Viertes Kapitel
Der schwierige Paris
Der Maler mit der niedrigen Stirn und dem gelockten Haar, der die Kontessa Lara ermordete, wurde bei Heinrich Mann zu Orfeo Piselli. Ein Dichter, der bereits im frühen Material zum Roman der Göttinnen in einer Parenthese, die im Moment der erfinderische Transformation der Figur, die Funktion als panisch gesichert hatte. Panisch ist eines der Worte, die gezwungenermaßen dem deutschen Kartenverzeichnis entgehen mußten, dabei aber genauestens die Art der Beobachtung und des Urteils bezeichnet, zusammen mit den Linien und den Allüren, die Heinrich Mann seinem italienischen Orpheus geben wollte. Das Wort läßt sich auf weitere Entdeckungen in den Notizbüchern zurückführen, „technische“ Ausdrücke des römischen Lebens, die vielleicht unerläßlich sind, um die Gedichte Cesare Pascarellas zu verstehen oder zu lesen, die der Autor in dieser Zeit gekauft hatte.
Die Typologie, die immer wichtiger und vollständiger werden wird im Laufe des Werkes, beginnt mit dem römischen Orfeo, Spieler und abergläubisch, anmaßend und opportunistisch: „[…] einen schönen Mann, einer von den sehr südlichen, auf deren Händen und Gesicht trotz aller Beräucherung durch Zigarettendampf, Absinthdünste und heiße menschliche Ausströmungen in Spiel- und Weiberhäusern, doch unverwüstlich ein Rest liegenbleibt von dem durchsichtigen Marmorglanz der auf ihrer Heimaterde erwachsenen Götter […] bezaubernde und leere Maske, dargeboten in selbstgefälliger Allerweltspose […]“ Mann vergißt nicht, ihn herauszuputzen und ihm mit den gelben und schwarz lackierten Schuhen Anmut zu verleihen, die sicherlich Scarfoglio nicht entgangen wären, während er in den derart italienischen Räumen der römischen Pension (er nennt sie Pension Dominici in der Via Quattro Fontane) zwischen mit Seifenröschen gefüllte Körbchen wandelt, wo die Porträts der Mieter die Wände schmücken, mit den unbezähmbaren, nach oben gerichteten Teppichfransen, die vom Staub zerfressen sind. Der Apollon à breloques Gautiers181 entfernt sich nicht von der Tradition des um einen Stoß Karten gewickelten Rosenkranzes, den er in der Hosentasche aufbewahrt. Aber er hat die folkloristische und romantische Anmut verloren wegen weniger noblen Dimensionen, aber daher um so gefährlicher: entlang des Weges des europäischen Romans hat sich die Figur des italienischen Mannes, mit Ausnahme des kunstsammelnden Aristokraten oder des idealistischen Patrioten, mit Hilfe der Entdeckung des weiblichen Tourismus von einem Apollo in einen Paris verwandelt, der mit allen Ambiguitäten und den Konsequenzen der neuen Rolle bereit ist, den Frauen jenes ausschließlich italienisch „Bühnenglück“ zuzugestehen, das Heinrich Mann gegen das Blau des römischen Himmels projeziert sieht.
„Jede Wirkung seiner Persönlichkeit war ihm recht; nur wirken mußte sie“ (Göttinnen, S. 134/ S. 148). Der figurative Vergleich, den Heinrich Mann für diesen hübschen jungen Mann wählt, ist der Hermes auf der Grundlage des Perseus von Cellini, die gleiche Rasse des Mars, der die Treppe der Uffizien schmückt und zum symbolischen Gegenüber einer weiteren sehr schmeichlerischen Figur des Paris werden wird: der florentinische Graf in Zwischen den Rassen: „jede Muskeln an ihm wußte, daß Frauenaugen ihm zusahen.“ [Diana, S. 161, Anmerk. d. Übers.] Irritiert vom französischen Gezwitscher der Freundinnen, die ihn somit ausschließen, befindet sich der panische Orpheus, Dichter und Anwalt, im Zwiespalt zwischen der Wut, die ihn bewegt und dem Ausdruck, den er seinem Gesicht und seinem Körper zu geben wünscht: „Er war ein Mann und hätte es in der Ordnung gefunden, sie zur Ruhe und Unterwürfigkeit zurückzutreiben, mit einigen kräftigen Grillen seiner mattweißen Hand, die Übung besaß im anfassen von Weibern, oder auch durch eine Zote. Und je böser sein Sinn ward, desto glücklicher und anmutiger seine Haltung. Bloß seine Miene wurde ratlos hin und her gezerrt von Gefallsucht und von Wut. Sein Körper allein hatte Manieren gelernt. In sein Gesicht aber traten, naiv und tierisch ungezügelt, alle seine Gefühle.“ [Diana S. 162, Anmerk. d. Übers.]
Während der Komposition der genauen Attribute für eine Figur, der die reale Zeitgeschichte als reiche Vermittlerin diente, erinnerte sich der Autor nicht nur an die römischen Monate und Jahre, sondern auch an einige Seiten des Schlaraffenlandes der Serao. Piselli betet in der Kirche am Corso für Glück im Spiel: „Piselli breitete sein Schnupftuch über die staubigen Fliesen und kniete darauf.er zog aus der Tasche seinen um ein Spiel Karten gewickelten Rosenkranz […] bekreuzigte sich ein über das andere Mal; er roch nach Chypre, aber seine Furcht und seine Brunst erhöhten sich vor seinem Gotte zu ebenso dumpfer Ehrfurcht und Inbrunst wie bei den Gläubigen vor und hinter ihm, die nach Knoblauch stanken. […] Piselli verschlang mit den Augen, die vor Gier verblödeten, den buntstrotzenden Heiligen aus Wachs hinter dem Gitter seiner Krypta. Seine Finger und Lippen überhasteten die Gebete, er fühlte sie erhört und sah bereits die Karten vor sich, mit denen er gewinnen sollte.“ [Diana, S. 166/167, Anmerk. d. Übers.] Später, auf dem Corso, in der Haltung und der eleganten Bewegung des Spinario [?]: „marmorschön“. Die literarische Karriere dieser Figur ist inzwischen in all ihren popularistischen und cinematografischen Varianten zu banal geworden, selbst für italienische Autoren. Ihre Entstehung verdankt sie allerdings englischen und französischen Romanen, die in Italien nicht mehr nur, wie noch Stendhal, die selbstbewußte Schönheit der Frauen und die unheilbare Mittelmäßigkeit ihrer Begleiter entdecken konnten. Sie verlagern ihr Hauptaugenmerk auf das soziale Interesse, die subtile Unbehaglichkeit des Mißtrauens und, auch wenn die Interpretation zu psychoanalytisch zu sein scheint, den Sinn der unüberwindlichen Rivalität oder, für die Dandies und Ästheten, der Unterlegenheit, die notwendig waren, um reale und glaubwürdige Formen herauszukristallisieren, damit ihre Anwendung zum Teil zum Protest würde, und als eine funktionale Note der Gebräuche erscheinen konnte.
Heinrich Mann, wie Forster182, fühlt und vermittelt die brutale, totale und vitale Präsenz des latinischen Mannes; aber er warnt vor ihrer Gefährlichkeit aufgrund des Bündels an Anpassungsfähigkeit und gegensätzlicher, zu befriedigender Möglichkeiten, die alle auf das Maß des Eros zurückzuführen sind. In den Göttinnen, im Gewirr der Figuren, die die Reinvention „en disponibilité“ erfahren haben wie sie Henry James verstand, ist die Verkleidung vielfältig und sie verteilt sich auf die Komparsen am Rande, die allerdings niemals mit der Verkürzung des „Lokalkolorits“ skizziert sind. Kardinäle und Monsignori183, ohne die Rom nach der Einheit undenkbar wäre, entgehen der „männlichen“ Beobachtung des Autors nicht. Kein einziger Vorbehalt des Protestanten und kein Erstaunen des Nordländers begleitet die Darstellung der Kirchenvertreter mit der „fetten Stimme“ und ihre unglaublichen ökonomisch-finanziellen Fähigkeiten. Es ist vor allem ihre klebrige Sensualität184, die sie dem verfehlten Paris’ so ähnlich macht und ihr erotischer Egoismus, der sie gesellschaftlich gefährlich werden läßt.
