Kapitel XI Zur Gattung ‚Mädchenbuch‘ im Schaffen der sieben behandelten österreichischen Autorinnen
1. Zum Begriff ‚Mädchenbuch‘
Die mehr als zwanzig Jahre alte Definition des Begriffs ‚Mädchenbuch‘ von Malte Dahrendorf, die im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur zu finden ist, berücksichtigt primär Mädchen als Leserinnen solcher Lektüre:
„Der Begriff Mädchenbuch hat sich für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, der gezielt für Mädchen als Adressaten gemacht bzw. überwiegend bis ausschließlich von ihnen gelesen wird, eingebürgert.“ [M. Dahrendorf, 1984, S. 251]
Die ältere Bezeichnung ‚Backfischbuch‘ war vor allem mit dem Erziehungsroman des 19. Jahrhunderts verbunden, der bürgerliche Töchter für die Rolle der angepassten, unterwürfigen und gehorsamen Ehefrauen und Mütter vorbereiten sollte.
Im Jahre 2000 definiert Dagmar Grenz Mädchenliteratur als diejenige, die „…explizit für Mädchen herausgegeben wird (deutlich gemacht durch Verlag, Autor, Titel, Cover, Reihenzugehörigkeit, Vorrede, Hinweise im Text). Enger ist der Begriff der spezifischen Mädchenliteratur; das ist die Literatur, die eigens für Mädchen verfasst und allein an sie gerichtet ist. Am weitesten ist der Begriff der Mädchenlektüre; er umfasst die gesamte Literatur, die von Mädchen rezipiert wird.“ [D. Grenz, 2000, S. 332]
1.1. Merkmale und Typen des Mädchenbuchs
Die formale Ausstattung signalisiert äußere Merkmale des Mädchenbuchs – auf dem Titelbild ist meistens die Protagonistin abgebildet (vgl. Ch. Nöstlinger: Ilse Janda 14, R. Thüminger: Zehn Tage im Winter oder M. Pressler: Malka Mai). Der Umschlag beschreibt häufig kurz den Inhalt des Buches. Auf dem Umschlag des Buches Malka Mai von M. Pressler ist z. B. folgender Text zu finden:
„September 1943: Polen war von den Deutschen besetzt. Malka Mai war sieben, als ihre Mutter sie auf der Flucht über die Karpaten allein zurücklassen musste. Nur selten fanden solche Geschichten ein gutes Ende. Einmal zum Glück war es so.“ [Vgl.: M. Pressler. Malka Mai, 2001]
In den Mädchenbüchern wird häufig von einem Lebensabschnitt erzählt, in dem es um die Probleme der Anpassung an die Welt der Erwachsenen geht, die Realität steht jedoch im Kontrast zu den Wünschen und Vorstellungen der Protagonistinnen.
Malte Dahrendorf unterscheidet drei verbreitete Typen des Mädchenbuches:
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Das „biologische Schicksal“ ist lebensbestimmend, die gesellschaftliche Rolle wird als Derivat des biologischen Programms ausgegeben.
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Es findet eine Auseinandersetzung statt mit dem Zwang, der durch die Rollennorm entsteht; Ziel ist Aufklärung und Emanzipation.
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Individuelle Probleme der Heldin stehen im Vordergrund.
M. Dahrendorf definiert die Funktion der Mädchenliteratur folgendermaßen:
Die Funktion einer fortschrittlichen Mädchenliteratur könnte sein, die Leserin über ihre Situation aufzuklären und ihr neue und weitere Rollenmöglichkeiten interessant zu machen und vorzuschlagen. [M. Dahrendorf 1984, S. 420]
2. Typologie der Protagonistinnen in Bezug auf die Problematik der in dieser Arbeit behandelten Bücher
In den oben analysierten Büchern habe ich die Charakteristiken entweder den überwiegenden Charaktereigenschaften der handelnden Figuren oder den wesentlichen Merkmalen des Inhaltes des Buches untergeordnet. Ich habe folgende Typen von Protagonistinnen gefunden:
2.1. Protagonistin mit einem sehr guten, aber komplizierten Verhältnis zu ihren Eltern, bzw. Vater oder Mutter
(Die Ilse ist weg; Disteltage; Pfui Spinne; Solange die Zikaden schlafen; Blockhaus am Minnewanna; Die Ferienfamilie)
2.2. Mädchentyp als Protagonistin eines geschichtlichen Romans
(Johanna; Maikäfer flieg; Dieda oder das fremde Kind; Zehn Tage im Winter; Geh heim und vergiß alles; Besuch aus der Vergangenheit)
2.3. Emanzipierte Protagonistin, die aus einer sozial bzw. persönlich schwierigen Situation für ihre Eltern den Ausweg finden muss
(Disteltage; Der Zwerg im Kopf)
2.4. Protagonistin mit einem scharfen Gerechtigkeits- und Solidaritätsgefühl im Rahmen der peer-group bzw. der Familie
(Die Sache mit dem Heinrich; Meine Freundin Rosine; Die Räuberbraut; Oli und der Purzelbaum; Das Gesicht im Spiegel; Eine Krone aus Papier)
2.5. Protagonistin als Aussenseiterin.
a) Die in Österreich lebenden Ausländerinnen
(Spinat auf Rädern; Ülkü das fremde Mädchen; Fidan)
b) Aussenseiterin auf Grund der Andersartigkeit
(Man nennt mich Ameisenbär; Die feuerrote Friederike; Drachenflügel)
2.6. Protagonistinnen von Liebesgeschichten. Erste Liebe, verbunden mit Ernüchterung.
(Stundenplan; Pfui Spinne; Gretchen Sackmeier; Herz- und Beinbruch)
2.7. Protagonistin als Trägerin von ‚rigiden‘ Mittelschicht-Normen
(Der Spatz in der Hand; Villa Henriette; Wie in fremden Schuhen)
In den folgenden Ausführungen werde ich mich den oben angeführten Charakteristiken zuwenden. Weil ich an anderem Ort meiner Arbeit die Inhalte der meisten Bücher analysiert habe, werde ich mich der Problematik hier vorwiegend vom allgemeinen soziologisch-psychologischen Gesichtspunkt her nähern.
