungen, die literarische Einflüsse, Enthusiasmus, Moden hervorgerufen haben.
„Das Kunstbuch hast Du hoffentlich bekommen; Holitscher schickt es Dir mit seinem Gruß und den besten Wünschen für das Werden der Herzogin“151 schrieb Thomas am 13.11.1901 an Heinrich. Thomas bestellt in einer Münchner Buchhandlung die Vite von Vasari: das Werk befindet sich mit einigen handschriftlichen Anmerkungen in Italienisch versehen auch in der Berliner Bibliothek des Archivs von Heinrich Mann.152 Daß Thomas eine deutsche Ausgabe Vasaris benutzt hat, lag sicherlich in der Funktion von Fiorenza und der notwendigen Dokumentation dieser Zeit. Wollte man wirklich die „Unterschiede des Temperaments“ der Brüder messen, wäre nichts hilfreicher als die Unterschiede ihres figurativen Repertoires, der Vorlagen, exzerpiert aus den Katalogen der Museen oder Handbüchern der Kunst.
„Das gangbarste Mittel zur Belebung der Epik mit Hilfe einer fremden Kunst ist gewiß die Ausstattung einer Erzählung mit Bildern.“ Die Geschicklichkeit besteht darin, eine Galerie einheitlicher oder einfacher Bilder zusammenzutragen. Es gibt nichts besseres als die an figurativer Kraft reichen Evokation, die Erstaunen erregen kann, das immer eines der bewußten oder ungewollten Ziele des Schriftstellers oder Dichters bleibt.
H.M. hatte gleichzeitig eine Reihe von Studien zu italienischen Kunstwerken derselben Periode erstellt, in der er Material zu den Göttinnen sammelte.153 Aber auch schon früher, während des Italien-Aufenthaltes von 1893-98, sind die für die Aufenthalte ausgewählten Städte hauptsächlich die Städte der Meisterwerke der bildenden Kunst und der italienischen Meister. Sie werden analysiert und genau studiert in ihrer Andersartigkeit des Stils und der Technik, mehr noch in ihrer Originalität der erfindenden Idee. Die Skulptur, wie auch der architektonische und szenographische Prunk des römischen Barock, hatten auf Heinrich Mann keinen Eindruck gemacht, der empfindsam für die Psychologie der Farben in Harmonie mit dem Objekt großen Wert legte. Auf einem Blatt Papier mit Anmerkungen notiert er die Beschreibungen einiger Gemälde der Museen von Neapel und Dresden, deren Details mit anderen Kunstwerke in Gesamtschauen154 dann mühsam aufgearbeitet erscheinen. Allerdings werden sie nur selten benutzt, ganz entsprechend der weit verbreiteten Mode der italienischen Romane des 19. und 20. Jahrhundert, die Ort und Personen mit dem süßlichem Beiwerk berühmer Gemälde zu nobilitieren, um sie mit der Autorität des Vergleichs geradezu exemplarisch werden zu lassen. Es handelt sich dabei weder um gefällige Allegorien mit zwei klaren und identifizierbaren Grenzen, worin sich die Berühmtheit der sichtbaren Zitation, bereit die literarische Grenze zu unterdrücken und zu determinieren, noch um die auf verbaler Emulation konstruierten Allegorien, auf der optisch-linguistischen Gefälligkeit, die D’Annunzio mißbraucht.155 Heinrich Mann verhält sich nicht anders, im Moment, als er definitiv die Quellen nutzt und sie in seinen Text einbaut, mit den figurativen Anmerkungen wie er es auch mit dem restlichen Material macht. Ein „Schlüssel“ des gesamten figurativen Repertoires, das für die Göttinnen genutzt wurde, für die Novellen und die ersten Romane, ähnelt einer Sammlung von Illustrationen der „hysterischen Renaissance“, der Definition der unruhigen Epoche „fiévreuse“, völlig besessen von der Imitation einer heroischen Zeit in der die ästhetisch und perfektionistisch realisierte Aktion dominiert, begangen von den grausamen Prinzen oder den furchtlosen Condottieri. „Die hysterische Renaissance“156 ist eine genaue Definition: Heinrich Mann bediente sich ihr, um sie sichtbar zu