Die Varianten der Figur sind vielfältig: ein Farfariello185 wie er einem erscheint, der die Erlebnisse Winckelmanns kennt und der hinter der ihm fremden äußeren Erscheinung das Mißverhältnis einer sozialen Transformation ahnt, die demjenigen noch unbekannt ist, und noch lange unbekannt bleiben wird, der nicht davon betroffen oder überrollt worden ist; oder auch ein Fabrizio del Dongo, korrumpiert vom Erfolg, der sich in einem Land wohlfühlt, das ihn als Vertreter und Hauptfigur entdeckt. Es handelt sich dabei weder um einen satanischen Helden, schön, traurig und stolz, noch nicht nationalistisch trotz aller Klischees der heldischen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, noch um einen Faun aus Marmor, der den Mondschein auf dem Kapitol zum Leben braucht und die Komplikationen der exotischen Liebe, um sich von der statuenhaften Starre zu lösen. Bei Heinrich Mann wiederholen sich die Figuren, sie verdoppeln sich fast obsessiv in einer Spiegelgalerie, wodurch sie fast grotesk deformiert erscheinen können, weil sie bereits der gefälligen Trübheit der historischen Patina entsagt haben und das grausame Licht der „Gesellschaftskritik“ vorziehen. Im allgemeinen ist besonders die Kraft Heinrich Manns in den italienischen Romanen verleugnet worden, die die Kritik von der kostbaren Gerätschaften seiner Fin de siècle - Ambiente erstickt glaubt, diese „prophetische“ Durchdringung, die später noch grausamer und unschlagbar wird, das sie - der gleichen Ansicht war auch sein Bruder Thomas - von der Notwendigkeit eines Ästhetizismus ertränkt wird, der D’Annunzio zugeordnet wird. Sicherlich, in den Göttinnen ist die Vermengung schwierig zu entschlüsseln, vor allem für die wenig Erfahrenen des italienischen Lebens und der „römischen cronique scandaleuse“, die viele Vorlagen anbietet und die trotz vielfältiger Verkleidungen in Form einer verwirrenden Typisierung wieder zu tage tritt. Von der tierischen Bösartigkeit des Orfeo Piselli bis zur unschuldigen Theatralität des Tenors Nello Gennari, der Liebhaber in der kleinen Stadt, verschiebt sich das Augenmerk Heinrich Manns von den verschiedenen Typen-Modelle einer Rasse, die er aufmerksam studierte und die ihm schließlich dabei geholfen hat, die Mängel und die Gefahr der eigenen Rasse zu verstehen, zu einigen Exemplaren, vom primitivsten bis zum gewollt kompliziertesten, mit Tugenden und Vorzügen ausgestattet, die allerdings alle für die nationale Degeneration empfänglich sind. So befindet sich auch Jean Guignol, der Dichter im mattblauen Frack und amarantroter Weste, immer im heiklen Gleichgewicht zwischen Leben und Literatur; ebenso die italienischen „Leierkastenmänner“ in Zwischen den Rassen, so der „Drehorgelmann“, den auch Thomas in Settembrini zu sehen glaubte, bevor in ihm der Humanist zum Vorschein kam. Es gibt in den beiden Brüdern ein gemeinsames Bindeglied zum Ursprung dieses metaphysischen Leierkastenmannes, das den Kindheitserinnerungen entspringt, und verbunden ist mit den ersten Erfahrungen einer Welt, die anders ist als die Lübecks. Zuerst die verdächtigen Zigeuner, die in grünen Karren reisen und das Gegenteil des ernsten Herrn mit der Blume im Knopfloch, des Senator-Vater Tonio Krögers, darstellen; dann der Leierkastenmann, der Opernromanzen spielt: das sind die beiden Symbole und die beiden vagabundierenden, mediterranen Versuchungen, die sich in die nordische Welt eindrängen. Settembrini haftet immer etwas abenteuerliches an, mit seinem ewigen großkarierten Anzug und seiner Kultur zwischen Carducci und Brunetto Latini, was ihn Hans Castorp immer fremder werden läßt. Der Leierkastenmann Heinrichs hingegen wird von einer Reihe anderer Vertreter ersetzt, die ihre Arien sehr schmeichlerisch vortragen können.
Don Saverio Cucuru, der von den Frauen ausgehalten und hastig die „Breloques“ berührt, wenn er an einer häßlichen Alten vorbeigeht, benötigt ein leeres Fundament, um aus sich selbst herauszugehen und in die Mythologie, seine Realität, einzugehen: „Er hatte kosende Mandelaugen. Er war weiß, weiß, und blauschwarz beschattet vom rasierten Bart. Er verstand wollüstige Haltungen wechseln zu lassen mit sehr markigen. Im Klang seiner Stimme ruhten die Frauen, die ihm zuhörten, sich aus wie auf Rosen und Mandelblüten. […] In der Stellung eines jungen Bacchus, ein Weinblatt hinter dem Ohr, gewann er sofort einen nur auf sich aufmerksamen und an allem unbeteiligten Ausdruck. Der Sockel war seine Welt, er war Marmor und unmenschlich in seiner Vollkommenheit. […] Ein abergläubischer und falscher Bandit, durch ein geheimes Türchen in einen blendenden Marmorgott geschlüpft - […]“186 In diese Definition geschlüpft, ist der abenteuerliche italienische Paris bereit, die „schöne Fabel“ des männlichen Stolzes und der Überlegenheit der Rasse mit der Polygamie als Vorrecht des Übermenschen zu unterstützen, in der Erwartung, sich in höchsten politischen Aufgaben zu verausgaben. Keinem Autor ist es gelungen, diese Figur festzuhalten, die noch alle Erinnerungen und Reminszenzen der klassischen Liebhaber und rasenden, unglücklichen Spieler der französischen Literatur in sich trägt, und dabei gleichzeitig der schöne und konventionelle Antagonist der deutschen Literatur ist, und mit einer Verschmelzung zum Beweis der Realität geworden ist, die die Modelle erniedrigte und einen neuen Typen kreiert, der wesentlich wahrhaftiger ist als der gewöhnliche und überkommene Herzenbrecher Casanova, der zwischen den römischen Ruinen spaziert. Um die richtige literarische Abstraktion einer Figur zu erschaffen, deren Virulenz sich erst viele Jahre nach ihrer Erfindung auf dem Höhepunkt befinden wird, ist ein Maß an Beobachtung möglich, man könnte sagen, ihres Ursprunges, nicht literarischer Art, sondern ausschließlich politisch und soziologisch.
„Den Gecken, eng gekleidet, die an einer Straßenecke ihren Torso darboten und den silbernen Griff des Stöckchens am Munde, über einen Cafétisch fort süße und harte Blicke aussandten […].“187 widmet der junge Heinrich Mann manchen irritierten Kommentar: „Allen saßen die Anzüge nach der Mode vom nächsten Jahr und ohne eine Falte, wie auf guten Bühnen …“188 Auf der Bühne oder auf dem Sockel einer Statue vollzieht sich der extrovertierte Kampf zugunsten der ästhetischen, erotischen und später auch politischen Vorherrschaft in Gegenwart der Vorbilder einer vergangenen nationalen Größe, die vor allem auf dem Gebiet der Ästhetik, Erotik und Politik geglänzt hatte.
Der perfektionierte und vollständigste Vertreter, geschmückt mit allen männlichen Tugenden der Rasse und allen zukünftigen Hoffnungen, ist der florentinische Conte Cesare Augusto Pardi, der latinischen Protagonist-Antagonist des Romans Zwischen den Rassen.
