Lea Ritter-Santini: L’italiano Heinrich Mann, Bologna 1965 Übersetzt von Sabine Russ Einleitung


Kapitel Das Mosaik der „Göttinnen“



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2. Kapitel

Das Mosaik der „Göttinnen“
I.

Für die erste Ausgabe der 3 Bände des Romans Die Göttinnen verwendete H.Mann als Frontespiz des ersten Bandes zwei Verse von Ada Negri, aus Gewohnheit ohne jeden weiteren Hinweis als den Namen. In den folgenden Ausgaben fehlen die Verse: „Che son fatti dei gorghi d’ogni abisso / degli astri d’ogni ciel“. Sie finden sich jedoch im übersetzten Text eingebaut: „Es summten ihr eigene, ehemals gesprochene Worte im Ohr: Gemacht aus den Schlunden jedes Abgrundes, aus den Sternen jedes Himmels“. Sie sind einem symbolistischen Gedicht, und keines der besten, entnommen, „Eppure ti tradirò...“ aus der Sammlung Tempeste65 „Ein Dämon mit Augen voll Flammen“, das Bild des Genius, der kreativen Leidenschaft, „der entfachende Hauch“, verdeutlicht und legitimiert noch einmal die Theorie des originellen Dichters, die mysteriöse Anrufung einer unwiderstehlichen Inspiration, unterstützt allein von der Leidenschaft und der Phantasie. Die genau entgegengesetzte Vorstellung H.Ms findet sich in vielen Teilen seiner Werke, trotz der großzügigen Hochmut der Zeichnung.

Es ist sicher, daß die Göttinnen als der erste „italienische“ Roman H.Ms anzusehen ist, weil er die Qualität und die Wichtigkeit des Adjektivs bestimmt. Seine Göttinnen repräsentieren ein italienisches Repertoire an komplizierten Chiffren, die sich aber in dem Maße interpretieren lassen, in dem sich der Geheimcode entschlüsseln läßt, der seinen Schlüssel erst nach mehreren Lektüren bietet. Der Roman, den man dem Publikum in 3 Teilen präsentieren mußte - enthusiastische Bewunderung oder verwunderte Zurückweisung - wird für die ganze literarische Karriere H.Ms entscheidend sein. Er hat damit die deutsche Kritik überrascht, die sich sehr oft damit zufriedengibt, dem Kaleidoskop der Figuren und der Ereignisse im deutlich italienischen Ambiente die anziehende und verdächtige Definition „romanisch“ aufzusetzen.

Von welcher Art dieses „romanisch“ sei, das für Jahrzehnte dis beiden Brüder bis zum berühmten endgültigen Bruch und darüber hinaus getrennt hätte, wird niemals genau bezeichnet, um die assoziative Kraft des Adjektivs nicht zu zerstören: der deutsche Geschmack des Jugendstils war bereits an die stereotypen folklorischen Renaissance-Motive gewöhnt. H.Mann, der nicht ganz frei von diesem von der Mode diktierten Verhalten war, kritisiert die kleinlichen Konsequenzen, zuerst darin die Resultate oder gefährlichen Stellen im Stil der Künstler zu suchen.66



Im Spiel von Angebot und Nachfrage, bestimmt von der Renaissance-Verschwörung, war das italienische Ambiente - darüberhinaus auch noch in prunkvolle und fatale Rahmen eingearbeitet - großflächig eingeebnet und in verschiedene Bausteine übersetzt, die jedoch, wenigsten nicht im gleichen Maße und gleicher Intensität - „die untere Seele“ der deutschen Literatur erreichte.

Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy wurde 1903 in München veröffentlicht.67 Die Göttinnen sind Diana, Minerva und Venus und die drei Teile, in die das Buch unterteilt ist (nach der ersten Ausgabe sind sie in einer gemeinsamen Ausgabe erschienen) entsprechen den Stadien, die die unglaubliche und unimitierbare Protagonistin, die Herzogin von Assy, durchlaufen muß. Sie ist die letzte Nachfahrin einer uralten normannischen Familie von Condottieri und starken Kriegern. Ihr berühmter Ahnherr, Samson von Assy, ist aus den verfälschten Taten Bartolomeo Colleonis rekonstruiert worden; und schließlich die beschriebenen heroischen Denkmäler, dem edlen und gierigen „Condottiere“ errichtet, beziehen sich auf Besonderheiten der berühmten Monumente des Colleoni. Als sein später, literarische Nachkomme, wird Diana, in Wahrheit eine keusche, überhebliche und launische Göttin, die für das Ideal der Freiheit entbrennt, eine Revolution in ihrem Land finanzieren, das ein merkwürdiges Dalmatien unter einer bizarren Regierung des Hauses Coburg ist; sie verwandelt sich später in Minerva, oder in die personifizierte Liebe zur Kunst, für die absolute Schönheit, für das Sublime, für ein preziöses und sehr reiches Venedig, bis sie schließlich zur Venus wird, die Göttin der Liebe, ohne Rücksicht und ohne Schatten in einer panischen Landschaft wie Süditalien. Wer zu den italienischen Komponenten des Romans vordringen will, kann ihn von verschiedenen Seiten angehen, alle fruchtbar und von nicht einfachem Weg. Die weibliche Triade dieser so gegensätzlichen und untereinander komplementären Göttinnen (es läßt bereits den Meister Stendhal ahnen, der sie in seiner Sanseverina vereinigt hatte) präsentiert zu viele Konkordanzen und Inspirationen unterschiedlichster Art, als daß sich daraus die Ableitung oder literarische Anlehnungen schließen ließen. Für eine sichere Unterteilung der Struktur und für viele Bilder eines korrekten Hedonismus dekadenten Stempels, scheint sich die Vorstellung zwischen Foscolo und Canova zu bewegen. Die kritischen Ausgaben der Grazien Foscolos, herausgegeben von G. Chiarini, sind von 1882, 1890 und 1904: und H.M. hat vielleicht die beiden ersten gekannt. Die Materialsuche und die Sammlung von Notizen und Informationen für die Göttinnen beginnt 1898. Venus, Vesta und Pallas, die Göttinnen der Schönheit, den Geist und der Kunst, sind der kompositorischen Absicht der Göttinnen H.Manns sicherlich nicht fremd. Besonders, wenn man mit Russo, mehr für Die Grazien als für die Sepolcri das Prinzip der politischen Interpretation des Lebens akzeptiert.