machen, das Emblem des schlechten Geschmacks des umbertinischen, pompösen Italiens, das Denkmal Morettos, das 1898 in Brescia errichtet wurde, des Künstlers Domenico Ghidoni. Der Vertreter der hysterischen Renaissance in den Göttinnen ist der Maler Jacobus Halm, dessen Hoffnung, in der mühevollen Imitation tatsächlich einen neuen Stil zu finden, ihn schließlich dazu bringen, die theatralischen Requisiten der Gardarobe eines Edelmannes der Renaissance zu tragen. Wie Jean Guignol, und noch mehr als Lucio Settalla der Gioconda D’Annunzios, erhofft sich auch der Maler Jacobus, das große Werk zu schaffen, das von der Liebe der vor ihm fliehenden Frau inspiriert ist: das débâcle Guignols korrespondiert mit dem Verrat der Ideale Jacobus Halms, der jedoch am Ende den Abgrund zwischen Kunst und Leben vergißt und sich zufrieden in den Weinanbau am Gardasee zurückzieht.157 Die Funktionalität der beiden Figuren ist diejenige, die Beispiele innerhalb der gleichen Grenzen auszubalancieren, des Kampfes zwischen der Größe von Ideen und kreativer Unfähigkeit: Die Fiktion der wiedergefundenen Renaissance mit der Illusion der inexistenten Affinität, verschärft die Unterschiede. Auch Thomas Mann konnte sich des Eindringens eines verkleideten Motivs der Renaissance nicht entziehen - das im übrigen das schwächste seines Gesamtwerkes bleibt - dem er sich im Zeichen der allgemeinen Tendenzen angepaßt hatte und das er überwinden wollte und wogegen er in seinen späteren, mißverständlichen Betrachtungen Position beziehen wird.158 Heinrich Mann verkehrt wieder einmal die Mode der Rückkehr zur „Frührenaissance“ in Satire, ist aber nicht frei von diesem „häßlichen Gemeinschaftsgefühl“: Ihn verraten seine visiblen Zügellosigkeiten. Zu ihrer Interpretation bedarf es der Rekonstruktion der theoretischen Teile in den Göttinnen, die von der Darstellung der in Paraphrasen zersplitterten Verse bewußt angeführt werden und vom Protagonisten mit Enthusiasmus seines Venedigaufenthaltes ausgesprochen werden:
Ihr Maler, führt mich in das ewige Leben …
Das ewige und unbewegliche Leben der Kunstwerke, die auch Platen zur Flucht aufforderte, nach einiger Zeit:
Fliehe die Schönheit, Freund
Und genieße den köstlichen Frieden,
Der dem Gemüth nahrhaft, schöne Gedanken erzieht!
Der zweite Teil des Romans der Göttinnen, der Venedigaufenthalt Minerva-Violantes, stellt eine andere Interpretation der Kunst-Erinnerung dar, in einer zeitgemäßeren Auswahl als die florentinischen, die einige Jahre später in Zwischen den Rassen die Krise eines anderen Protagonisten umrahmen. „Ah, die Bilder … Wie kann man in Venedig etwas anderes als musikalisch fühlen, so kann man nicht anders als in Bildern denken.“159 Später wird Heinrich Mann sorgsam vermeiden, daß seine Figuren nach Venedig zurückkehren. Er läßt sie noch nicht einmal zur Hochzeitsreise dorthin aufbrechen, zur „öffentlichen Seele“ seines Untertans, der statt dessen nach Rom reist, um seinem Kaiser Wilhelm beim Besuch des Quirinals zu applaudieren. Die „künstliche Stadt“ gehört definitiv zu den Göttinnen, zur idealen Minerva des Triptichons in seiner appollinischen Grausamkeit, selbstgefällig und überheblich, „einen Geist voll festumrissener Bilder“. Vor ihr defilieren - die Geziertheit sollte hier nur Treue gegenüber den visiblen Inspiration sein und nicht stilistisches Ornament - die geschaffenen Figuren einer Epoche, die in diesen Jahren wie die unersetzliche Droge einer Generation wirkte, die die Unsicherheit des neuen Jahrhunderts in einem ästhetizistischen Heldentum ersticken wollte. Für sein linguistisch-metaphorisches Palimpsest bediente sich Heinrich Mann vieler Ausdrücke Gautiers, für die kühne und