ad 2.1.) Die Beziehungen der Eltern gegenüber den Kindern und vice versa
Die Familie bildet den primären Rahmen der kindlichen Welt. Zuerst stellt sie den sicheren Hafen gegenüber der feindlichen Welt dar. Im Prozess des Heranwachsens werden allmählich Mängel und Fehler der Eltern entdeckt und das Verhalten der Eltern wird einer scharfen Kritik seitens der Protagonisten unterzogen.
In den meisten Texten wird die Phase der Adoleszenz als die der Auseinandersetzung mit den Erziehungsmethoden der Erwachsenen, d. i. der Eltern und der Erzieher geschildert.
Anita Schilcher teilt die Erziehungsstile im Rahmen der Familie in vier Kategorien ein, sie spricht von einem autoritären, einem antiautoritären, einem integrativen Stil und vom Stil „laissez-faire“. Von den jugendlichen Protagonisten wird vor allem der erst genannte Stil abgelehnt, weil er zur Gewaltanwendung tendiert und die Kinder nicht als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen werden. Ebenso kritisch wird der Stil „Laissez-faire“ angesehen, weil man hier von Desinteresse der Eltern gegenüber den Kindern sprechen kann. Kinder fühlen sich in solchem Milieu nur geduldet, erleben Gefühle der Einsamkeit. Eindeutig positiv wird der integrative Stil angesehen, weil die Kinder als Persönlichkeiten wahrgenommen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Mit den Kindern wird gesprochen, diskutiert, Kompromisse werden ausgehandelt. (Vgl.: Schilcher 2001, S. 123)
Integrativer Stil der Erziehung in der Familie am Beispiel des Kinderromans Die Ferienfamilie (1987) von Barbara Frischmuth
Nora, die erwachsene Protagonistin dieser Feriengeschichte verbringt Ferien in den Bergen nicht nur mit dem Kind aus ihrer eigenen geschiedenen Ehe, sondern es werden ihr auch drei Kinder aus drei geschiedenen Ehen ihrer Nächsten anvertraut, so auch der ältere Sohn von Noras ehemaligem Mann. Ziemlich komplizierte Familienverhältnisse lassen sich ahnen. In Gesprächen mit den Kindern, die über ihre Verhältnisse zu ihren in der Ferne weilenden Eltern nachdenken, gelingt es Nora, den Kindern einfühlsam manches über das moderne Familienleben zu erklären:
Laja schüttelte nur eine Weile den Kopf und griff dann nach einem Taschentuch. Erst als sie sich umständlich geschneuzt und ein paar Mal geschluckt hatte, sagte sie: „Der Fenek hat heute einen Brief von seiner Mutter aus Australien bekommen. Stell dir das vor, die schreibt sogar aus Australien, und meine Mutter? Meine Mutter sitzt in Wien und schreibt mir nicht, dabei ist das viel näher, und kosten tut es auch nicht soviel.“
„Laja-Mädchen,“ sagte Nora noch einmal, und beinah hätte sie lachen müssen. „Das hat doch nichts mit der Entfernung zu tun, und wenn, dann höchstens umgekehrt… Ich kenne deine Mutter gut genug, um zu schätzen, wie sehr sie an dich denkt. Aber weißt du, sie ist jetzt allein, und das ist nicht gut für sie. Also sucht sie sich Gesellschaft, und an der Universität hat sie sicher genug zu tun.“ (B. Frischmuth, Die Ferienfamilie. S. 86–87)
ad 2.2.) Protagonistinnen der geschichtlichen Romane
In allen von mir oben analysierten Werken wird die Zeitgeschichte literarisch thematisiert. Unter dem Begriff „Zeitgeschichte“ wird generell die jüngste Vergangenheit verstanden, d. h. überwiegend handelt es sich um Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges, wobei die Zeugen dieser Zeit noch leben. (Vgl. M. Dahrendorf 1997)
Die erzählte Zeit in den analysierten Romanen ist unterschiedlich.
a) Im Roman Johanna von Renate Welsh handelt es sich um die Zeit der Wirtschaftskrise. Die 20er und 30er Jahre im Österreich des 20. Jahrhunderts mit dem aufkeimenden und sich schürenden Austrofaschismus bilden die Kulisse des Romans. Die historisch überprüfbaren Ereignisse der Zwischenkriegszeit, die von politischer Unsicherheit, finanzieller Not und Arbeitslosigkeit geprägt ist, sind im Anhang des Buches zusammengefasst und chronologisch dargestellt. Die Protagonistin Johanna trägt Charaktereigenschaften einer starken Frau, obwohl sie von Anfang an von Nachteilen (Waisenkind, Armut, Dienst bei einem geizigen Bauern) begleitet wird. Sie verliert nicht den Mut und dank ihrer Zielstrebigkeit erkämpft sie sich eine bescheidene, trotzdem bessere Zukunft. Die individuelle Existenz wird in unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Ereignissen gesehen.