Daß H.M. während der Niederschrift seines Romans Foscolo kannte und ihn präsent hatte, sei es aus mittelbarer Erinnerung oder Reminiszenen, bestätigt die Korrespondenz mit Christl von Hartungen, dem Sohn des Wiener Arztes, der in Riva am Gardassee die Villa Miralago, das Sanatorium in dem sich H.Mann zu sich langen Zeit der Erholung aufhielt, besaß. Christl von Hartungen ist eine wichtige und geduldige Quelle von Informationen, die die österreichisch-italienische Welt betreffen, die auch die der Göttinnen ist. In einem Antwortschreiben an H.Mann, der ihn um ein Zitat aus Sepolcri gebeten hatte, parafrasiert Christl von Hartungen, ein bißchen nach gehörtem, einige Teile aus dem Poem.68 Die Parafrase findet sich später, übersetzt und perfekt passend in einem Monolog der Herzogin wieder: „Nur wer kein Erbe an Liebe hinterläßt, den freut nicht seine Urne!“, das genau dem „Sol chi non lascia eredita d’affetti“ Foscolos entspricht, von einem anonymen „so ruft der Dichter“ begleitet. Man glaubt unnötigerweise an eine offensichtliche Spur der Wiederverwendung, die die Quelle anzeige: die Häkchen verbinden im Zusammenhang fast immer die großen Bruchstücke mit den narrativen Stützen, auch wenn sie manchmal die Arbeit des Transportes und des Einklemmens erraten lassen.69

H. Mann hatte in diesen italienischen Jahren eine Vorliebe für einen bestimmte Art der Poesie oder Kunst des neoklassischen Typs: zwischen den Fetzen und den Notizen dieser Epoche finden sich einige abgeschriebene Verse Cesare Aricis aus der Colitvazione degli Ulivi [Kultivierung der Olivenbäume], die genaustens verwendet wird, dabei allerdings die erste Assoziation mit d’Annunzios „bleichen Olivenbäumen“ zerstört, in der die Beschreibung einer Landschaft der römischen Campagna auftauchen. D’Annunzio ist in der Tat der bequeme Name, der zusammen mit Nietzsche unter den Modellen der italienischen Periode am häufigsten auftaucht. Er wird von der Kritik völlig passiv wiederholt, die ihn, ohne sich die Mühe der Verifikation zu machen, akzeptiert: aber es ist keine einfache und friedliche Beziehung, die sich oberflächlich als Abhängigkeit definiert.70 Die weibliche Dreiteilung des Romans der Göttinnen und besonders gerade die Wahl des Namens der Protagonistin - Violante - können eine genaue „imitatio“ d’Annunzios evozieren, der Le Vergini delle Rocce [Die Jungfrauen von den Felsen], in der Violante, das Symbol der Schönheit, sich im Spiegel des Palastes auf den Felsen sieht, wie die Violante H. Manns in den Spiegel ihrer Säle im venezianischen Palast. Sie ist eine der Figuren der Trilogie, die dazu bestimmt ist, den Übermenschen Claudio Cantelmo nie zu befriedigen. Der Name, „Spiegelungen“ und die symbolische weibliche Triade ergänzen sich in der Zeichnung der Göttinnen: Minerva könnte Maximilia sein: „von den erstarrten und angespannten Statuen erlernte ich die Unbeweglichkeit einer harmonischen Haltung“; und Diana, Anatolia und Violantes Venus, die symbolischen Inkarnationen der Ideale von Freiheit, Schönheit und Kunst. Der ungewöhnliche und bezeichnende Name der Herzogin enthüllt allerdings eine andere Richtung, die schwieriger zu verfolgen ist, als die der ebenfalls komplexen literarischen Anleihen: und es ist eine Inspiration des figurativen Typs, den H.Mann mit ebenso häufiger Frequenz in der Übernahme literarischer Modelle benutzt. Auch wenn die Beschreibung, auch die Komposition, der Herzogin von Assy nicht übereinstimmt, könnte sie in der Namensgebung mit der „sogenannten Violante“ übereinstimmen, die Tizian zugerechnet wird und sich im Museum von Wien befindet. „Die Seele einer Dogin der Renaissance“ nannte H.Mann Madame Steno, eine der Heldinnen von Cosmopolis Bourgets, das er 1896 rezensierte. Die Renaissance war für ihn nicht die Zeit der Verbrechen und Exzesse, sondern die der koloristischen Venezianer, die ihm Motive und Modelle vorgaben.