pikante Anekdotik den Briefen Charles de Brosses’. Er konnte der immer anonym bleibenden Verwertung der Anhänge nicht widerstehen, die fast alle Reisen, berühmte Tagebücher und die sentimentalen Baedecker der französischen Literatur begleiten, den Exkursen über die Malerei und Kunstwerke der Museen italienischer Städte. Auch wenn es sich um feststehende Objekte handelte, ist es außerordentlich schwierig, ihnen auf die Spur zu kommen und ihre Herkunft zu belegen160 (die Zeichen sind notwendigerweise durch Details ersetzt). Ein Großteil der Anregungen scheint auf Taine und Flauberts Notes de voyages zurückzuführen. Die Modifizierung ist kaum angedeutet, aber ausreichend, um den d’annunzianischen Schleier zu zerreißen, den die Analogie der Situation über die frühe Manier Heinrich Manns gelegt hat.
Vom herzoglichen Palazzo Venedigs bewegt sich eine Prozession, der sich alle Bilder zur Illustration von Erinnerungen und Gemütsbewegungen der Herzogin von Assy anschließen. Sie sind bewußt mit dem Ziel „einzuzwängen“ dort aufgeführt, weil sie auf kleinem Raum eine allgemeine und weitverbreitete Technik verraten, die das gesamte Frühwerk Manns durchzieht. Sie aus der phantasievollen Anonymität, in die sie eingebetten sind, zu befreien, erleichtert nicht nur die Interpretation ihrer Bedeutungen, sondern dient auch der Neuordnung einer visiblen Kultur, die wie ein poetisches Pausbrett benutzt wurde.
Der Riesentreppe gegenüber […] stand in einer Nische der Steinfassade eine weibliche Statue. Jedesmal, wenn die Herzogin um die Ecke bog, trat sie ihr entgegen, nackt und schwarz und mit dargebotener Hand, als wolle sie eine Gefährtin zu sich emporziehen
A Rizzo, Eva (Venedig, Herzoglicher Palast)
Und Bischöfe kamen und begleiteten das Tabernakel mit ihren steifen Dalmatiken mit bemalten Goldrändern.
G. Bellini: Processione in Piazza S. Marco (Venedig,Gallerie dell’Accademia)
Und Kaufleute, deren Gesichter hart und fromm waren.
G. Bellini: Miracolo della Croce (Venedig, Gallerie dell’Accademia)
Und kleine Affen, in Scharlach gekleidet, auf plumpen Straußen.161
Carpaccio: Le storie di S. Orsola. Ritorno degli Ambasciatori in Inghilterra (Venedig, Gallerie dell’Accademia)
Und Frauen mit Diademen im goldenen Seidenhaar, das auf die schwarzen Kleider fiel, bogen vorsichtig die Handflächen ihrer bleichen Hände.
G. Bellini: Miracolo della Croce (Venedig, Gallerie dell’Accademia)
Kolorierter ist der hochmütige Monolog der Herzogin:
… In der Schattenwand, in der Tiefe eines Sakrestei, sitzt eine Madonna auf dem rot gewebten Damast einer niedrigen Tribüne, in den Falten eines dunkelblauen und mattglitzernden Mantels. Über ihr verlischt das Gold der Kuppel. Unter dem weißen Tuch, das ihren Kopf bedeckt, leuchtet das bleiche, kleine, runde Gesicht, mit Hochmut emporgereckt, die halbgeschlossenen Augen blicken über die vulgäre Menschheit hinweg … manchmal bin ich diese Madonna.162
Giovanni Bellini: Madonna dei 4 Santi (Venedig, S. Maria dei Frari)
Oft bin ich der kindliche Engel, der zu Füßen einer anderen schweigsamen Königin, in einem hellen Saal, die Bratsche spielt, mit geneigtem Kopf, furchtsam, voll leidender Glückseligkeit, weil er für sie spielen kann.163
L’angelo musicante von G. Bellini (Pala di S. Giobbe), (Venedig, Gallerie dell’Accademia)
Ich bin der Genius auf dem Grab des großen Bildhauers, mit weichen Schultern, der breiten Brust eines Jünglings, der schmalen Taille.164
Der Genius auf dem Grab Canovas (Venedig, S. Maria dei Frari)
Ich bin die blonde, weiße, fette165 Märtyrerin, deren Haar zwischen Perlenschnüren verschwindet und die ihren Kopf zwischen den opulenten Schultern versteckt, weil ihr Brockatkleid zerrissen ist.