b) Die Werke Maikäfer flieg von Christine Nöstlinger, Dieda oder das fremde Kind von Renate Welsh und Zehn Tage im Winter von Rosmarie Thüminger haben thematisch die erlebte Perspektive des 2. Weltkrieges mit den autobiographischen Zügen gemeinsam. Wie der Untetitel „Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich“ des Romans Maikäfer flieg andeutet, handelt es sich um eine familiäre Geschichte, erzählt von der neunjährigen Protagonistin, die durch damalige Lebensumstände – Lebensmittelknappheit, Zerstörung, Bombenangriffe, provisorische Unterbringung der Familie, Flucht aus Wien – den Krieg aus der Sicht eines 9-jährigen Kindes erlebt. Die Gefahren der letzten Kriegstage, die fatale Konsequenzen im realen Leben haben können, prägen sich wie gefiltert in das Bewusstsein der kleinen Christine, vermittelt durch Empörungen bzw. durch den Zorn der Eltern. Die Außenwelt verliert für das Mädchen dadurch trotzdem nicht die Punze der ewigen Sorglosigkeit und der endlosen Unbeschwertheit:
Mein Vater brüllte, daß ich das blödeste Kind auf der ganzen Welt sei. Er schrie: „Wenn ein Tiefflieger kommt, stehst du auf der Wiese und glotzt! Wenn die Russen einmarschieren, stehst du an der Gartentür und tratschst mit dem alten Wawra-Trottel, und wenn ein wahnsinniger, besoffener Russe kommt und in der Gegend herumknallt, dann stehst du daneben und schaust zu!“ (Ch. Nöstlinger, Maikäfer flieg! S. 77)
Die Protagonistin Ursel, alias „Dieda“ im Werk Dieda oder das fremde Kind erlebt ihren persönlichen Krieg – während der richtige draußen hinter der Tür des Hauses herrscht –, den Krieg zwischen ihr und dem Stiefgroßvater, von dem der despektierliche Spitzname „Dieda“ stammt. Der despotische, strenge alte Mann, dem die ganze Familie unterordnet ist, verkörpert in den Augen der Protagonistin ein Element, gegen das gekämpft werden muss. Trotzdem verliert Ursel immer wieder diesen ungerechten Kampf und wird mit der groben Kraft gezwungen, sich in den Bahnen des ausschließlichen Gehorsams zu halten:
An diesem Tag begann der Krieg. Der Alte schwor, die Eichhörnchen zu erschießen, die Nüsse stahlen und Teetassen zerbrachen. Dieda lauerte ihm auf. Sie erkannte schon an seinem Schritt, ob er ins Haus ging, um das Luftgewehr zu holen. Dann rannte sie hinauf auf den Balkon und klatschte und kreischte und verscheuchte die Eichhörnchen. Sie wusste genau, dass der Alte nachkommen und dreimal mit der Gewehrschaft zuschlagen würde. Dann würde er sie an der Schulter packen und sein Gesicht würde immer näher kommen.
„Entschuldige dich!“
Sie schüttelte jedes Mal den Kopf. „Ich denke nicht daran. In meines Vaters Garten wird niemand umgebracht!“ (Welsh, Dieda oder Das fremde Kind, S. 9)
Renate Welsh verarbeitete in diesem Werk ihre eigene, durch den Tod der Mutter und eine neue Heirat des Vaters geprägte Kindheit. Dieses Buch ist erst nach langer Zeit des literarischen Schaffens entstanden, nachdem die Autorin zu ihrer eigenen Kindheit den nötigen Abstand der vergangenen Jahre erreicht hatte. R. Welsh äußerte sich zu diesem Problem:
„So lange ich die Geschichte für rein privat hielt und selbst nicht damit im Reinen war, so lange ich noch in einem Rundumschlag mit der Familie meiner Stiefmutter „fertig werden“ wollte, konnte ich mir nicht erlauben darüber zu schreiben. Inzwischen weiß ich, dass meine Familie auch stellvertretend für viele andere steht, möglicherweise war das Schreiben ein notwendiger Akt der Befreiung.“ (Welsh, 2005).
Nach den eigenen Worten der Autorin plant sie die Herausgabe dieser Geschichte für erwachsene Leser.
Die Protagonistin Maria in der Geschichte Zehn Tage im Winter von Rosmarie Thüminger zeigt Mut und Zivilcourage, wenn sie entdeckt, dass ihre Mutter in den letzten Tagen des Krieges einem verletzten russischen Kriegsgefangenen im Dachboden des Hauses ein Versteck gewährt hat. Sie hat sich mit der öffentlichen Propaganda abzufinden, die durch die Lehrerin in der Schule proklamiert, die Russen seien primitiv, feige und hinterhältig. Es gelingt der Familie Marias, Boris unentdeckt gesund zu pflegen. Maria wird durch diese Erfahrung gezwungen zu überlegen, wer die richtigen Helden dieses Krieges sind. Plötzlich sieht sie ihre Umwelt mit anderen Augen, wenn ihr Onkel Hermann der Familie seine Erfahrungen eines deutschen Soldaten von der Front anvertraut:
„Nein,“ rief Mutter. „Nein, du willst doch nicht sagen, daß –“ Mutter unterbrach sich. Sie wagte nicht weiterzusprechen.
„An die 30 Frauen und ein Dutzend Kinder. Dazu vier, fünf alte Männer. Uralte Männer. Alle aus einem Dorf. Alle vor einem großen Grab. Das haben sie selbstverständlich selber geschaufelt. Ist so der Brauch im Osten. Und dann raterattatt“ – Onkel Hermann hob die Hände, als ob er ein Maschinengewehr hielte, und machte eine Schwenkbewegung, einmal hier, einmal zurück.