Die erste Ausgabe der Göttinnen enthielt aber auch noch weitere Hinweise. Auf dem Frontispiz des dritten Bandes waren einige Verse Henri de Régniers abgedruckt - auch diese nur mit dem Namen des Poeten.71

Rome! tes dieux sont morts e ta maigre tétine

Louvre de bronze, pend d’avoir trop allaité!

Mais le fantôme nu de l’antique beauté

Erre encore aujourd’hui sur la terre latine.

Der französische Kritiker Eugène Bertaux hatte geschrieben, daß alle deutschen Literaten in ihrer Jugend von den „splendeurs ensoleillées“ träumten, und Rom und Paris die Städte sein, die dazu bestimmt waren, sich selbst besser kennenzulernen, nachdem sie sich als „fils du Louvre“ gefühlt hatten. Für eine ironisch-politische Anspielung war es allerdings noch zu früh. Wenn man in dem von H. Mann auf dem Frontispiz ausgewählten und in der nächsten Ausgabe gleich wieder eliminierten Gedicht weiterliest, kann man die dreigeteilte Architektur des Romans erkennen. Der Titel des Gedichts ist La paienne, enthalten in Les médailles d’argile. Die Intention dieser Wahl wird noch viel deutlicher, wenn man dem Entwurf Régniers folgt und ihn in seiner komplexen symbolistischen Struktur liest:

La statue est brisée et la stéle s’incline

Le roseau se lament ou la flute a chanté,

Et tu restes toujours belle d’avoir été,

Par le sourir pur des Déesses, divine.
Et, voyageur pieux, j’ai voulu qu’au retour

Ma Dame ainsi fut peinte en ce cadre à son tour

Debout sur le clair mont que l’aurore ensoleille,
Entre Pallas revêche et Junon furieuse

Car sa gorge rivale à sa pointe est vermeille

Du même sang divin que la Victorieuse.

Das Projekt der Göttinnen, in dem Diana anfänglich Juno heißen sollte, hatte sofort auch diese Tendenz. D’Annunzio zieht sich zurück, wie es fast jedesmal passiert, wenn H.Mann die Entlehnungen vom „latinischen Genie“ vorgeworfen werden, zugunsten Henri de Régniers, vor allem, wenn man einige anonyme Notizen zu französischen Versen in Betracht zieht, die zwischen den Papieren des Materials zu den Göttinnen gefunden wurden. H.Mann notiert:

Juno: Suspendre à l’autel, helas! le glaive clair

Dont jadis, j’ai conduit, hautain sous la cuirasse

Que sangle au torse nu le dur cuir qui le lace

das er als Motto seiner kämpferischen und mitleidslosen Diana hätte auswählen können, solange sie noch Juno hieß. Die Verse sind L’Eglogue marine: L’homme von Henri de Régnier entnommen.

Minerva: Un laurier toujours vert à nos tempes blanchies

ist der letzte Vers des Gedichts Les Souhaits, der gleichen Sammlung der Jeux rustiques e divins entnommen. Neben Minerva steht noch:

Que la Gorgone en pleurs gonfle à ton gorgerin

Son rite d’éouvante avec sa chevelure



Des serpents vert taillés des l’émeraude dure

sind vom sadistisch-dekadenten Terror erfüllte Bilder, die an Gautier, Théodore de Bainville und an Héredia denken ließen, wenn sie nicht in Augure, einem Gedicht Régniers zu finden wären. Der Hinweis scheint sich auf das Repertoire der Inhumanität und der Grausamkeit der Kunst zu beziehen, die sich in der Tat in Venus auflösen muß: La conques des Tritons; es wiederholt die ganze zarte hedonistische Atmosphäre der flutes, der Rosensträucher, des Perlmutts, der durchscheinenden Frauenhaut, die im dritten Teil des Romans von H.Mann mit einer Sensualität der Düfte und einer Intensität der Bilder triumphiert, die leicht auf D’Annunzio zurückzuführen wären, gerade weil diese symbolistischen Intarsien den immer wiederholten Hintergrund des Renaissance-Rahmens im kostbaren Pomp bilden, worin man das optische Vergnügen assoziativ empfindet, das der Stil D’Annunzios in Das Feuer zelebriert: „...die ideale Figur“; und die bezeichnete er nach Art der koloristischen Meister, die den Ort beherrschten; mit dem Luxus von Paulus und dem Brennen Tintorettos in der Sprache der Poesie“. Das Feuer in der Übersetzung von G. Gagliardi, die 1900 beim Verleger A. Langen publiziert wurde, befindet sich noch immer in der Bibliothek H.Manns und ist sicherlich ein Werk, das er gut gekannt hatte. Aber daraus ausgerechnet das Modell des zweiten Teils der Göttinnen zu machen, so wie es einige Kritiker vorschlagen, sogar aus Minerva einen Wachsabdruck davon zu machen, bedeutet, die Übereinstimmungen des Milieus - ein prunkvolles Venedig - nur oberflächlich zu beachten, und den Unterschieden des Tons bei H.Mann keine Beachtung zu schenken, der nicht die Lyrik Allegoria dell’Autunno beansprucht, sondern von anderen, vorhergehenden narrativen Modellen abgeleitet ist.72 Die eingebauten Verse D’Annunzios, kritisch oder unbewußt angewendet, werden mit großer Sorgfalt untersucht, wobei der alte Thovez insbesondere nicht vergessen werden darf: die kompositorische Technik, das Zusammenfließen der Notizen, die „Plagiate“ oder Abgüsse französischer Autoren weist viele Analogien auf, so daß man für H.Mann davon ausgehen kann, daß er sie bewußt ausgewählt hat und nicht als eine gemeinsame Wahl, allenfalls als eine konforme Tendenz zu den gleichen Quellen, die später mit ganz persönlicher Absicht umgeformt werden. Maupassant, Flaubert (der Flaubert von Die Versuchung des Heiligen Anton, an den sich der prädekadente der prächtigen Szenen von Salammbô anschließt) und die Decadence latine von Joséphine Péladan, die Thovez in Farsa del superuomo als die „Ausgeplünderten“ bezeichnet, sind in gleichem Maße in der Bibliothek oder den Notizbüchern H.Manns erläutert und glossiert.73 Diesen schließen sich die Bilder des Repertoires der französischen Symbolisten an, die gesamte sentimentale Bibliographie des als „Zivilisationsliterat“ beschimpften. Wenn man das Material der Notizen mit dem ersten Manuskript der Göttinnen vergleicht, zeigen die vielen enthüllenden Anzeichen eine Art von Richtung, der die Lektüre folgen kann.