„Im Laufe des Lebens hat er alle Aufenthalte zusammengezählt“, schreibt Heinrich Mann von sich selbst am 13. Juli 1946 in einer autobiographischen Skizze, um die der Verleger Mondadori gebeten hatte, „zehn Jahre in Italien genossen. Wenn er Geschichten aus diesem geliebten Lande schrieb, waren es wahrhaftig nicht die flüchtigen Kenntnisse eines Touristen, die er wiedergab. Seine Erfahrungen reichten tief, er war eingeweiht wie ein Verwandter.“ Wie einem Verwandten ist es ihm nicht lange möglich, die häuslichen Bedingungen zu verbergen und, wenn auch nicht aufgrund direkter Erfahrung, so wenigstens aus der Intuition heraus, die Motive und die Geschichte zu interpretieren. Cesare Augusto Pardi ist das Resultat einer verwandtschaftlichen Vertrautheit, wenn es nicht ein Gemeinplatz ist, daß die Verwandten weniger Rücksichten nehmen als die Freunde.
Auch in diesem Fall ist der gewählte Name verräterisch: Ulrich Weisstein, der sich an einem Hörfehler Viktor Manns schadlos hält, der den Namen mit Pardi189 mit Leopardi verwechselnd zitiert, spricht von einem entschuldbaren und hilfreichen lapsus linguae: „War es Heinrich Manns jüngerem Bruder bekannt, daß der italienische Romantiker in Leib und Seele das gerade Gegenteil des Romanhelden war, so daß der Spruch nomina sunt omnia auf ihn keine Anwendung findet?“
Der Name Pardi - der in den ersten Notizen zum Roman noch als ein Conte mit Namen Piero Pisani, „Fechter“, erscheint - hat allerdings eine präzise, kritische und evokative Kraft. Auch Weisstein zählt alle Metaphern auf, die ihn begleiten („Tigerrachen“, „Tigergesicht“, „katzenhafte Drohungen“), und die hingegen in Relation zur italienischen Welt am Anfang des Jahrhunderts gesetzt zu ganz anderen Assoziationen als denen des Leoparden führen. Pardi ist statt 0dessen der „bewegliche Leopard“, der „gierige Jaguar“ der Elegien D’Annunzios (V und X Elegie des I. Buches der Canto Nuovo), das heißt, die ironische Interpretation Manns der gesamten Nomenklatur, der gierigen und hungrigen, in Tieren verschlüsselten Metaphern, die seit dem frühen Verga190 (aber bei ihm noch in mitleidigem Ton) bis zu D’Annunzio das triumphierende Leben der Sinne übersetzen. Es ist gerade die „erotische Herkunft“ eines ganz anmaßenden politischen Verhaltens, das Heinrich Mann in Pardi aufzeigen wollte, einem Italiener, der „das Blut von Menschen, die mit einem Griff durch die Luft mehr Kunst machen“ hat als die deutschen Dilettanten wenn sie malen, der aber in seiner ganzen faunischen Vitalität und natürlichen Unsterblichkeit noch mehr als Mario Malvolto in Pippo Spano eine Kritik am Mann D’Annunzios ist und seines vorgeahnten und alarmierenden Aufstiegs als Modell für die italienischen Gesellschaft.191
Bis jetzt haben die italienischen männlichen Figuren, die Heinrich Mann interessierten und die nicht notwendigerweise, in der Romantradition, italienische Namen tragen noch nicht die Grenze der Episode innerhalb der Geschichte überschritten. Noch sind sie mit einigen Anmerkungen nach Art Stendhals geschmückt, noch sind sie von den Filtern der französisch-deutschen Beobachtung bedingt und benötigen, um sich zu bewegen, eine Reihe von Hilfestellungen des Ambientes oder technischer Hilfsmittel, die ihre Gegenwart rechtfertigen. Die Ironie in dieser notwendigen Abhängigkeit sichert bereits die zukünfigte Autonomie ab. Zwischen den Rassen ist dann der Roman, der gerade aufgrund der Kontamination des italienischen Ambientes die schwersten Vorwürfe der Inkohärenz ertragen mußte. Er muß also erneut untersucht werden, um die wirkliche Absicht aufzudecken.
„Sie waren sich sehr ähnlich“, schreibt Klaus Mann über den Vater und den Onkel Heinrich, „und gleichzeitig grundlegend anders: ihre Charaktere und ihre Träume schienen entgegengesetzte Variationen des gleichen Themas zu sein. Das Leitmotiv, das sie gemeinsam hatten und das sie ewig varierten, war das Problem der Rassenmischung, die schmerzhafte und stimulierende Spannung zwischen nordisch-germanischem und meridional-lateinischem Erbe in ihrem Blut.“192 Wie Tonio Kröger ist Lola in Zwischen den Rassen193 die Tochter eines deutschen Vaters und einer brasilianischen Mutter194. Sie liebt die Musik und verbringt ihre Kindheit und Jugend in demselben Mädchenpensionat, unter Obhut der guten Mademoiselle von Lübeck, dem Thomas Mann eine große Bedeutung in der Erziehung der weiblichen Figuren in den Buddenbrooks zugesteht. Die Ungewöhnlichkeit, die aus ihrer genetischen Bedingung entsteht, noch verstärkt und schmerzlicher in der Umgebung der beschränkten deutsche Provinz, löst sich in Lola nicht in den plötzlich auftretenden Sehnsüchten oder in innerem Snobismus auf: sie ist ohne jeglichen süßen Neid, wie ihn Tonio gegenüber den glücklichen „Blauäugigen“ empfindet. Lola wählt die Heirat mit dem italienischen Conte Cesare Augusto Pardi, der dem Mars in der Treppenhalle der Uffizien ähnelt und entsagt der lieblichen, schwierigen und verbogenen Freundschaft des Träumers Arnold, der zurückbleibt, um am Ufer eines bayerischen Sees zu leiden.195 Die „Schönheit“, die Tonio irritierte, behält ihre unwiderstehliche Anziehung solange sie ihre unersetzliche Distanz zum historisch-geographischen Ideal nicht entdeckt. Nur nach den langen, zu vielen Beleidigungen, die das gemeinsame Leben mit diesem Vertreter der lateinischen Rasse „am Wendepunkt“ ihr zufügt, erhebt sich die nordische Komponente in der Persönlichkeit Lolas und führt sie zu ihrem Wunsch nach gegenseitigem Verstehen zurück, das nicht nur im Kampf der Sinnlichkeiten besteht. Arnold, in Italien aufgetaucht und durch die Liebe befreit von seiner passiven Suche des Intellektuellen, besiegt das schöne italienische Tier und führt Lola zurück zur Ruhe, aus dem Bereich der miteinander kämpfenden genetischen Kräfte heraus, mit dem Sieg der auch biologisch autorisierten und triumphierenden Komponente in einer weiblichen Figur, der väterlichen. „Was haben wir zu hoffen, wenn wir zur Welt kommen? Nichts was nicht in unserem Blute wäre. Nichts von draußen, alles in uns“ hatte schon programmatisch der Held in Jagd nach Liebe ausgerufen. Der Roman wurde beim Verlag A. Langen 1907 veröffentlicht.