„Alle tot,“ sagte er und ließ die Arme sinken. „Waren alles Partisanen.“ (R. Thüminger, Zehn Tage im Winter, S. 55)
c) In der Erzählung Besuch aus der Vergangenheit von Renate Welsh wird die Kriegsvergangenheit retrospektiv aufgearbeitet. Es geht hier nicht um die historischen Ereignisse als solche, sondern darum, wie die unterschiedlichen Generationen mit dieser Vergangenheit umgehen. Eine Jugendliche als Vertreterin der vierten Generation wird Frauen der zweiten und der dritten Generation (Großmutter und Mutter) gegenüber gestellt. Geweckt wird hier die Vergangenheit durch das Erscheinen Frau Greenburg, einer jüdischen Emigrantin im Alter der Großmutter. Der Nachdruck wird auf diverse Reaktionen der drei Frauen gelegt, wobei sich Lena, die jüngste von ihnen, mit den Reminiszenzen auf die Zeit des Nationalsozialismus sehr sensibel und eindringlich auseinandersetzt. Vor allem möchte sie jedoch das Verhalten ihrer Oma, die sich für die Vergangenheit verantwortlich, ja sogar schuldig zu fühlen scheint, begreifen. Der Besuch von Frau Greenburg bringt Lena und ihre Mutter dazu, sich aus einer persönlichen Sicht mit dem Leben der Oma in der Kriegszeit näher zu beschäftigen:
Die Mutter blätterte hektisch weiter, zeigte auf ein Bild:
Oma und ihr Bruder auf einem Trümmerhaufen. Er strahlte auch hier, Omas Gesicht war verkniffen.
„Hat sie nie gelacht?“, fragte Lena.
„Glaubst du, sie hätte Grund zum Lachen gehabt?“, fragte die Mutter zurück. „Das da“ – sie klopfte mit einem Finger auf den Trümmerhaufen – „war alles, was von ihrem Haus übrig geblieben ist.“ (R. Welsh. Besuch aus der Vergangenheit, S. 19)
ad 2.3.) Emanzipierte Protagonistinnen
Weil das Leben aus den verschiedensten Gründen kaum nach ihren Vorstellungen verläuft, wollen solche Protagonistinnen dem Leben nicht passiv ausgeliefert sein und übernehmen deswegen die Aktivität. Sie fühlen sich nicht als hilflose Opfer der Situationen, sondern versuchen ihre Umwelt ihren Bedürfnissen und Vorstellungen anzupassen. Es haben sich allmählich polarisierende Geschlechtsrollenmerkmale in den gegenwärtigen Mädchenbüchern konstituiert. So werden z. B. Selbstvertrauen, Aktivität, Duchsetzungsvermögen, hohe Artikulationsfähigkeit, unkonventionelles Äußeres durchaus positiv bewertet und geschätzt. Dagegen abgelehnt und angeprangert werden Minderwertigkeitsgefühle und Eigenschaften wie Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, körperliche Schwäche, Hilflosigkeit, Eitelkeit, Passivität und Introvertiertheit. (Vgl.: Schilcher 2001, S. 54)
Die Scheidung der Eltern steht im Mittelpunkt der Werke Disteltage von Renate Welsh und Der Zwerg im Kopf von Christine Nöstlinger. Jede der Autorinnen hat sich jedoch für die Reaktion der Kinder auf die elterliche Unzulänglichkeit für ihre Bewältigung von Alltagssorgen unterschiedlicher literarischer Mittel bedient. R. Welsh formuliert die Probleme in der Form eines realistischen Problembuches, dagegen wählt Ch. Nöstlinger die Form eines realistischen Kinderromans mit phantastischen Elementen. Sarahs Mutter im Roman Disteltage ist infolge der Scheidung unfähig zu leben. Sie leidet unter Depressionen, verzichtet auf den Haushalt, die Sorge für die Tochter und schließt sich langsam in ihre kranke innere Welt ein. In dieser Situation übernimmt Sarah aktiv die Rolle der Fürsorgerin, bis andere Familienangehörige selbst Hilfe leisten können. Wenn Sarah ihre Mutter in der Klinik besucht, schämt sich die Mutter vor ihrer Tochter für ihren Zustand; ihre Gefühle sind aus Reue und Schuld gemischt.
Anna, die Protagonistin der Geschichte Der Zwerg im Kopf, schafft das ewige Zanken der Großeltern um sie selbst und die Aufteilung in die sog. Mama- und Papa Wochenenden nicht allein. Die Autorin findet für Anna einen Ausweg in der eskapistischen Lösung der Situation. Ein Zwerg, also eine durchaus märchenhafte Figur, eine übernatürliche Kraft muss kommen, um das verzweifelte Mädchen zu beraten und ihr zu helfen. Seine Botschaft ist erst zu Ende, wenn sich die Familienkonstellation einigermaßen beruhigt hat. Durch die ‚Aushilfe‘ des Zwergs wird Anna jedoch nicht weniger emanzipiert und selbstbewusst. Ch. Nöstlinger wollte zeigen, dass es für die Kinder unmöglich und unreal ist, für ihre Eltern Auswege aus zwischenmenschlichen Krisen zu finden.