H. Manns Venedig ist auf gar keinen Fall das gleiche wie bei D’Annunzios; sondern eine Collage, die aus homogenen Quellen zusammengestellt ist, von denen beide Autoren geschöpft haben. In Amorei et dolori sacrum (1903) von Maurice Barrès ist das Kapitel Mort de Venise, das die Analyse der echten Modelle zusammenfaßt, die H.Mann zum Teil für die Komposition Venedigs und für viele andere, nicht nur dekorative74, „“Anregungen“ verwendet hatte. Da sind Théophile Gautier und Hyppolite Taine wichtig, viel wichtiger versteht sich, als die venezianischen Steine John Ruskins, dem Verächter der Renaissance. Viele der venezianischen Anekdoten, die aus technischen Gründen nach Vorbild der selbstüberschätzenden Erzählungen Stelio Effenas in den Roman eingefügt erscheinen können, reduzieren sich allerdings auf die pikanten „Exzerpte“ H. Manns, der aus einem der intelligentesten französischen Reisenden des 18. Jahrhunderts geschöpft hatte, von M. Le Président Charles de Brosses.75 Andere Besonderheiten kommen direkt aus einem anderen, für H.Manns Italien wichtigen Buch, L’Italie d’hier der Brüder Goncourt, die geliebten Beispiele des Projekts brüderlicher Zusammenarbeit. Um aus dem Gedächtnis einen Großteil der Texte französischer Autoren zu erarbeiten, die Italien Tagebücher oder Romane gewidmet hatten, kann man sicher sein, so manche buntes Mosaiksteinchen zu finden, das H.Mann gefallen hat und das er dann in sein prächtiges venezianisches buchstäblich verzauberndes Mosaik eingebaut hat. Henri de Régnier hat D’Annunzio den großen „Utilisateur“ genannt: „on pourrait analyser le formation de ce curieux esprit e faire, pour ainsi dire, l’expertise des parcelles qui le composent. Je ne m’amuserai pas à cette opération de littérature legale“.76 Das Auftauchen der Quelle Thovez hatte auf amüsante Weise den Beweis erbracht: diese gemeinsame Leidenschaft für eine „Verwertung“, die bis an die Grenzen der literarischen Assimilation und der erfinderischen Umwandlung gehen, ist sicherlich eine Möglichkeit des Vergleichs zwischen D’Annunzio und nicht nur Heinrichs, sondern auch Thomas Manns.77 Die Technik der hervorragenden Collage, der umsichtigen und kalligraphischen Montage, bildet sich als Arbeitsmethode besonders in diesen italienischen Monaten der Brüder aus, während Thomas das Material für die Buddenbrooks sammelte, Renée Mauperin laß und Heinrich bunte Bilder im prä-raffaelitischen Stil malte und Novellen schrieb. Die Briefe der Brüder dieser Jahre vor und nach den Italien-Aufenthalten sind fast immer von Verweisen auf potenzielle Quellen begleitet: es sind nicht nur Informationen über literarische Neuerscheinungen, sondern auch Anfragen zu Nachschlagewerken, die später wieder in mancher Figur oder Idee der Werke auftauchen. Das war keine Neugierde der Entdeckung oder der Analogien; es waren die Bücher des Handwerks, die notwendigen Texte, auf die man aufbaute. Eine ähnliche Mühe des kontinuierlichen und heterogenen Sammelns von Dokumenten und des Studiums der verwertbaren Quellen, um die Glaubwürdigkeit der Episoden zu erhöhen, hatte im übrigen schon der dekadentistische Flaubert, der mit seiner erstaunlichen Phantasie zu täuschen scheint: man enteckt tatsächlich einen Sammler von historischen Rechtfertigungen, von geduldigen Analysen antiker und moderner Texte, von belesenen Nachforschungen, die ihm dazu dienten, die Einbildungskraft während der Komposition von Tentation de Saint Antoine und noch mehr in den historischen Szenen von Salammbô zu stimulieren oder einzudämmen. Von „sieben Jahren des verrückten und sehr verzweifelten Studiums“ der Poeten, Historiker, kleineren und kleinsten Grammatikern spricht auch Leopardi; von Recherchen in der väterlichen Bibliothek, von seltenen Notizen und von Kuriositäten, die ihn anzogen, von mit Bemerkungen versehener Lektüre, bevor auch er sie übersetzte, in der Erinnerung oder in der Einsamkeit, war auch seine Vorstellung von literarischer Arbeit.