Vielleicht ein Bild aus der Schule Palmas d. Ä. oder Veroneses.
Ich bin auch die schwarze Sklavin, halbnackt, im roten Kleid.
Veronese: Judith (Wien, Kunsthistorisches Museum)
Ich atme in allen prächtig gebogenen Gliedern, den opulente Verkürzungen, bleich wie Ambra und in reiche Stoffe der großen Damen getaucht, die sich, nackt, die Stirn mit Sternen schmücken.166
Tintoretto: Venus krönt Ariane (Venedig, Herzoglicher Palast)
Und anderer, die in goldenen Kleidern, weiß, mächtig und unerreichbar, in blauem Silber unter dem Dach festlicher Säle thronen.167
P. Veronese: Venedigs Triumph (Venedig, Herzoglicher Palast)
Und ich brenne in den roten Kreuzigungen, wo brauen Frauen, der Schmuck grün und blutig in den blond gefärbten Haaren schimmert, sich in schwierigen und verführerischen Posen um das Holz des göttlichen Märtyrers tummeln. Auf einem riesengroßen grauen Pferd bäumt sich ein Riese auf; Teile des bronzenen Harnischs beengen seine nackten Glieder.168
Der Bauch erhebt sich fleischlich. Die purpurfarbenen Lanzenreiter spielen mit Würfeln mit einem dichten, in Falten gelegten Tuch. Ein Mann mit einer aus schwarzem Eisen bestehenden Rüstung, schwingt eine rote Fahne gegen den stürmischen Himmel.
Tintoretto: Die Kreuzigung (Venedig, Scuola di S. Rocco) und Die Kreuzigung (Venedig, Gallerie dell’Accademia)
Mein Blut pulsiert süß und stark in der Frau, die leicht atmet und den Kopf auf den Arm stützt. Die wunderbaren Wellen ihrer Glieder ruhen zwischen den Wellen stiller Hügel. Ihr Fleisch schwimmt während des Schlafes im heißen und stillen Land.
Giorgione: Venus (Galerie von Dresden)
Selbst in diesem Land ertönen die süßen Noten einer Flöte …
Giorgione: Landliches Konzert (Paris, Louvre)
Am Teich, unter den gutmütigen Bäumen, legt sich eine nackte und träumende Schäferin ihr Kind an die Brust. Der ernste und junge Schäfer wacht mit seinem Stab.
Giorgione: Der Sturm (Venedig, Galleria dell’Accademia)
Die reichen Lichter auf dem Nacken derjenigen, die in ihrer Körperlichkeit jauchzt, fühle ich in meinem Fleisch fließen.