Ad 2.4.) Protagonistinnen mit einem ausgeprägten Gerechtigkeits- und Solidaritätsgefühl im Rahmen der peer-group bzw. der Familie
In der Geschichte Eine Krone aus Papier von Renate Welsh verbindet Theresa und Nicole, zwei gleichaltrige Klassenfreundinnen, eine vorpubertäre, oberflächliche Freundschaft. Die Problematik der Selbstbewertung wird fast täglich durch Tagträume vom Prinzessinnen-Sein gelöst. Obwohl Theresa ihre intellektuell orientierten Eltern liebt, träumt sie von einem reicheren und schöneren Vater, wobei seine bestehenden Charaktereigenschaften beibehalten bleiben sollen. Die aus einem anders sozial orientierten Umfeld stammende Nicole hat keinen Vater, sie wird von ihrer Mutter, einer Parfümerie-Verkäuferin, erzogen. Die kindlich naive Freundschaft der beiden Protagonistinnen wird auf einem Sommerfest beendet, wenn es zu einem Konflikt samt Ohrfeigen zwischen ihnen kommt. Nach dieser Feier erfährt Theresa von ihren Eltern, dass Nicoles Mutter krebskrank ist. Diese Tatsache hat die Funktion eines Katalysators der Handlung:
„Nicole muß ins Kinderheim, solange Petra im Krankenhaus ist“, sagte die Mutter. „Hat sie keine Oma?“ „Nein.“ „Keine Tante? Keine Freundin?“ „Niemanden. Petra hat zwei Kolleginnen, mit denen sie ab und zu etwas unternimmt, aber die haben weder Zeit noch Platz für ein Kind. Ich weiß auch nicht, was mit ihrer Familie ist.“ (R. Welsh. Eine Krone aus Papier, S. 123)
Nach diesem Gespräch zwischen Theresa und ihrer Mutter wird vereinbart, dass Nicole vorübergehend bei Theresas Eltern wohnen kann. Die Freundschaft zwischen den beiden Mädchen vertieft sich. Sie hören auf, über die Sachen, die Kleidung, das Aussehen und die Anerkennung der Jungen in der Klasse zu sprechen und vertrauen sich häufiger ihre Ängste und Gefühle an. Empathie und Kommunikation ersetzen den ständigen Kampf um bloße Äußerlichkeiten. Mit dem Eintreten der ernsthaften Krankheit und aufgrund des geäußerten Einfühlungsvermögens der Eltern von Theresa bekommt der Text eine neue Perspektive. Dank ihr entwickelt sich die Beziehung der Protagonistinnen zu einer tieferen Teenager-Freundschaft. (Vgl.: A. Schilcher 2001, S. 326–332)
Laura, die Protagonistin der Geschichte das Gesicht im Spiegel von Renate Welsh, ist adoptiert, was jahrelang kein Problem war. Sie versteht sich mit ihren Adoptiveltern und ihrem Stiefbruder einwandfrei. Plötzlich muss sie immer häufiger an ihre biologische Mutter denken. Die Zeit bringt sie zur tieferen Besinnung und zur Reflexion. Sie macht sich Vorwürfe, dass sie ihre Adoptiveltern mit ihrem Benehmen kränken würde, dass sie ihr Verhalten als Ablehnung ihrer Elternliebe erklären würden. In einem Brief äußert Laura das Interesse am Treffen mit der Mutter. Als sie die Antwort von Frau Riedmüller – ihrer biologischen Mutter – auf ihren Brief erhält, ist sie gleichzeitig enttäuscht und erleichtert. Die Mutter erklärt in dem Schreiben, dass die Zeit vor zwölf Jahren, als Laura geboren wurde, für sie sehr schwer war, dass sie damals keinen Platz auf der Welt hatte und keine Zukunft für sie sehen konnte. Sie ist der Meinung, dass sie das Treffen mit Laura noch nicht verkraften würde. Vielleicht irgendwann später, wenn beide reifer und älter sind.
„…Ich glaube, es ist zu früh für uns beide, uns zu treffen und kennen zu lernen. Ich glaube, es würde uns beide nur noch mehr verwirren. Ehrlich gesagt, habe ich große Angst davor, dich zu enttäuschen, ich glaube nicht, dass ich dir eine Mutter sein könnte…. Wenn es deine Mutter erlaubt, möchte ich dir gerne zum Geburtstag eine Karte schreiben, dein Geburtstag ist immer noch ein schwieriger Tag für mich. Vielleicht kann ich dir, wenn du erwachsen bist, eine Art ältere Freundin werden… Deine Ursula.“ (R. Welsh. Das Gesicht im Spiegel, S. 123)
Laura weiß jetzt mehr von ihrer eigenen Mutter, fühlt sich aber plötzlich leer. Glücklicherweise stellt sie fest, dass sie in der adoptiven Mutter nicht nur eine ‚Ersatzmutter‘ hat, sondern auch eine gute Freundin, einen Menschen, der sie liebt und ihr nahe steht:
Mama kam herein. „Ist es sehr schlimm?“ Sie setzte sich neben Laura, versuchte aber nicht einen Blick auf den Brief zu werfen.
„Nicht so sehr schlimm, mehr verwirrend. Ich glaube, es wäre einfacher, wenn ich böse auf sie sein könnte.“
„Hast du große Sehnsucht nach ihr?“
Laura dachte lange nach, schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht mehr. Ich bin nur so leer innen drin.“ (R. Welsh. Das Gesicht im Spiegel, S. 124)
ad 2.5.) Die Protagonistin als Außenseiterin
a) Die in Österreich lebenden Ausländerinnen (Spinat auf Rädern; Ülkü das fremde Mädchen; Fidan).
b) Außenseiterin auf Grund der Andersartigkeit (Man nennt mich Ameisenbär; Die feuerrote Friederike; Drachenflügel).