Es kann allerdings verwundern, daß auch derjenige, der die Vorstellung vom Dichter-Erfinder nicht respektiert, die Notwendigkeit der „ Anlehnung“ sucht, insbesondere dort, wie zum Beispiel in der Beschreibung des „Flairs“ einer Stadt, in der man gelebt hat oder in den Erscheinungen ihrer berühmten Schönheiten und in dem dort wohnenden Volk. Der Reisende oder Gast hat das auszusprechen, was man empfindet und was man entdecken will. Lesages Spanien zum Beispiel, dient überhaupt nicht dazu, seinen Gil Blas berühmt zu machen. Man versteht es sehr gut, wenn ein Autor eine funktionale Topographie auswählt, die von Dokumenten und von phantasievoller Lektüre ersetzt worden ist. Nicht alle Autoren konnten, besonders in der Vergangenheit, ihre Landschaften mit direkt erfahrenen Realitäten ausstatten, wenn sie ein fremdes oder exotisches Ambiente konstruieren wollten. Besonders in diesem Teil zieht H.Mann es vor, sich nicht sich selbst anzuvertrauen, sondern sich der Konvention zu überlassen, die er schon immer bewundert und geteilt hat; dazu zählen die über ihn empfangenen Eindrücke Barrès, dem Venedig Gautiers gewidmet: „Cette riche collection de camées, gravés dans l’isolament e loin de nos passions nous renseigne mieux sur l’histoire morale du XIX siècle que tant de confessions oratoires et vaniteuses. Dans la Venise de Gautier, vour pretendez chercher vainement l’âme; l’âme vous dites que ce sont de coquilles sans l’animale, des pierres dures ciselées en creux. Eh, bien! que votre esprit se prête à la pression de ces intailees: comme autant de cachets, elle vous imposeront leur empreinte“.78 Die cachets von Gautier haben auf H.Mann genau den Effekt gehabt, von dem Barrès spricht. Und auch in einem viel direkteren, unmittelbareren Sinne lassen sich die Abdrücke dieses Siegels auf den venezianischen Seiten der Göttinnen finden. Auf der Piazza S. Marco „bäumten sich und wieherten die erzenen Rosse auf dem Kirchenportal“, auf der Venedigreise Gautiers „piaffent“ die Pferde Lisippos auf den Portalen von S. Marco79, „Orientalische Träume, zu Stein geworden, zu silbern wuchtenden Kuppeln und zu Inkrustationen von Malachit, Porphyr, Gold und Emaille, blitzen wie mit lauter Dolchen“, sind die orientalischen Träume von Théophile: „On eut dit un rêve pétrifié, les coupoles d’un gris argenté...“ Aber von Théophile, dem großen Théo, der auch D’Annunzio sehr gefiel80, lernt H. Mann auch die auswählende Sensualität für die Nacken der jungen Venezianerinnen kennen: „Ihre schlanken und weichen und flaumigen Nacken hat mein Daumen modelliert, und das Blondhaar habe ich darüber hingestäubt... Der gebrannte Ton der männlichen Gesichter ist mein Werk“, ergeht sich Violante von Assy in einem langen Monolog über die Sensualität Minervas. Es sind die Mädchen, die an Gautier erinnern: „Ce qu’il y a de charmant surtout chez les Vénitiennes, c’est la nuque, l’attache du col et la naissance des épaules. On ne sauriat rien imaginer de plus svelte, de plus élégant, de plus fin et de plus ronde.... sur les nuques se tordent toutes sortes des petits cheveux follets... avec de jeux de lumière, des jetillement de soleil... Le type méridional est assez rare à Venise parmi les femmes, quoique fréquent chez les hommes“81

Von Gautier ist auch der große Schleier, der „grand voile blanc“, der im Licht weht, das Zeichen der venezianischen Kurtisanen; von Gautier sind auch die cachets des Lärms und der Freiheit der Gondolieri vor den Häusern ihrer Herren; es sind seine Charakteriska der hohen Gesellschaft zugehörenden jungen Venezianerinnen, diese Faulheit und delikate Trägheit, die H.Mann benutzen wird, um die Figur der Clelia Dolan, des reichen Mädchens, das im Palast am Canale Grande mit dem alten, fanatisch kunstsammelnden Vater aufgewachsen ist, noch glaubwürdiger zu gestalten82

Aufgrund der Notizen gelangt man zu dem Eindruck, daß er sie mit den Zügen der Madonna Bellinis beschreiben wollte.
II.