1906 erschien beim Piper-Verlag ein schmales Bändchen mit zwei Novellen Heinrich Manns in italienischem Ambiente, Mnais und Ginevra196. Am Ende hatte der Verleger eine Rezension Heinrich Manns an das Buch, Carlos und Nicolas Kinderjahre in Argentinien, Rudolf Schmieds eingefügt, das 1906 veröffentlicht worden war: der Titel der Rezension lautet Doppelte Heimat. „Man kann in einem Land geboren sein; sich in dieser Luft heimisch fühlen wie der Baum im Garten, keinen Unterschied machen zwischen sich und den anderen Menschen um uns herum, und trotzdem machen sich nach und nach die Zeichen bemerkbar; man ist anders als die meisten, die Sprache, die man beim Heranwachsen gelernt hat ist noch nicht die, mit der man sich das ganze Leben ausdrücken soll, neben diesem Land wartet eine zweite Heimat.“ [Zitat nicht nachprüfbar, Anmerk. d. Übers.] Die Protagonisten des Romans von R. Schmied, ein Schriftsteller, der kaum Erfolg hatte trotz der vielversprechenden Originalität, sind gespalten zwischen der Wärme und den Farben der südamerikanischen Heimat und dem Pflichtgefühl und der Disziplin, die ihnen der erste deutsche, pedantische Lehrer auf Wunsch des Vaters eingereden hat. Sie bleiben immer inmitten der beiden Welten verhaftet, in einem ständigen Hin und Her, das von den verschiedenen Sehnsüchten bestimmt ist: „und wenn einer der beiden ein Buch schreibt, wird er seine Gefühlszustände und seine deutschen Vorstellungen mit einer latinischen Kürze formulieren. Er wird das sentimentale Element einer Rasse mit dem offensichtlich sinnlichen der anderen vereinen. Er wird Humor, Phantasie, Herz und den Sinn des Grottesken haben und wird ein unterhaltsames Buch hervorbringen, voll bemerkenswerten Zaubers gerade wegen dieses nicht allgemeinen Schicksals und seines besonderen Ausdrucks.“ Rudolf Schmied konnte stolz darauf sein, daß „der Meister, der uns alles schuf“ wie Gottfried Benn Heinrich Mann nannte, mit solcher Sympathie urteilte. Aber der Grund für die Anfügung der Rezension in Doppelte Heimat am Ende des Novellenbändchens war nicht nur literarischer Art.197 Seit Beginn des Jahres 1905 war Heinrich Mann gefühlsmäßig eng an die Schwester Rudolf Schmieds, Ines, gebunden. Die „südländische Schönheit“, von der nur kurz der Bruder Viktor erzählt, studierte Gesang und verbrachte lange Zeit in Italien. Eines Großteil des Jahres verbrachte sie in Florenz und reiste in Begleitung der südamerikanischen Mutter. Der Vater war deutscher Herkunft. Ines war eine der wichtigsten Begegnungen im Leben Heinrich Manns, der in ihr die Probleme und den Zauber der Wesen „zwischen den Rassen“ projiziert sah.198 A. Kantorowicz fehlte die Kenntnis des Briefwechsels, der erst später im „Nachlaß“ der Akademie von Berlin zusammengestellt wurde, um den deutschen Roman zu interpretieren und allen biographischen Verbindungen Rechnung tragen zu können, die somit die bereits bekannten verdoppelten. Zahlreiche Motive, die auf Eindrücke der Schwester Carla zurückzuführen sind, so zum Beispiel das der ehrgeizigen Schauspielerin, die keine Lösung im Konflikt von „Kunst und Leben“ findet, und die in variierter Form nach 1905 auftauchen, müssen in dieser Perspektive berücksichtigt werden.
Zwischen den Rassen ist bis in die unvorhersehbaren Wendungen hinein ein autobiographisch199 gefärbter Roman: „Ich fand nach Italien und da war mir’s, als hätte ich nach Haus gefunden […] Sobald ich frei war, schon mit zwanzig Jahren, zog ich mich in die Einsamkeit des Reiselebens zurück.“ Es ist nicht nur die Jugenderfahrung Arnolds, die vielen Erlebnisse Heinrichs in den römischen Monaten zu erklären, sondern auch die zahlreichen verteilten Anmerkungen Lolas, die ebenso viele autobiographische Züge trägt: „Was ich jetzt zu schreiben vorhabe, resumiert die ganze Geschichte. Ich übersetze mich darin ins Weibliche (als Künstler hat man beide Geschlechter)“, schreibt Heinrich Mann an Nena (so nannte er Ines Schmied) in bezug auf ein nicht weiter identifiziertes Projekt, aber sicherlich mit einer genauen Vorstellung des neuen Romans. „Nous ne diversifion donc nos personnages qu’en changeant l’âge, le sexe, la situation sociale e toutes les circonstances de la vie de notre moi que la nature a entouré d’une barriére d’organes infrachissable“, ist die Beobachtung Maupassants200 und Flauberts, vom jungen Heinrich Mann assimiliert und geteilt, der sich immer sicherer in „son métier“ bewegt. Die Hinweise auf eine historische und erfahrbare Realität verringern sich zugunsten nachvollziehbarer Ereignisse, deren Modelle nicht mehr im journalistischen oder anekdotischen Leben zu suchen sind sondern im realen; besonders einige genaue Details der von Heinrich Mann in diesen Jahren erlebten Gefühlsbeziehung befinden sich - übersetzt aus den zarten und mit dem vorsichtigen Bedürfnis nach Verständnis geschriebenen Briefen - in der Liebe zwischen Arnold Acton und Lola. „Man fragt sich wirklich, warum, soweit die Ökonomie der Handlung in Frage kommt, Heinrich Mann die Szene unvermittelt von Südamerika nach Bayern und Italien verlegt. Gewiß gibt es eine biographische Erklärung für diesen Schauplatzwechsel, da ja der Roman in mancher Hinsicht die florentinischen Erlebnisse des Verfassers widerspiegelt. Doch ist nicht einzusehen, warum, um, um der Vertrautheit des Milieus willen, die iberische mit der appenninischen Mentalität gleichgesetzt wird. Wohl sind die Italiener wie die Spanier Romanen; doch sind beide Völker temperamentlich grundverschieden. Daher auch die mangelnde Überzeugungskraft der Synthese.“ (Weisstein, a.o.O., S. 81). Die Übertragung ist nicht erfunden: Nena-Lola lebte in Florenz, das bestätigen mehrere Aufzeichnungen in den Notizbüchern, in der gleichen Gegend, in der auch Arnold sein Haus hatte201; die Figur Cesare Augusto Pardi beschäftigte ihn schon seit einiger Zeit ziemlich intensiv. Vielleicht existierte, unter anderem Namen, bereits das Modell, das Nena noch nahe stand. Aber der Typus interessierte den Autor. Die Vorgeschichte des Typs hat in fast jedem Werk, das dem Roman vorausgeht, deutliche Spuren hinterlassen. Und innerhalb des Romans selbst sind verschiedene Stadien der Figuren partielle Kopien der definitiven: „Lola sah etwas düster Schmachtendes, tierisch Leidendes, das sie schrecklicher erschütterte als die Siegerhärte, die sie sich vorgestellt hatte. Langsam von ihm wegesehend: „Ja, das ist er. Er ist ein beschränkter Gewaltmensch, und ich liebe ihn mit Widerwillen: aber er ist der Typus, dem ich unterliegen soll. Die vorigen, in Paris und in Rom, waren vom selben. Dieselben zusammentreffenden Brauen, die harte Marmorfarbe wie hier, woraus jede Wimper, jeder Blutstropfen der Lippen drohend hervorstarrt.