Protagonistinnen der oben erwähnten Bücher, die als Außenseiterinnen bezeichnet werden können, müssen oft mit der Angst kämpfen, die durch objektive, von ihnen nicht verschuldete Gründe verursacht wird. Mit der Zeit wandeln sich in der Mädchenliteratur die Angstausprägungen bei Kindern. Überwog in den sechziger Jahren die Angst vor Tieren, Körperbeschädigungen, Gespenstern, Geistern, Einbrechern, Autoritäten und Angstträumen, so waren in den neunziger Jahren die Angst hervorrufendenen Faktoren vor allem Krieg, Krankheiten, böse Träume, Umweltkatastrophen und fremde Leute. (Vgl.: M. Sahr 2001, S. 7)
ad 2.5.a) Fidan, die Protagonistin des gleichnamigen Buches von Rosmarie Thüminger, ein zwölfjähriges kurdisches Mädchen, das mit seinen Eltern und der älteren Schwester Zozan in Wien lebt, kann wegen ihrer Angehörigkeit zur Familie der in Österreich lebenden Moslems als Außenseiterin bezeichnet werden. Trotzdem erlebt sie eine andere Art Angst, als die vor den Österreichern, vor der anderen Religion bzw. Moral. Fidan fürchtet, ihre Schwester zu verlieren. Die Eltern wollen später wieder in die Türkei zurückkehren und erwarten von ihren Kindern, dass sie sich an die Regeln der islamischen Tradition halten. Zozan verstößt gegen die strengen Moralvorstellungen der Moslems, indem sie sich in einen jungen Österreicher verliebt. Zozan drückt prägnant aus, welche Probleme das Leben in Österreich für die Kurden bringt:
„Die Eltern nehmen uns mit nach Österreich, sie schicken uns in die Schule, in die Lehre. Wir sehen, wie die Menschen dort leben. Auch wir leben in Österreich ein anderes Leben. Wir verändern uns. Und unsere Eltern wollen ja auch, daß wir uns verändern und anpassen. Sonst könnten wir dort ja gar nicht bestehen. Ich muß mich anpassen, wenn ich auf meiner Lehrstelle zurechtkommen will. Aber gleichzeitig wollen die Eltern, daß wir dieselben bleiben. Daß wir uns nicht verändern. Daß wir weiter leben, wie wir in der Türkei gelebt haben, damit wir später hier wieder leben können.“ (R. Thüminger. Fidan, S. 100)
In diesem Buch wird keine Abneigung, bzw. kein Ausländerhass gegenüber den Ausländern spürbar, im Gegenteil, Zozan wird von ihrer österreichischen Arbeitgeberin geschätzt und gut bewertet. Frau Köstner, wie die Besitzerin des Frisiersalons heißt, kommt zu Zozans Eltern zu Besuch, um für das Mädchen und ihre Zukunft zu plädieren:
„…Ich denke, das wichtigste für ein Mädchen ist eine gute Berufsausbildung. Dann ist sie selbständiger und hat für ihr ganzes Leben größere Chancen… Zozan ist schon über sechzehn Jahre alt. Sie hat eigene Vorstellungen, wie sie leben möchte. Geben Sie ihr wenigstens die Chance, die Lehre abzuschließen!“ (Thüminger. Fidan, S. 115–116)
Mit der Ablehnung und Verachtung der Gleichaltrigen hat sich Maria abzufinden, die Protagonistin des Werkes Spinat auf Rädern von Renate Welsh. Die Tochter der rumänischen Eltern, die vor einiger Zeit nach Wien umgesiedelt sind, fühlt sich dort einsam und verlassen. Die Kinder sind spöttisch und rufen ihr „Rumänin“ nach. Mit den immer größer werdenden Gefühlen der Einsamkeit und Andersartigkeit idealisiert sich Maria ihre rumänische Heimat. Ausländerhass und Abneigung der Österreicher gegenüber den anderen in Österreich lebenden Nationen erlebt Maria persönlich in Form offener Anschuldigungen und feindlicher Angriffe der Mitschüler, die die zu Hause ausgesprochenen Meinungen ihrer Eltern über Ausländer in der Klasse weiterleiten:
In der letzten Stunde schob ihr Katja einen Zettel hin. „Gib mir das Lesezeichen zurück,“ stand darauf.
Zu ihrer eigenen Überraschung schrieb Maria zurück: „Nein. Das war ein Geschenk für mich.“
Katja zischte: „Überhaupt nicht. Für meine Freundin, hat meine Tante gesagt. Du bist nicht meine Freundin, Ines ist meine Freundin, also gehört es ihr.“
Maria schüttelte den Kopf. Reden war ihr zu gefährlich.
„Diebin!“
„…Mein Vater sagt auch, seit die Rumänen da sind, wird ständig gestohlen,“ sagte Fred.
„War sogar im Fernsehen,“ bestätigte Ines. „Dabei haben wir doch zu Weihnachten soviel gespendet, sagt meine Mutter. Und meine Oma sagt, wir haben hier viel mehr wiederaufbauen müssen, aber daran denkt keiner.“ (R. Welsh. Spinat auf Rädern, S. 65–66)
ad 2.5.b) Außenseiterin auf Grund der Andersartigkeit
Scheinbar gibt es bei den Protagonistinnen der Bücher Man nennt mich Ameisenbär und Die feuerrote Friederike von Ch. Nöstlinger einen gemeinsamen Nenner, warum Maria Theresia und Friederike als Außenseiterinnen zu bezeichnen sind, und zwar ihr Aussehen. Friederike wird von ihren Mitschülern wegen ihrer roten Haare ausgelacht, Thesi, die Hauptfigur des Buches Man nennt mich Ameisenbär wegen ihres unangemessen kleinen Kinns und langer Nase. Ch. Nöstlinger läßt sich beide Mädchen gegen die zugeteilte Ungerechtigkeit aktiv wehren, wählt jedoch differenzierte Formen der literarischen Darstellung. Die feuerrote Friederike gehört zum Genre der phantastischen Geschichte bzw. der realistischen Geschichte mit phantastischen Elementen. Friederike will sich gegen den Hass der Mitschüler wehren und unternimmt tatsächlich alles dafür, realistisch gesehen wäre es jedoch für sie allein unmöglich, gegen die Übermacht der angreifenden Kinder erfolgreich zu sein. Im Sinne des Eskapismus und der Flucht vor der Realität müssen Zauber und übernatürliche Kräfte eintreten, und so geschieht, dass Friederikes rotes Haar die Zauberkraft der Segel bzw. Flügel erhält. Die Flucht in ein besseres Land ist für Friederike der einzige Ausweg.