Giorgione: Ländliches Konzert
„Ich ergieße mich in lauter Vollkommenes. Was hätte mir der Himmel noch weiter zu geben.“ Mit dem Zitat Platens, der figurativen Perfektion, schließt die erste Ausstellung. Nachdem die Vorbilder entdeckt sind, fühlt man sich autorisiert, auch hinter den „originären“ Beschreibungen die Vorbilder der Figuren zu suchen, der Interieurs, der Objekte, der Allegorien. Villen und Paläste, Säle und Gemälde, Statuen und Vasen, „gedachte“ Bilder und Bilder, die hinter den Rücken der Figuren die Schwächen oder ihre Funktion überspitzen, Orte und Orte von Dingen, haben fast alle eine ikongraphische Dokumentation.169 Und hin und wieder auch eine philologische. Das Erstaunen verstärkt sich, wenn, anstatt sich ausschließlich in einer sentimentalen Ikonogrpahie zusammenzusetzen, das Resultat eine Art Überwurf des epischen Bühnenbildners ergibt, der sich gerne beraten läßt.170
Vielleicht erklärt sich dieser Wandel des Namens Juno in Diana mit dem figurativen Substrat des verhinderten Malers Heinrich Mann. Ohne die dreiteilige Präsenz der Vergine delle Rocce und die Namensübereinstimmungen der Grazie Foscolos, noch der an die Poèmes von Henri de Régniers gebundenen Assoziationen beschneiden zu wollen, kann sich der visible Beitrag, besonders aufgrund der verschwiegenen Namen, als von entscheidender Bedeutung erweisen. Paolo Veronese, der Heinrich Mann mit dem Triumph Venedigs die Grundlagen und Möglichkeiten anbietet, weitere Seiten damit zu schmücken, wird mit denselben Adjektiven akzeptiert, die Gautier eingeführt hatte und stellt daher ein maßgebendes Beispiel dar. Die Decken der Villa Maser Palladios, von Veronese bemalt und zu der Heinrich Mann noch Jahre später zurückkehren wird, triumphieren in einem emblematischen Olymp171, der die weiblichen Gottheiten in einer tryptischen Ordnung versammelt.
Von der leidenden Madonna dell’Angelico der ersten Novelle bis zum Condottiere Pippo Spano von Andrea del Castagno ist das symbolische Repertoire, in dem mit größerer oder geringerer Absicht die Figuren, ihre Aktionen, Situationen und Empfindungen zugeordnet werden, sicherlich in großen Teilen von der „Schönheit“ bestimmt: „Ein Ding für Romanen und Romanisten […] ein Stück Süden ziemlich verdächtiger, verächtlicher Art.“172 Auch wenn es nicht leicht ist anzunehmen, daß es sich immer um die schmückende Schönheit des verdächtigen Adjektivs der „ruchlosen“ Epoche handelt, so hat die „hysterische Renaissance“ trotz der Komponente „Selbsterkenntnis“ auch ihre ernsten Seiten. Walter Rehm legt den Beginn der „Überwindung des Ästhetizismus“ mit Tonio Kröger und Fiorenza fest: in jenen Jahren der „Bellezza und des belleslettres Politikers“ - so bezeichnet ihn der Bruder Thomas auf seinen harschen Seiten der Betrachtungen - schreibt Heinrich nach den Göttinnen die Romane Jagd nach Liebe (1903) und Zwischen den Rassen (1905-1907). Der Triumph der Empfindsamkeit venezianischer Koloristen und die Kompositionen ambientaler Kulissen, die allesamt nachweisbare und auflösbare optische Zitat sind, werden; anstatt durch Figuren, durch den Mythos von Florenz der gefürchteten und machtvollen Medici ersetzt. Die überspitzte Opposition des Vergleichs mit perfekten Kunstwerke hat nicht mehr den femininen Charakter der Göttinnen, sondern erhält im Konflikt der Figuren und der Wahl idealer Figuren, einen wesentlich heldenhafteren und virileren Ton. Die Anonymität wurde in großen Teilen aufgegeben und verringert somit die Besorgnis der richtigen Identifizierung zugunsten einer größeren Intensität des Signifikats: Die Skulptur hat das Gemälde ersetzt. Die von Properzia Ponti geschaffenen Statuen, die in den Göttinnen eine erklärende Funktion als Kontrapunkt innehatten, erhalten sich diese Absicht. Aber jetzt handelt es sich um das notwendige Ornament des Weges zu einem transzendentalen, politischen Charakter, der mit dem völligen Verzicht auf Schönheit enden wird. Die „finstere Schönheit“ der Medusa in den Loggia dei Lanzi ist solch ein „ruchloses“ Attribut, aber nur vereinzelt. Die Figuren der Aktion: Perseus173, David, Cosimo de’ Medici, die Pippo Spano vorangehen, bezeichnen die Grenzen der Kluft zwischen „Geist und Tat“. In diesen Jahren ist und darf für H.Mann die „Tat“ noch ästhetischer Vergleich sein, ohne bis zur Glorifizierung des „ästhetische[n] Verbrechen[s]“ zu gelangen. David ist nicht Cesare Borgia.