Die Göttinnen basieren auf einem ganzen technischen Apparat, der an die verschiedenen Notwendigkeiten des Werkes angepaßt ist: Nach dem präparierten Material zu urteilen und es dann mit der realisierten Absicht zu konfrontieren, könnte man schließen, daß die literarische Glaubwürdigkeit die größten Sorge des Autors gewesen ist: so wie einer den Markenartikel vorzieht und noch immer der No-nameware gegenüber skeptisch bleibt, die der auszuführenden Arbeit nicht ganz angemessen erscheint. Einige Jahre später erlaubt es dem Autor eine größere Sicherheit in der Ausführung auf, wenn auch nicht ganz aber teilweise, äußere Unterstützung zu verzichten, wenn diese nicht entscheidend ist. Dem Kritiker bleibt nur das Bedürfnis der totalen Absicherung, das Bewußtsein einer „getanen Arbeit“ anzumerken. „Ich bin an der zweiten Hälfte des ersten Teils angelangt. Mitte April muß ich die Arbeit unterbrechen, um eine Reise nach Süditalien zu machen, der mich im Grunde wenig interessiert und mich viel Geld kosten wird. Aber das Thema verlangt es, weil meine Heldin am Ende ihres Lebens eine Reise zu diesen Orten machen wird“, schreibt H. dem Bruder Th., der ihn am 1.4.1901 darum bittet, auf diese Reise zu verzichten, um ihn in Florenz zu erwarten: „Neapel kennst du schon, und du brauchst es nicht als Milieu, du kannst dir leicht die Erinnerung mit Photographien etc. auffrischen“. Aber H. gibt Th. nicht nach, der ihm am 7.5.1901 von Florenz aus schreibt: „Ich bin völlig der Ansicht und ich bitte dich gerade deshalb, deinen Aufenthalt dort unten abzukürzen und schnell, wenn es dir möglich ist, hierher oder nach Venedig zu kommen (aber am besten ist es, wenn du hierher kommst)“83 Trotz der gemachten Reise, der Anleihen an Gregorovius, der vielen von Platen84 gesammelten Informationen, ist auch die von Violante bereiste Route minuziös, mittels eines Netzes von Verweisen und Glossen, an die H. Taines in Band I seiner Voyage en Italie: Naples et Rome gebunden. Diese befindet sich am Ende des Buchs85 vermerkt, zusammen mit anderen Verweisen, die leider nur Seitenzahlen liefern, woraus man leider den Vorbild-Autor nicht exakt bestimmen kann. Wahrscheinlich handelt es sich um Gautier oder de Brosses.86 Aber von Capua nach Neapel, nach Montecassino sind es die Eindrücke der Herzogin, die bereits Taine verwunderten und verstört haben.87

Der Vergleich der Intarsien erlaubt die genaue Rekonstruktion dessen, in wie weit die Erfindung vom Modell beeinflußt war.

„Le Mont-Cassin. Les moines copiaient des manuscrits au bourdonnement des litanies: cependant les sauvages du Nord passaient et repassaient dans les vallées, apercevant sur la cime rocheuse les fortes murailles qui protégeaint le dernier asile. Maintes fois ils les ont forcées; plus tard, convertis, ils baissaient la tête avec une terreure superstitieuse, et venaient toucher les reliques. Un roi dont l’histoire est peinte sur la muraille a laissé ici s couronne pur prendre la robe de moine.“88 Und hier zeigt sich, wie Mann den Text benutzt, der sich der Geschichte der tapferen, normannischen Eroberer, den Ahnen seiner Herzogin, anpaßt, „die über der hungernden Stadt wüteten“ (mit Echos aus Von den Ufern des Liris von Gregorovius): „Nur einen achteten sie, weil er ihnen widerstand: den Felsen von Monte Cassino. Drunten wüteten sie und liebten; droben in der Wüste von Steinen, hallten die Litaneien. Nachdenkliche Mönche bückten sich droben über Pergamente der Antike, als verfolgten sie im Sande der letzten Fußstapfen einer rätselhaften Fremden. Und drunten funktelten die Blicke der Barbaren. Sie fühlten sich gebändigt unter Schweigen; vor Ohnmacht und Drang ward es ihnen unheimlich. Sie ertrugen es nicht länger, sie gingen im Büßerhemd zu jener stillen Höhe, die sie in Panzern nicht erreichen konnten. Einer blieb droben und nahm die Kutte!“89.

Es ist nicht allein die Sorgfalt der Feinheiten, wie sie die Malerei der Jahrhundertwende manchmal forderte, sondern ein Einströmung der fertigen Motive in die Geschichte, die schon, auch in einigen Gemeinsamkeiten, bereits fremden literarischen Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Oder auch dieser „terreure superstitieuse“ des romanischen Taine ist mit der ganzen nordischen „Ergiebigkeit“ des vergleichbaren „vor Ohnmacht und Drang ward es ihnen unheimlich“ übersetzt worden, was beweist, wie H.Mann die einfachen literarischen Übertragungen vermeidet, die ihm psychologische Unstimmigkeiten bereiteten. Die „Unheimlichkeit“ ist bei weitem primitiver als der Aberglaube.

So sind die von Taine aufbereiteten Epochen, Landschafts- und Bergbeschreibungen90 zergliedert, damit ihre Elemente höchste Suggestionskraft erhielten und als einfache Termini der neuen Komposition verfügbar waren. Die impressionistischen Anmerkungen des französischen Koloristen schließen mit eliptischen Sätzen: „Pour la première fois, voici des femmes vraiment belles; elles sont en guenilles, et on ne les toucherait pas avec des gants; mais, à dix pas, elles rassemblent à des statues. A force de porter l’eau, le mortier, tous les fardeaux sur leur tête, elles ont pris l’attidude droite, la démarche noble d’une canéphore. Un épais linge blanc leur couvre la tête et, retombant des deux côtés, les protège contre le soleil. Dans cette blancheur, la chaude couleur de la peau, les yeux noirs, sont d’un éclat admirable“. So betrachtet hingegen die Herzogin von Assy die Bäuerinnen: „.. vorbei an Weibern, bronzefarben, gelassen blickend in grünem Rock und rotem Mieder, die auf dem dick und weiß bedeckten Kopf, hoch und schaukelnd, im edlen Streit von Kanephoren, die kuperne Conca trugen“91