Vollkommen anders, durchaus realistisch und mit Witz wird die Andersartigkeit von Thesi aus dem Buch Man nennt mich Ameisenbär gelöst. Thesis lange Nase wird zwar Grund zum Ausgelachtwerden von seiten der Mitschüler, dieser Spott ist jedoch nicht erniedrigend und enthält keinen feindlichen Dorn, sondern er ist kameradschaftlich. Z. B. dient Thesis Aussehen für die Mitschüler als ein Merkmal, mit dessen Hilfe man Thesi von den anderen Mädchen besser unterscheiden kann:
„Wo ist die Bockstandl? Die Bockstandl hat ihren Handarbeitskoffer daheim vergessen! Ihre Mama war so nett und hat ihn gebracht!“
Da hatte der Peter gesagt: „Die Bockstandl Thesi steht am Fenster drüben!“
Weil die Klasse aber drei Fenster gehabt hatte und an jedem Fenster ein paar Mädchen gestanden waren, hatte der Schulwart gefragt: „Welche ist die Bockstandl?“ Und der Peter hatte geantwortet: „Die dort, die mit der großen Nase!“ Ganz ohne Spott, bloß als Hinweis hatte er das gesagt, doch Thesi hatte zu weinen angefangen. (Ch. Nöstlinger. Man nennt mich Ameisenbär, S. 28–29)
Im Gegensatz zu Friederike, die gar keinen Kontakt mit ihren Gleichaltrigen hat und die Freizeit in der Wohnung ihrer alten Tante verbringt, ist Thesi sowohl zu Hause als auch unter den Mitschülern beliebt. Wenn es doch Diskrepanzen gibt, ist Thesis ältere Schwester Sophie da, die sich für ihre jüngere Schwester raufen kann:
„Hat deine Schwester immer so einen Wuchtschlag?“ fragte der Charlie.
„Ich weiß nicht“, sagte Thesi. „Sie haut sonst nie!“ (Ch. Nöstlinger. Man nennt mich Ameisenbär, S. 133)
Wo Friederikes Charakter im Buch nicht erwähnt ist, nur dass sie eine Musterschülerin mit einem ausgezeichneten Fortgang ist, sind Thesis Charaktereigenschaften und ihre Beziehung zu ihrer Umwelt detaillierter dargestellt. Es wird z. B. über ihre liebevolle Beziehung zu anderen Familienangehörigen gesprochen, vor allem aber zur Großmutter und zur Schwester Sophie.
Die kameradschaftlichen Beziehungen Thesis zu den Mitschülern werden mit kleinen Zärtlichkeiten bewiesen:
Als Thesi an diesem Tag von der Emma heimging, begleitete sie der Josef-Maria zur Straßenbahnhaltestelle. Thesi wartete, bis die Straßenbahn in die Haltestelle eingefahren war, dann küßte sie den Josef-Maria blitzschnell auf das rechte Ohr und auf das linke auch und sprang in die Straßenbahn.
Die Straßenbahntüren klappten zu. Durch die Türscheibe sah Thesi den Josef-Maria. Er stand an der Haltestellentafel und hielt sich die Hände an die Ohren und lächelte ihr zu. (Ch. Nöstlinger. Man nennt mich Ameisenbär, S. 149)
Anne aus dem Buch Drachenflügel von Renate Welsh fühlt sich wegen ihres spastisch gelähmten Bruders Jakob als Außenseiterin. Aus lauter Liebe zu ihm baut sie einen schützenden Wall um sich und ihre Familie. Sie isoliert sich immer mehr von ihrer Umwelt:
„Welche Anne meinst du?“ fragte der Leiter der Musikschule eben und Lea antwortete: „Die mit dem behinderten Bruder.“
Anne drehte sich auf dem Absatz um, rannte die Treppe hinunter, rannte aus dem Haus, rannte über die Straße. (R. Welsh. Drachenflügel, S. 70–71)
Lea gibt jedoch nicht auf, als es so aussieht, dass die Freundschaft zwischen ihr und Anne zu Ende geht. Sie erklärt Anne, dass die Krankheit ihres Bruders eine ernsthafte, jedoch unveränderbare Tatsache ist. Sie überzeugt Anne von ihrem Einfühlungsvermögen gegenüber ihrem kranken Bruder und lehnt resolut die Falschheit in der Kommunikation ab:
„Die mit dem behinderten Bruder hast du gesagt.“
„Aber du hast doch einen behinderten Bruder.“ Genau wie Anne es sich vorgestellt hatte. Sogar im selben Tonfall.
„Ich geh jetzt,“ sagte Anne. Lea packte sie am Arm.
„So kommst du nicht weg. Die ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf…“ (R. Welsh. Drachenflügel, S. 70–71)
Anne wird eine sehr gute, aber leider überempfindliche Beobachterin, was das Benehmen der Menschen aus ihrer Umwelt angeht. Grundsätzlich lehnt sie falsches Mitleid ab. Leas Aufgabe ist es, die Situation objektiv zu bewerten, und sie hilft Anne, die Situation so zu sehen, wie sie ist:
„Wie einen Hund hat sie ihn gestreichelt!“
„Und woher weißt du, dass es nicht freundlich gemeint war?“, fragte Lea. „Du tust ja so, als hätte sie auch Spasti´ geschrien.“ (R. Welsh. Drachenflügel. S. 100)
Allmählich ist Anne fähig, Jakob so wahrzunehmen, wie er ist. Sie beseitigt den schützenden Wall um sich und ihn und ist imstande, über die kleinen Alltagsfreuden nachzudenken, die nicht nur ihrem Bruder Spaß machen würden.
„Kommst du nach dem Essen zu mir?“, fragte Lea.