Es sind der exhibitionistische, theatralische Charakter einiger Kunstwerke und das Komödiantentum der großen nicht vollzogenen aber erklärten Geste, die den Protagonisten von Jagd nach Liebe, der sich noch ganz „à rebour“ der Zeit, noch vom Jugendstil paralysiert befindet, verbittern. Aus der lobenden und neidischen Bewunderung des dekadenten Helden und seinen Leiden über die Unerreichbarkeit der „Tat“ wächst die Revolte gegen die gleichen, grandiosen Figuren, ohne den Zweifel ihrer Fiktion zu überspannen.174 In Zwischen den Rassen ist bereits die erotisch-politische Verschiebung der „hysterischen Renaissance“ vollzogen: wenn die Definition von „hysterisch“ vor allem auf die deformierte „Verlängerung“ der Renaissance in Deutschland bezogen war, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert in fast ganz Europa auftrat, so war sie auch - mittelbar angewendet - ein Urteil über das „Stück Süden“, das sich den Klauen des D’Annunzios befindend, den Gesten und dem heroischen Schönheitskult die letzte Chance zur Unterscheidung zwischen konkreten und abstrakten Möglichkeiten geopfert hätte.175
„Die Schönheit, bei der man zu lange verweilt, versengt und trocknet aus. Sie entmutigt, denn was sollte man selbst noch zu leisten hoffen, nachdem man erkannt hat, wo das Höchste thront“, hatte der junge Mann in seiner Skizze über Platen in Italien geschrieben. Das Ergebnis dieser Entmutigung ist noch in Zwischen den Rassen zu fühlen. „Hat man einen kurzen Blick auf die Schönheiten werfen dürfen, so ist es besser, sich in die Stille zurückzuziehen und fortan von dieser einen Erinnerung zu zehren“, so der postume Rat an Platen, sich nicht zu lange dem dauerhaften Brennen der Schönheit auszusetzen. Damit befolgt er auch einer Selbstermutigung, die im letzten Teil der Göttinnen bereits präsent ist.
Wie heftig und oft sich H.Mann in den nächsten Jahren von diesem figurativen Rausch distanzieren muß, belegen nicht nur die Briefe an Nene und sein Versuch, ihr die Genesis des Romans zu erklären, sondern auch einige Teile des Romans selbst. In Zwischen den Rassen vertritt Arnold Acton die autobiographischen Details des jugendlichen Noviziats, der während der Jahre der Liebe zu Nena geboren wird: „Und eines Tages war’s aus. Mein Trieb, zu gestalten, ward lahm; das Chaos, dem ich hätte Formen entreißen sollen, hob sich dampfend, und tote Wände umstanden mich. Ich ging hinaus […] Wohin? Wo ist ein Elexier, stark genug zur Belebung eines so sehr Ernüchterten? Nicht mehr in dem Italien, das ich einst feierte. Ich gehe noch hin, weil ich Erinnerungen und Gewohnheiten habe; aber mir ist, als hätte ich im geheimen immer ein wenig Verachtung bewahrt für die schwungvolle Sinnlichkeit dort unten.“ Das sind fast die gleichen Worte Tonio Krögers, müde von der Schönheit und der Sinnlichkeit „dort unten“: „Sehe ich jetzt Bilder der Venezianer wieder, befremden sie mich: in einigen Monaten haben sie mehr gealtert, als während der vierhundert Jahre seit ihrer Erschaffung. In ihnen ist niemand mit sich allein; kein Leiden geschieht darin ohne Zuschauer: was gehen sie einen an, der bei Festtafeln und geschmückten Freunden kein Genügen fände?