““ Es ist der Südamerikaner Da Silva, der dem florentinischen Conte vorausgeht, allerdings noch in einer weniger gefährlichen und fatalen Phase steckend: „gierig wie ein Tier, ganz auf das Ziel zusammengezogen war er dahergelaufen: da hatte sie geglaubt, Da Silva zu sehen. […] Nur stand hier der Typus auf der Höhe des Lebens, war gereift und vollendet: aber nicht gesättigt. Immer noch waren seine Äußerungen auf eine Art, die Lola merkwürdig stark zum Kampf reizte, aus Abenteuerhaftem und Philisterei gemischt.“202 Gradweise, durch die Linse der Gegensätze oder wesensgleicher Temperamente, erwirbt die Persönlichkeit Pardis jene Details203, die am Ende dazu führen, daß er von vielen Florentinern zum Parlamentsabgeordneten gewählt wird: die erotische Kraft, die seine anbetende Stimme und sein sehnsüchtiges Lächen ausströmen. Weder fehlt das goldene Armbändchen, das während des Kartenspiels klimpert noch die typisch latinische Tugend, Bilder nur mit den Händen heraufzubeschwören: „ein paar Gesten, ein Fingerstrich über sein Gesicht, das sich darunter verwandelte - […] auch die anderen sahen die Figur.“ (S. 175, Anmerk. d. Übers.] Die Formeln der rhetorischen Galanterie passen sich dem bereits festgelegten Phänotypen an: „Brauen in einer geraden Linie, Wimpern, die schwarz herausstachen aus dem lebenglühenden Marmorgesicht, und rot und dick darin aufbrechend die Lippen […].“ Das sind noch die Charakteristika des Orfeo Piselli, nicht mehr Proletarier aber zusammengefaßt in jener edlen, erst vor kurzem entstandenen Klasse, in der das Bürgertum mit seinem Ehrgeiz triumphierte. Er bewahrt das ganze Repertoire der Schwächen und genetischen Anlagen seiner Klasse, die im totalen débâcle ein Ende finden, das Heinrich Mann mit Pardi viel früher als sein Bruder Thomas vorausahnt und im rhetorischen, nationalistischen, vitalen und anmaßenden Verhalten dieser Figur wiederfindet, womit er die faschistischen Würdenträger Pratolinis und Moravias mit Neid erfüllt. „Für alles, was süßlich und veraltet war, für jeden Kitsch war er zu haben. Er mußte als Held in älteren Romanen vorkommen. Seine Abenteuer, sein Ehrbegriff, seine Ideen, seine Lebensanschauung und sein Urteil über Menschen rührten von solchem Helden her. Für ihn gab es natürlich nur Gute und Böse, Ehrenmänner und Schufte […] Eine Welt, so einfach in ihrer Wildheit, daß es nicht zu glauben war. Eine Naivität, die manchmal rührte, manchmal empörte: nur Achtung konnte sie nicht eingeben.“204
Die fatale Spitzfindigkeit der Ehrfurcht ist Teil des topos: eine verwirrende Anzahl liebenswürdiger Eigenschaften, übertriebener Tugenden, die sich alle in einer einzigen zerstörerischen, dem nicht „Achtung gebieten“ können, aufheben lassen. Eine Achtung, die in der italienischen Figur der fatalen Fähigkeit, Liebe zu erwecken, geometrisch entgegengesetzt ist. Das Urteil des Deutschen stößt noch gegen diesen essentiellen Winkel des unauslöschlichen Gemeinplatzes: es ist die Achtung, die keine Gabe eines unvollständigen Helden sein kann. „Er war etwas Ganzes, und dies Ganze war vielleicht nicht weit von einem Helden.“ [S. 239, Anmerk. d. Übers.] Auf die gleiche Weise wird der lächerliche Anwalt der Kleinen Stadt etwas wie die „Verkürzung eines großen Mannes“ sein, erklärt Heinrich Mann: diese Vertreter, die die kleine Stadt oder Florenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts wählt, haben den gleichen gefährlichen Erfolg des Diderich Heßling, des Untertan.
Es ist die Doppelmoral der italienischen Gesellschaft, die Heinrich Mann im Paris verurteilt, der zwischen der Anmut der Mutter und der Tochter hinundher schwankt. Er hat jeglichen versöhnlichen Opportunismus verloren, der gewisse nebensächliche Helden Stendhals verachtenswert macht, darüberhinaus harmlos und nur in einer Welt weiblicher Intrigen fähig. Er hat die dafür soziale Kraft erworben, die ihm aus der Verkörperung der Qualitäten zukommt, die die Zeit erfordert: Frauenheld, Spieler, Verschwender, Leidenschaftlichkeit, aber aufrichtiger Diener der Familienprinzipien und äußerlicher Moral, verläßlicher Verteidiger seiner Liebe, wenn sie öffentlich angegriffen wird, Reaktionär und Ausbeuter der Bauern seiner Besitzungen im römischen Hinterland; er sammelt Säbel, ausgestopfte Vögel und Schuhe, besoldet acht Fechter, um seine letzte Geliebte, eine Tänzerin-Odaliske, zu beschützen, heiratet aber eine Frau, die nicht seiner Welt entstammt, weil er sich damit amüsiert, „sie einem Deutschen abzunehmen“ und weil die Laune stärker ist als die Gewohnheit. Der Übermensch der Statuen der Condottieri hat sich in ein Symbol der triumphierenden Animalität verwandelt: „der Tiger, der den Bacchus trägt“ des Baccanale von Tizian.205
Pardi hat in Afrika gekämpft und ist ein Veteran von Adua; er erzählt, daß er sich wie ein Löwe geschlagen habe; später, als Gefangener des Negus, sei er der Einzige gewesen, der sich nie gebeugt habe, der sich standhaft den Grausamkeiten widersetzt habe und nur aufgrund des Drängens der Offiziere, die mit ihm inhaftiert waren, geflohen sei […] „Buffone“206 dachte sie, Lola, in einem Moment der Klarheit über ihn, „der Mann mit den sicheren, fraglosen Instinkten, der Mann alten Stils […] und der äußerste Vertreter der Rasse“ [S. 176, Anmerk. d. Übers.]; für den nordischen Arnold ein geschmackloser Antagonist, dessen „Liebenswürdigkeit breitete sich aus wie ein parfümierter Fächer“ [S. 179, Anmerk. d. Übers.], der unter den Frauen eine gute Schneiderin mit großer Leidenschaft vorzieht; er eröffnet den Weg zur Erschaffung des Untertan. Auch der Conte Cesare Augusto repräsentiert einen solchen umbertinischer Untertan, der in sich die in teutonischen Stil übersetzten Charaktereigenschaften vereinigt, die die Leser des „Simplicissimus“ zehn Jahre später irritieren werden.
„Die romanischen Demokratien haben ihre Wurzeln in der erotischen Erregbarkeit. Jeder einzelne, weil immer eine Frau damit zu tun hat und sich dazwischendrängt, ist undisziplinierbar: er ist Künstler, weil das Begehren der Frau seiner Phantasie Kraft verleiht; ehrgeizig, kühn und geschickt im Wettkampf um die Frau und weil er sich ihren Blicken immer ausgesetzt fühlt, ist er immer um seine männliche Ehre besorgt. Auch der König ist nur ein Mensch: ein Rivale“ [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.] schreibt Heinrich Mann in einem Artikel (in „Zukunft“, Mai 1906) über den „Fall Murri“ im gleichen Jahr, in dem er den Roman Zwischen den Rassen beendet; über die Charakteristika der Italiener fährt er fort: „vom Geschlecht wach gehalten, jederzeit im Bewußtsein des eigenen Selbst und unfähig, sich etwas größerem zu widmen, sind sie äußerst scharfsinnig. Das mittelmäßige metaphysiche Bedürfnis der Rassen von schlummernden Sexualität ist ihnen unbekannt. In ihnen erwacht der metaphysische Instinkt nur als Reaktion auf physische und spirituelle Sittenlosigkeit, übertrieben und verurteilt zu einem raschen Sturz. Zwischen Heiligkeit und Ateismus (Formen derselben Kraft der Empfindung des Selbst) pendelt die Seele dieser Rasse.“ [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.]