Ohne geringste Ähnlichkeit mit Taines Text, hätten die Kanephoren - wie die aschgrauen Olivenbäume - direkt auf D’Annunzio verweisen können, auf alle Serien von Bildern der Mädchen-Kanephoren („die man die Kanephoren von Athen nannte“ aus La Vendemmia; „mit einer Kanephore mit Weizen auf dem Kopf, auf dem Weizen ein Brot, und auf dem Brot eine Blume, liefen sie hintereinander vorwärts, alle mit der gleichen einfachen und fast heratischen Haltung der athenensischen Basisreliefs“ aus Mungià), die die Erinnerung der Folklore der ersten naturalistischen Periode begleiten.92

Die Vorlagen Taines haben nicht nur eine philologische Qualität, sondern auch strukturelle; sie dienen H.Mann als Berichterstatter des Vertrauens und nicht nur als einfache Bilderquellen, wie es häufiger der eher lyrische Gautier für ihn war. Taine hat, wie Stendhal auch „le gout des petits faits vrais“, hatte Henry de Régnier in seinem Taine geschrieben: „Taine sent avec force les beautés de la nature, mais tout de même les paysages l’intéressent moins que l’homme et que la société. Ses livres de voyages le prouvent. Certes, il sait voir et décrire, mais bien vite il retourne à son étude pr´féré: il note les moeurs, les usages, les caractères; il interroge, il remarque, il s’enquiert. Comme Stendhal il est curieux des particoularités morales et sociales“. Deshalb akzeptiert H.Mann von beiden, lernt und will sich absichern: sie sind ihm näher als die apodiktische Erzählung Goethes im Kostüm Arkadiens. Bei Taine wollte er nicht nur der Dokumentation oder Information folgen, die immer nur äußerliche Linie ist, sondern bleibt der psychologisch, preimpressionistischen literarischen Linie des „Harmonikers“ treu, die, wenn sie in gewissen Umgebungen rein beschreibend ist, zu D’Annunzios Fuoco zurückführen kann.93

Gemeinsamkeit der Subjekte, Gleichartigkeit der Auswahl mit allerdings unterschiedlicher Absicht gelten für die Sammler und den Intarsieur. Die „Anleihen“ von Motiven haben den Anschein der Bequemlichkeit, wie das Reiseprogramm der Violante in Süditalien auf die Taines zurückzuführen ist, geschmückt mit Besonderheiten, angereichert mit in einem Rahmen angeordneten folkloristischen Anmerkungen. Sie können ein gutes Gegenmittel darstellen, aber keine oppositionelle Wahl zum Thema D’Annunzio, das in einigen „panischen Stunden“ der Herzogin bei den meridionalen Hirten aufzutauchen scheint: diese Schaf- und Ziegenhirten, die an Verga oder D’Annunzio denken lassen, sind statt dessen sorgfältig komponiert, mit dem gleichen Eifer der bildlich-figurativen Gestalt, der geduldigen Sammlung von Details und der instruktiven Erzählungen eines Klassikers, bislang am Horizont der „Bildung“ H.Manns unerwartet: Ferdinand Gregorovius und seine Wanderjahre in Italien. Der Vergleich zwischen Gregorovius Lateinischer Sommer und einigen Seiten der Venus ist gleichfalls fruchtbar wie der zwischen Siciliana (Neapel) und der Atmosphäre, die Violante von Assy in Neapel umgibt.94

Ein interlinearer Kommentar würde ausreichen, wollte man die Anlehnungen der Vergleiche verfolgen, die sich aus den verschiedensten Quellen herleiten lassen. Es war an sich nicht ungewöhnlich, ein fremdes Ambiente mithilfe der eigenen Erinnerung oder Familienbriefen und -notizen zu rekonstruieren - und besonders nicht das klassisch-italienische: vieles der römischen Topographie der Romantiker war „abstrakt“ vorgezeichnet, minuziös in den „Mappen“ verfolgt, um nicht einem „Fehler“ zu erliegen. Tiecks oder E.T.A. Hoffmanns Rom ist geziert wie ein antiker Druck, mit einer der Realität des Autors fast unbekannter Präzision. Der Versuch, das Ansehen der Schönheit zu wiederholen, das der Literat, noch ehe er sie gesehen hat von ihren zu vielen hervorragenden Reminiszenzen, die sie berühmt gemacht haben, befreien muß, kann ein unnötiges oder undankbares Unterfangen sein95, wenn man ihrer bedarf, um Gefühle und Reaktionen der Figuren zu erreichen, die sich in ihr bewegen. Es liegt am Widerspruch ihrer Existenz und ihren Konflikten, der die Autoren dazu bringt, eine Beziehung zwischen dem durch sie repräsentierten Ambiente und der Rechtfertigung ihrer Wahl herzustellen. Die obligatorischen Plätze des europäischen Fin de siècle verschwimmen oder deformieren sich mit der Intention: Zolas Rom - mit allem Gewicht, das es für ihn gehabt hat - zieht Heinrich Mann nicht so sehr an wie die Spaziergänge Stendhals oder das Tagebuch Taines. Was wiederum exakt die Unterscheidung zwischen nützlichem Material und Ideen aufzeigt, deren Verwendung zu einer moralischen Aufgabe wird.