“176 Auch die prunkvollen Fresken des Palazzo del Té in Mantua (diesmal exakt zitiert) haben sich in einen „Schwall der Fleischlichkeiten, die nach Jahrhunderten noch aus Decken und Wänden überquellen“ verwandelt. Die mythischen Säle Venedigs der Assy sind einem staubigen und verfallenden Palast in der römischen Campagna gewichen, möbliert mit zerrissenen Wandbehängen und einem mit Abfall gefüllten Garten, der „schwerlich von Faunen herrührte[n].“ In den Jahren der Entdeckung hatte Italien auch die innere Geschichte des jungen Mann verwandelt: „Ich fand nach Italien; - und da war mir’s, als hätte ich nach Haus gefunden. Welch ein Jubel! Ich erkannte mich selbst in den Bildern, die alle auf Größe und Lust aus sind, in den Landschaften der Helden, worin keine Träne lange hängenbleibt, in dem ewig jünglinghaften Volk. Hier war eine heftigere Welt wie aus meinem Herzen ans Licht getreten. Die ersten vier Wochen in Rom ging ich umher im ununterbrochenen Zustand dessen, den der erste Liebesblick trifft: in seinem ungläubigen Entzücken. Ich ging planlos; die Erwartung einer Straßenbiegung machte mir Herzklopfen; ein Monument war ein Abenteuer.“177
Kaum daß die von Nietzsche wegführende Wegbiegung erreicht ist, ändert sich die Landschaft der Kunst in ihrer Intensität und ihrem Wesen: „Sie waren überall; die Stadt war erfüllt und beherrscht von Statuen, die sich in Hallen und auf Plätzen versammelten, wie ein Haufe schönen, sinnlichen Volkes; die von Brunnen, aus Nischen ihre lauten Gebärden ins Marktgewühl mischten; deren starken, frechen Mündern man die schleierlosen Stimmen der ganzen Menschenmenge entquellen hörte und von deren göttlicher Nacktheit all dies Leben nackt schien.
‘Die Kunstwerke! Es ist wahr, sie alle sind Fleisch, sind die Verherrlichung des Fleisches. Aber nur in der Kunst ist es Herr und ist edel. Die Künstler - wir’, dachte sie ohne ihren Willen, ‘erhöhen es über alle menschlichen Maße, über alle menschliche Kraft, und finden doch Kraft und Maß in uns selbst!’“178
Die florentinischen Statuen haben die venezianischen Koloristen ersetzt, mit der gleichen Funktion der Sammler, nur durch die symbolische Vermenschlichung korrigiert, die je nach anvisiertem Objekt zuschlägt. „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“ hatte Wedekind formuliert. Und das umgekehrte Prinzip scheint die Wahl der visiblen Muster in der Funktion zum Text zu regieren, die [Funktion] aus ihnen ermittelt wird oder seiner [des Textes] ihrer Vermittlung dient. In diesen Seiten, in denen die Literatur zufällig der Genius der künstlerischen Realisierung zu sein scheint, ein problematischer „Ersatz“ der figurativen, vollzieht sich der umgekehrte Prozeß desjenigen, der vom realen Modell zur figurativen Abstraktion geführt hat: davon hatte sich H. Mann, noch „ganz Künstler“ wie ihm der Bruder vorwarf179, distanzieren wollen, um zur Realität der Vorbilder zurückzukehren mit einer Fortsetzung der in den ersten Romanen gemachten symbolischen Verknüpfung und realen Verwendungen. Der Genius der Beschreibung, wenn es denn Beschreibung sei und nicht Einschub, dessen Teile des zerbrochenen Bildes in einem dritten Typ von Bild in subjektiver Funktion wieder zursammengesetzt ist, wird noch von der Manier des späten Naturalismus reguliert, der mit den Anziehungen der dekadenten Empfindlichkeit gut harmoniert. Es gibt keine Leerstellen.
Für einige aufmerksame Kritiker ist es die Technik, die den „Ecce-Homo Schauer“ auslöst und in Deutschland das Zeichen für neue Formen setzt: „Der Einbruch der Artistik“180.
Dostları ilə paylaş: |