Nicht nur aufgrund seiner Erfahrungen und andauernden Beobachtungen, deren künstlerische und literarische Neugierde sich zugunsten des politisch-sozialen Bisses abschwächten, hatte Heinrich Mann die kritische Distanz gewonnen. Der „verhinderte Italiener“, wie ihn Rene Schickele genannt hatte, ist sensibler geworden für das Ambiente und wird noch italienischer in dem er die Schwächen der Italiener, zwischen denen er lebt, entdeckt. Um diesen Vorgang besser vestehen zu können liest er keine italienischen Bücher mehr, und verzichtet auf die französischen Reiseführer beim Besuch einer römischen Kirche. Er kauft und liest Bücher, in denen die heiklen sozialen Probleme diskutiert werden. Darum ist auch sein Bild des Paris, ein dekadenter „Duca Minimo“, der in der Hierarchie noch nicht gestiegen ist und viel von den Posen der vitalistischen „coqs“ übernommen hat, nicht nur eine literarische Erfindung, sondern ein zusammengesetztes Beispiel. L’Europa giovane (Das junge Europa) von Guglielmo Ferrero207 ist noch immer in seiner Bibliothek erhalten: das Kapitel L’amore nella civiltà latina e germanica (Die Liebe in der romanischen und germanischen Kultur) ist die theoretische Basis für die Figurenzeichnung des Pardi sowohl als auch - in gewissen Linien des Vergleichs - für Arnold. Aber es diente auch zur Interpretation der höheren bürgerlichen Gesellschaft der Murri. Die Ideen Arnolds und die Anmerkungen in den Artikeln der „Zukunft“ über die vom Geschlecht dominierten Italiener, die Blüte der „ewigen Jünglinge“, die Eifersucht, der Aufwand physischer Kräfte, die verdeckte und andauernde Polygamie, das Bild der Italiener von den Deutschen in diesen Jahren, „von dem verdünnten Heiligen Luigi Gonzaga“, sind allesamt von diesem anthologischen Europa gestützt, zwischen Soziologie und Journalismus, wie sie Ferrero darbietet. Allerdings ist Arnold auch in ein funktional-autobiographisches Schema álà Rousseau gebunden. Aus Rousseau208 hatte Heinrich Mann, zwischen den Notizen zum Roman, große Passagen abgeschrieben, um in literarisch sicherer Weise seinen Protagonisten zu konstruieren, den er indirekt in einigen Dialogen, den französischen Philosophen zitieren läßt. Der nordische, verdünnte Heilige Ludwig hatte das Motto Rousseaus als Hintergrund: „Je t’aime trop pour vouloir te posseder.“
Der Fall Murri hatte der italienischen Gesellschaft das Problem der Unauflöslichkeit der Ehe und ihrer Schwierigkeiten wieder vor Augen geführt: das ist eines der Themen, das in Zwischen den Rassen eine zentrale Stelle einnimmt, und auf italienische Art gelöst wird: da die Scheidung nicht möglich ist, die Lola von dem florentinischen Conte befreien könnte, ist das Duell - damit läßt sich der Tod vorhersehen - der letzte Liebesbeweis Arnolds und die Lösung des Problems. Der größte Teil der Dialoge zwischen den Protagonisten und den Nebenfiguren, die Schwätzer und gierigen Badenden, die sich am Strand von Viareggio immer auf der Suche nach Amerikanerinnen befinden, lassen sich mithilfe eines anderen italienischen Werkes rekonstruieren, eines merkwürdigen, juristisch-theoretischen Kompendiums: La questione del divorzio (Das Problem der Scheidung) des Anwalts Carlo Giachetti209.
Mann hat viele Details des metaphorischen Repertoires und der Gemeinplätze, der Plädoyers der Verteidigung oder des Staatsanwaltes in den Fällen von Ehebruch oder „Verbrechen aus Ehre“ benutzt und verschlüsselt. Exemplarisch gesammelt jedoch sind sie auf den Seiten Giachettis zu finden, wandern jedoch zwischen Ironie und Kritik pendelnd in den Roman und die zum Fall Murri geschriebenen Artikel über. Er mußte nur noch der soweit schon italienischen Figur Cesare Augusto Pardis (die wirkliche soziale Form, Erfindung der romanischen Rasse, ist der Caesarismus, hatte Heinrich Mann auf einer Seite von L’Europa giovane unterstrichen) die politische Komponente hinzufügen, das Motiv Pardis, sich bei den Wahlen als Kandidat aufstellen zu lassen: kämpfen, damit das eheliche Bund gestärkt werde, anstatt von den Scheidungswünschen der Ehefrau kompromitiert zu werden, vom heimtückischen Frauenheld, vom Faun mit dem „Tigergesicht“.210
Die Elogie der Leidenschaft, die keine Strafe und Qual fürchtet, ist vom Erzähler und Kritiker Mann nicht mit der gleichen Emphase aufgenommen worden, der in einer Bemerkung am Rande des Buches von Giachetti, später in den Roman transformiert aufgenommen, zugibt: „Die Leidenschaft, trotz der Scheidung, brächte das gleiche an Verbrechen hervor. Die Frau wird die Freiheit nicht ertragen, sie würde vor der Ehe fliehen: Knechtschaft und als Regulativ der Ehebruch, das ist für sie wohl das richtige.“ Es ist die Moral, die die florentinische Gesellschaft reguliert und in der der politische Ruf Pardis seine Wurzeln schlägt, in der das an den Fall Murri gebundene Verbrechen monstruös mit allen glaubhaften Deformationen ausgeschmückt wird. In diesem von den Polemiken über Unabhängigkeit oder Freiheit der Frauen und die erotische Kraft der Männer aufgeheizte Klima, sucht Heinrich Mann nicht nur die Motive für die literarische Transformation oder die mondän-skandalösen Details, um sie an einer seiner Figuren auszuprobieren, sondern er engagiert sich, wie Balzac an die Macht der Presse glaubend, um die Protagonisten dieses berühmten Dramas zu verteidigen, das von 1902 bis 1906 den Journalismus und die öffentliche italienische Meinung elektrisiert hat: Linda und Tullio Murri. In einem kurzen Artikel für die „Neue Gesellschaft“ präsentiert er den jungen Tullio als den Verteidiger der Armen, der Ausgenutzten, „Das soziale Gewissen ist noch schüchtern in Italien; die Arbeiter, die eigene Kraft kaum erst kennen lernen, sind erstaunt, wenn ein Reicher, ein Herr sie auszubeuten zögert undn auf ihre Seite tritt.“
Heinrich Mann ist auf der Seite derjenigen, die Tullio Murri den Mut des Tyrannenmordes zugesteht. So zumindest stellt er es in seinen Artikeln dar. Und das Interesse eines Schriftstellers in einer Epoche, die noch ihre Heldinnen der „ruchlosen Schönheit“ wählt, konnte den Ereignissen und der Persönlichkeit Lindas gegenüber nicht gleichgültig bleiben, die er vor dem Haß der Massen verteidigt. „Es sind die Frauen, die zuerst denjenigen verteidigen, der inflagranti ertappt wurde“, schreibt Heinrich Mann: „Der Ehebruch, diese nationale Institution, soll ihnen nicht genommen werden; gerade ihrer Opposition ist es zu verdanken, daß das Gesetzesvorhaben zur Scheidung gescheitert ist; aber der Ehebruch muß in den normalen Formen durchgeführt werden, mit viel Rücksicht auf den Ehemann und die Gesellschaft. Den Ehemann nicht neben dem Liebhaber tolerieren, sich von ihm physisch trennen, die innere Reinheit zu wünschen, das ist Rebellion und wird bestraft.“ Graf Francesco Bonmartini aus Bologna, das Opfer, ist im Prozeß Murri allerdings der letzte Nachkomme, in dem die Tugenden der Vorfahren degeneriert sind: „Den Bauern zu befehlen, die ruhig gelb vor Fieber oder weil sie schlechte Polenta gegessen haben sein können; verliere sie während der Ernte nicht aus den Augen, aber für den Rest des Jahres bleib ruhig im Sessel mit untätigen Händen sitzen; den Herrn machen, die Dienerschaft befehlen, die Wäscherin, die ihre Arbeit absolut für einige Centisimi weniger machen muß […] die Ehefrau, die kein Buch mehr lesen darf - allen befehlen, unbedingt auf dumme Weise ein Prahlhans sein, im Kopf nichts anderes haben als ein Gebet oder einen Titel […]“211 Damit sind fast wörtlich die häuslichen Tugenden des Conte Augusto Pardi aufgeführt: „Er verspielte Tausende, und dann machte er ihr eine Auftritt, weil sie die Wäscherin um einige Pfennige zu teuer entlohnt hatte. Seine Härte gegen die Dienstboten glich ganz dem Hochmut eines verwöhnten Kindes. […] Er behauptete die strenge Zucht. […] „Das ist eine andere Gattung Mensch [dachte Lola]: sie verstehen nur die volle Ausnutzung der Gewalt; sobald wir nachlassen, sind wir verloren. Wenn wir die Herren nicht mehr zeigen, sind wir’s nicht mehr.““212