Auch hier gibt es einige Beispiele. Die Aufmerksamkeit oder die Phantasie Manns sind angeregt vom Kontakt mit französischen Autoren, allerdings anders als man es denken könnte: wenn im Fall Gautier die passive oder bewundernde „Übernahme“ zu einer Übereinstimmung hinsichtlich Adjetivierung und genauesten Bildern mit einem „cammee-ähnlichen“ Abbild führte, könnte es sich für Gregoriovius dahingehend klären, als der gute Wille des Autors, der sicher sein will, die Dinge richtig zu erzählen, nicht nur ähnlich. Darin drückt sich die Besorgnis der Verantwortung gegenüber dem deutschen Publikum aus, das seine Göttinnen bis zum Ende gelesen hätte und obgleich bereits mit der latinischen Welt sympathisierend, nicht seine meridionalen Bildvorstellungen über den Haufen geworfen sehen wollte. Die Schnitte und Einfügungen Gregorovius’ sind tatsächlich informativer und sittlicher Art, Zugeständnisse an die konstituierende Autorität eines Themas, das extreme Genauigkeit verlangt. Sie betreffen das Gewimmel des neapolitanischen Lebens an der Riviera von Santa Lucia und die typische Art der Gassenjungen, sich vor den schönen ausländischen Damen in den Golf zu stürzen96. Der Willen zur Information vor der Kompositionsarbeit ist nachweislich bestätigt durch die Masse an Notizen aus Gregorovius über die römische Campagna: sie finden sich fragmentarisch, in halben Sätzen, in Namen und Dialogen in fast allen Werken Heinrich Manns, die, funktional oder nicht, den Hintergrund der romanischen Landschaft benötigen. Es handelt sich um die Notizen eines Soziologen, weniger um die eines Literaten, der zuerst wissen will wie etwas wächst und blüht in einem Land, dessen Menschen anders essen, eine uralte Geschichte haben, unter einer unüberwindliche Armut leiden, die ihm fremde Angewohnheiten haben. Er fühlt sich von dem Land und seinen Bewohnern angezogen, die niemals nur Komparsen oder Marionetten im Spiel des Romanciers sein werden und die er braucht, weil sie einer literarischen Mode entgegen gehen.

Neben den literarischen und historischen Quellen verfügte Heinrich Mann über ein manualistisches Material, das er aus den verschiedensten Büchern exzerpiert hat. Einige Seiten der Romane, die in der Lage sind die Schönheiten und Einzigartigkeiten der italienischen Landschaft hervorzurufen, scheinen voll von diesem d’annunzianischen Echo, vor dem sich Heinrich Mann verteidigen mußte und das sich bei einer entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung aus einer anderen Quelle entnommen herausstellt97. So auch die „bleichen Olivenbäume“, die „aschgrauen Olivenbäume“, das Beharren auf Formen und Farben dieses Baumes, der von der d’annunzianischen Heiligkeit derartig kompromitiert war, läßt sich sicherlich nicht auf den italienischen Autor zurückführen, sondern ist eher das Resultat einer genauen Dokumentation, ausgeführt mit der Genauigkeit eines Ackerbauern98. Und es ist die gleiche Adjektivierung im technischen Text, die an den „Alcyon“ denken ließe.



Die vielleicht zu poetische „Kultivierung der Olivenbäume“ von Arici, wird in ganzen Seiten eingefügt, von Hand in Italienisch abgeschrieben, mit Zeichnungen der Kelter und präzisen Anmerkungen zu den Krankheiten der Olivenbäume, die lupa, die Fliege der Oliven99. Diese Kopierarbeit war eine gute Übung und obwohl das erhaltene Material unvollständig scheint, belegt es das in verschiedene Richtungen gehende „italienische“ Interesse Heinrich Manns. Der optischen Bequemlichkeit, den Notizen Zeichnungen hinzuzufügen und dem Bedürfnis, die Disposition oder Funktion der beschriebenen Dinge besser verstehen zu können, verdanken wir sicherlich die Blätter mit dem bekannten umgekehrten Trichter des danteschen Inferno mit präzisen Unterteilungen, der im zentralen Teil der Göttinnen wiederzufinden ist. Darüberhinaus gibt es Blätter mit zahlreichen Versuchen, die unverwechselbaren italienischen Gesten der Hände zu zeichnen: Kleiner und Zeigefinger gestreckt bei geschlossener Faust, das der treue Leser Gautiers und des „bösen Blicks“ sicherlich für enorm wichtig erachtete, um die Bewohner der italienischen Campagna und Süditaliens zu verstehen, sowie die präzisen Unterschiede zwischen den Graden des Alkohols der verschiedenen Weine. Es handelt sich also nicht nur um den Repräsentanten einer „Artistik“, der erotischen Träumen vor archaischem oder renaissancistischem Hintergrund folgt, sondern um einen „Neuromantiker“, der seine „Nervenkunst“ mit kraftvoller Unterstützung der italienischen Realität kuriert, in der die Literaten, die ihn zu bewegen scheinen an den Rand gedrängt sind zugunsten der Chronisten, der Journalisten, der Politiker, und sofern sie Frauen sind auch Literaten. Es dominiert eine psychologische Richtung, fast unwidersprochen, bis zur „Vielstimmigkeit“ der Kleine Stadt.
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