Die Figur Francesco Bonmartinis, in die verschiedenen Beleuchtungen der Berichte und täglichen Kommentaren projiziert, hat sicherlich Heinrich Mann dazu gedient, einige soziale Seiten der Figur Pardis festzuhalten, besonders in dem er der Sympathiewelle folgte, die das italienische Bürgertum dem „armen ermordeten Conte“ entgegen brachte und aus der sentimentalen Richtung und den Rechtfertigungen des Verhaltens heraus den gewählten Typus rekonstruierte, der das Ergebnis vieler nationaler Schwächen und dem gemeinsamen Charakter war. Viele der von der Presse oder durch die Memorie213 Linda Murris verbreiteten Einzelheiten, sind auf den Seiten verarbeitet, die die Leiden Lolas vor dem Wiederauftauchen Arnolds auf der Bühne erzählen: es ist unnötig festzuhalten, wenn man an die schüchternen Anmerkungen des Soziologen Heinrich Mann in seinen frühen, in Italien zwischen 1896 und ‘97 entstandenen Novellen denkt, daß die Details keine „privaten“ Charakter haben, sondern das Verhalten eines Bonmartini-Pardi gegenüber den Niediggestellten betreffen: die Episode des ohne jegliche Rücksicht verlangten Geldes von den Bauern der römischen Campagna ist im Roman auch diejenige, die die ersten Risse der Figurenzeichnung anzeigt, die bis dahin in der Formel der sinnlichen Extrovertiertheit des Romanen verschlossen waren. Die Episode der ungerechtfertigten Entlassung des Zimmermädchens - ebenfalls gemein mit den Ereignissen bei den Murri - ergibt sich aus der Gleichgültigkeit der sozialen Klasse und fügt eine weiteres Einzelheit an die Anleihen bei der Realität hinzu. Daher entzieht sich der Conte Pardi auch der Summe aller Analogien und bleibt ein überaus Mannsches Beispiel, so daß man auf Motive bereits bekannter Variationen zurückgreifen muß: „Als sie ihn zum erstenmal betrunkten sah, sprang eine Erinnerung in ihr auf: der Leierkastenmann […]“, wie der Drehorgelmann-Settembrini des Zauberbergs, ist es das minderwertige Bild des italienischen Mannes, das herausspringt, sobald die Brüder Mann irritiert sind und zu ihrer hanseatischen Reserviertheit zurückkehren, die kaum gestört und sofort geschlossen wird mit der Verachtung für den Leierkastenmann.
„Ich wußte, er sei brutal, ein Lump und der Gerechtigkeit unfähig. Verklärt, beinahe durchgeistigt ward das alles durch eine Art Heldentum: durch eine großartige Eitelkeit und Bereitschaft, für jedes Nichts mit ganzer Persönlichkeit einzustehen. Sein Heldentum war eins mit seinem Temperament; […] der hochmütige, dumme Rassemensch, ohne Verständnis für irgend etwas, das nicht sein kleines, überlebtes Herrenrecht ist.“214
Was dem Apoll mit der blumigen Weste noch fehlte, der in den Romankonflikten mit nordischen und angelsächsischen Heldinnen stets triumphierte, war bis jetzt sicherlich der Wille zum bürgerlichen und politischen „Heldentum“. Daraus folgte die Überlegung des Lesers des „Rinnovamento“, der die Degeneration des d’annunzianischen Mythos verfolgte, sich auf den Weg zu machte, vom aristokratischen Verständnis des Ideals der Renaissance mithilfe des Anwalts der Kleinen Stadt, den Fortschritt zu verteidigen. Jahrzehnte bevor Mario und der Zauberer die italienische Zensur verwirrte, in einem Liebesroman, der ebenso als Fusion aller Erfolgselemente, die der europäische Roman entdeckt hatte, erscheinen konnte - von Stendhal bis Bourget, von Balzac bis Henry James - ist das italienische Ambiente, das dem Abenteuer des Faschismus vorausgeht, mit denselben grottesken und gesicherten Bildern festgehalten, das, die Nation wechselnd, die Galerien álà Grosz bilden wird, in dem sich der Untertan bewegt. Die italienische Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts am Strand von Viareggio, mußte auf die „atmosphärisch unangenehme“ Verkleidung des Torre di Venere in der Novelle Thomas Manns nicht lange warten. Viareggio von 1905 Heinrichs und Forte dei Marmi 1926 von Thomas sind beide in die reglose Hitze getaucht, die die Nordeuropäer erschreckt. Das Publikum der Badegäste der belle époque steht allerdings in einem grausameren und realeren Licht als die der dreißiger Jahre: „Es war Mittag, und man flüchtete auf die Hotelveranda, an den Frühstückstisch. Sah man hinaus, ward das Auge verbrannt von Sand und See; von dem frechen Wirrwarr der roten, grünen, gelben Karren vor dem wütenden Meerblau; von den weißen Flammen der Zelte, der Anzüge. Die Gäste traten aufatmend in den Schatten, oder sie schlichen an seiner Grenze vorbei, die Häuserreihen hin, in deren grausame Helle die Balkone scharf, dünn und schwarz hineinschnitten. Ermattete, schöne Frauen, die sich rückwärts bogen, willenlos und doch in einer Linie, als hätten sie Ballett tanzen gelernt, riefen mit sehr häßlicher Stimme einen Namen, streckten, ohne umzublicken, einen Arm nach hinten - und eins der Kinder hängte sich daran, die nie ganz Kinder waren, die schon kokett waren, keine Ungeschicklichkeiten begingen und deren schmelzende Gesichter manchmal, wie von Strapazen, die erst noch auszuhalten waren, unter den Augen bräunlich dunkelten. Matronen flanierten, mit erfahrenem Lächeln, Töchter, deren weißes Gesicht wie ein schmales Stück aus dem der Mutter aussah. Näherten sie sich, lagen beide, das der Mutter und das der Tochter, unter einem Teig von Schminke.215 Die alternden Männer bekamen Säcke unter die gewölbten Augen; den sehr alten entleerte sich das Gesicht von Blut; - aber sie blieben schlank, behielten den aufrechten, raschen Gang des Jünglings und trugen, wie er, ihre silbernen und goldenen Stockgriffe über den Arm gehängt, spazieren. Die aristokratische Gruppe auffallender, lauter Damen und verlebter Herren in großgemusterten Anzügen streifte an eine Bande von Lastträgern und Schiffern; und beide sprachen mit schleierlosen Stimmen und Gebärden von Liebe und von Geld.“
Und dann die Realität dieser „schleierlosen“ Stimmen, diese Summe der Düfte und Wünsche , die Eleganz und der Ehrgeiz, ist die gefällige und stille Korruption der Falschspieler, der Damen und der selbstgefälligen Ehemänner: „Gastgeschenke. Für mehr als eine Familie waren Gastgeschenke der sicherste Teil ihres Einkommens; die Unehre der Frauen ergänzte das Glück im Spiel. Jeder gewährte allen Nachsicht. Kein Mensch fühlte hier die Nötigung, vor sich selbst ohne Flecken zu sein. Die äußere Geltung, das Übereinkommen war alles. Sie machten, bei ihrer animalischen Tüchtigkeit, den Eindruck moralisch unendlich Ermatteter. Die Spitzbüberei war bei diesen Enkeln großer Bankiers blutarm und kleinlich. In ihrem Geist schienen die Federn verbraucht; er wiegte sich, hart und platt, wie die Chaise einer zu alten Staatskutsche, auf den verjährten Ideen aus ihrer großen Zeit. Man glaubte ihnen nicht, daß sie anderswo noch dachten als in Gesellschaft, um „Figur zu machen“, des Pompes wegen. Auch geistig waren sie arme Dandys, die zu Hause nicht aßen. Nichts erneuerte sich hier; kein Vermögen, kein Ideenvorrat. Und im Wegsehen von allem Zeitgemäßen eignete ihnen dieselbe klägliche Einmütigkeit wie im Vertuschen ihrer Schmutzereien. Eins nur war unverzeihlich: anders zu sein.“ [Zwischen den Rassen, S. 324-325, Anmerk. d. Übers.]
Das Unwohlsein des später stattfindenden Aufenthaltes Thomas’ in Forte dei Marmi erreicht nie, auch nicht in seiner stärksten Allegorie, die kritische Grausamkeit dieser Seiten, die in diesen Jahren einer fotographischen Abbildung gleichkamen, und nur von wenigen gelesen wurden, und sicherlich nicht zum Genuß. In dieser Gesellschaft fühlt sich der Conte Pardi wohl und wird zum gewählten Vertreter. Pardi geht dem Magier voraus, dem Hypnotiseur Cipolla Thomas’, mit der gesamten politischen Bedeutung der erahnten Persönlichkeit, mit der damals höchsten Kraft der Intelligenz, in einem Klima, in dem die Irritation nicht aus der Sensibilität gegenüber der Realität entstehen konnte, sondern ausschließlich von der noch vagen Vorahnung fast unvorhersehbarer Entwicklungen. Heinrich Mann schrieb an A. Kantorowicz über den Untertan: „Wenn dieser Roman die Vorgeschichte des Nazis enthält, zeigt ein anderer, Zwischen den Rassen, schon den Faschisten (ohne daß ich es damals gewußt hätte, ich empfand es nur, wenn es sich mir darstellte und wie ich es sah).“ [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.] Er war bereits der „Seher und Bilder“, dem später der Bruder Thomas die Anerkennung entgegen bringen wird.216 Im Zeitalter, etwa vierzig Jahre später, interpretiert Heinrich Mann rückblickend: „Den italienischen Faschisten abzustreiten hätte ich kein Recht; ich habe ihn entdeckt und dargestellt, als er sich selbst noch lange nicht begriff, viel weniger die politische Macht wollte. Sein Faschismus ist nicht Weltanschauung, nicht ausgebrütet aus fremden Eiern. Es ist die einfache Herrschsucht des Blutes, ist erotischer Herkunft; - erotisch bleiben sie dort, was immer sie taten. Dasselbe herrschsüchtige Blut arbeitet roh im Faschisten und in den Meistern der schönen Dinge sublim.“217 „Heldentum“, Erotismus und künstlerischer Sinn, daß heißt sichtbare Kultur weil absolut national, vereint mit Kitsch: das sind die verdächtigten „verdünnten Renaissance-Menschen“, denen Arnold Acton während seines zweiten Aufenthaltes in Florenz mißtraut.
„Geblüht haben sie ein für alle Mal zur Zeit der Renaissance, als es galt, jung zu sein, für Freiheit, Schönheit und Liebe zu schwärmen. Darüber kamen sie nie hinaus; Nie konnten sie sich moralisch spalten und vertiefen.Von unserer neuen Kultur geht nur die Technik sie an, nicht das Sittliche. Skepsis erlernt sich nicht unter dem Hochdruck des Geschlechts. Sie macht Leidenschaft hart; und macht sie hochherzig und romantisch. Voll jugendlicher Widersprüche sind sie, die uns rühren. Sie, denen auf ein Leben so wenig ankommt, haben die Todesstrafe abgeschafft.“218
Nietzsche und Wedekind verwischen sich in Bildern, die sich einen dauerhaften Eindruck bewahrt haben; der Mythos der „freien schönen, genießenden Persönlichkeit“, der in der Herzogin von Assy triumphierte, wird hier bereits aufgebrochen in grotesken Umstellungen, die die Möglichkeit einer Redimensionierung aufzeigen und erwirbt die Proportionen einer historischen Distanz. Für dieses Sich-aufbäumen der Intuition, das die autobiographische „Klärung“ begleitet und die allure des Romans von den zu vielen Verlegenheiten der für die Konstruktion des Romans notwendigen, gewollten, Anleihen des Kunstwerk befreit, ist Zwischen den Rassen, mehr noch als Die kleine Stadt, wichtig für die innere Geschichte des Schriftstellers Heinrich Mann, der immer ängstlich besorgt, sich selbst im Kostüm der Renaissance sucht. In der Skizze hatte er zu den Figuren notiert: „Pardi: Er treibt den National-Typus auf die Spitze mit volkstümlicher Energie: ungebrochen. Bankerott des Renaissancemenschen. Ende im Kitsch. Unfähigkeit, neu zu beginnen. Was einst gesund war, ist jetzt künstlich süsslich.“ Vom Pan zum Tenor, am Leierkastenmann und dem florentinischen Conte vorbei, ist der große Dichter und unbesiegbare Prinz im Einklang mit der Camorra: und dennoch sind es keine vom Neid und nationaler Kritik entwickelte Figuren, sondern präzise Varianten des antiken, latinischen Antagonisten. Die Absage an die Verkleidungen der Renaissance - denen noch nicht einmal der Bruder Thomas - „Renaissance und nicht Gotik“ - in der ersten Zeit widerstehen konnte219 - entspricht der Modernität, ständig mit sich selbst verglichen und auf die Modelle angewandt, die die Krise der letzten Formen immer deutlicher anzeigen. Die Figuren des Romans werden somit von ihrer funktionalen Bedeutung befreit, um teilweise einen theoretischen Wert anzunehmen, der nicht nur auf die Ereignisse einer mikroskopischen Psychologie anwendbar ist, sondern auf ein gesamtes soziales Leben, das niemandem mehr die Freiheit läßt, sich auf die Krankheiten des Willens zurückzuziehen. Die Brechungen sind vielfältig und in einigen ist eine Antizipation der letzten symbolischen Entscheidungen des Autors enthalten; andere sind Beobachtungen der Realität, die noch nicht in autonome Formen übersetzt worden sind; in wiederum anderen stellt man die handwerkliche Schwierigkeit fest, sie von den Klischees zu befreien, um aus ihnen Instrumente oder Attribute zu machen, die für Situationen von fast paradigmatischem Wert eingesetzt werden können.
Die italienischen Figuren sind, mit Ausnahme einiger seltener Fälle, Figuren der Bequemlichkeit, die das Ambiente glaubwürdig machen. Aber im umgekehrte Falle ist das Ambiente an sich zuverlässig in einer realen Dimension und in dem Maß, in dem die Figuren aus der Verallgemeinerung heraustreten, um Zeichen einer Welt zu werden, zu deren Repräsentanz sie verpflichtet sind. Das Florenz Cesare Augusto Pardis ist in kurzen Anmerkungen das Florenz der „Allgemeinplätze“, zwischen den Cascine, Piazzale Michelangelo und einem berühmten Palast, verliert es, im Roman Heinrich Manns, den eleganten und feinsinnigen Zauber, den es in den angelsächsischen Romanen haben konnte, den unwiederholbaren Beschwörern der interieurs, der italienischen décors unerreichbarer Harmonie, um die gleichgültige Düsterkeit einiger Zimmer Moravias vorwegzunehmen: „durch das wackelnde Gerümpel über den Flur. Ein armer Salon, die Wände volkstümlich bemalt, wie in einer Kneipe; und nichts darin als ein Damenschreibtisch, eingelegt, bedeckt mit Gegenständen aus Silber, und auf einem Samtkissen darunter ein Mops […].“ [Zwischen den Rassen, S. 326, Anmerk. d. Übers.] Darin wohnt eine Contessa, das Racheopfer des betrogenen Ehemanns, der nicht über den begangenen, einen von vielen, Verrat wütend ist, sondern weil die Situation plötzlich einem größeren Publikum bekannt geworden ist und er jetzt öffentlich wissen muß, was ihm sonst im Privaten nicht unbekannt geblieben war. Einen „italienische Geschichte“ im Florenz der ersten Streiks und der Volksunruhen, mit einem philodeutschen Priester und Musikliebhaber220 aus Prato, der wünschen läßt, weitere Figuren zu entdecken, die bereit sind, sich in den Prunk der Tage einzureihen, die dem Ende einer Epoche vorangehen.
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