„Wir könnten das Stück zusammen spielen, du weißt schon…“
„Nein“, sagte Anne und spürte, wie Lea zusammenzuckte. „Komm lieber du zu mir. Jakob freut sich so, wenn man ihm vorspielt.“ (R. Welsh. Drachenflügel, S. 102)
ad 2.6.) Protagonistinnen der Liebesgeschichten
In den von mir analysierten Texten wird das Thema Liebe sehr subtil angesprochen. In den meisten Büchern kann man eher von den Andeutungen der Zuneigung und einer tieferen Freundschaft bzw. der ersten Liebe sprechen, die Sexualität wird strikt tabuisiert. Der Zustand der Verliebtheit wird fast ausschließlich verbal geäußert bzw. durch die innere Welt – platonische Vorstellungen und Träume – der Protagonistin. Das Interesse am anderen Geschlecht wird zunächst verheimlicht, wird von den Gefühlen der Verlegenheit und Peinlichkeit begleitet. In den Texten der 90er Jahre vertieft sich eine emanzipatorische Beziehung der Mädchen zur Liebe und Sexualität. Die Mädchen lassen sich nun von den Jungen nichts vormachen, wegen eines Jungen lohnt es sich nicht zu leiden bzw. unglücklich zu sein. Mädchenhaftes Verhalten, charakterisiert durch Unterordnung, Anpassung und Geduld, wird abgelehnt und kritisch wahrgenommen.
Die Hauptfigur Olivia des Buches Schneckenhäuser von R. Welsh erlebt gerade gestörte Beziehungen in der Familie und zu den Mitschülern und flüchtet in eine innere Isolation. Gegenüber dem Kind, das ihre Mutter bald auf die Welt bringen soll, trägt sie vor allem Gefühle der Eifersucht. In dieser Situation steht ihr ihre Urgroßmutter nah.
Die Schilderung der beginnenden Zuneigung und Liebe zwischen Olivia und Arno ist sehr subtil, Olivia lässt die vergangene Begegnung mit Arno in ihrer Phantasie noch einmal Revue passieren. Die Beschreibung der Natur im nächsten Absatz soll den platonischen Charakter der Beziehung erhöhen und Olivias Gefühle des Glücks unterstreichen:
Arnos Haarwirbel links über der Stirn tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf, sein Lächeln, das Muttermal auf seinem Ohrläppchen, seine Wimpern voller Schnee bei ihrem Nebelspaziergang. Sie legte ihre Fingerspitzen aneinander; knapp bevor sie sich berührten, spürte sie etwas von der Elektrizität, die zwischen ihrer Hand und Arnos Hand geknistert hatte.
Sie blickte am Stamm einer Tanne hinauf, sah mit zurückgelegtem Kopf die Äste und Zweige gegen den blauen Himmel, sah die golden schimmernden Zapfen, und der Baum schien sich zu drehen, aber auf eine Art, die nicht schwindlig machte. (R. Welsh. Schneckenhäuser, S. 84)
Physisches Heranreifen der Protagonistin wird mit dem psychischen eng verbunden. Die sterbende Urgroßmutter bringt Olivia zum Nachdenken über den Tod, das Mädchen spricht mit ihr offen darüber. Sie nimmt die Symbolik des Todes und der Geburt eines Kindes in der Familie als eine kausale Verbindung wahr:
Jetzt hatte sie es selbst gesagt, was bisher nur ein vages, nicht in Worten zu denkendes Gefühl gewesen war: Das Kind fraß der Uri das Leben weg. Die Uri mußte sterben, weil das Kind kommen wollte. (R. Welsh. Schneckenhäuser, S. 106)
Die beginnende Liebe zwischen Eva und Peter bildet den inhaltlichen Kern der realistischen Jugendgeschichte aus dem 2. Weltkrieg, Das Haus in den Bäumen von Renate Welsh. Die Kriegsereignisse bilden den äußeren Rahmen der Geschichte. Die zwei Protagonisten verbringen zusammen viel Zeit im wilden Garten hinter dem Haus. Ein gemeinsames Nest, erbaut in den Zweigen einer Baumkrone, bedeutet symbolisch die immer stärker werdende Zuneigung und soll ein gemeinsames Zuhause darstellen. Die physische Nähe der beiden Kinder ist jedoch mit den Gefühlen der Peinlichkeit und der Scham empfunden. Wenn sie aus dem Floß ins Wasser fallen und ihre ganze Kleidung samt Unterwäsche ausziehen müssen, werden nur zufällige Berührungen Grund zur Verlegenheit:
Nach einer Weile wurde Eva kalt. Sie suchte mit der Hand nach warmen, glatten, Steinen, erwischte dabei Peters Finger. Sofort zuckte sie zurück.
„Warum können wir eigentlich nicht miteinander reden?“ fragte Peter später.
„Weil wir nichts anhaben“, antwortete sie. (R. Welsh. Das Haus in den Bäumen, S. 129)
Subtile Liebe wird zum Mittelpunkt der phantastischen Erzählung Der kleine Faun von Lene Mayer-Skumanz. Der Inhalt spielt in Rom, die Heldin ist ein zehnjähriges Mädchen Carina. Wenn sie einmal krank im Bett liegt, besucht sie die belebte Statue eines Fauns, der aus einem der Römer Museen flüchten musste, weil er von den Dieben gestohlen werden sollte. Faun und Carina erleben gemeinsam einige Abenteuer und verlieben sich für die kurze Zeit in einander. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Fauns erzählt, Carina bildet das Objekt seines Interesses. Ihre gegenseitige Zuneigung wird durch ihre gemeinsame wohltuende Tätigkeit – die Hilfe – nicht nur an den Menschen, sondern auch an Tieren, Bäumen und Pflanzen Roms dargestellt.
In den „Phantastischen Geschichten“ werden Sachen belebt, sie können sprechen und unterstützen hier die Liebe des Fauns und der Carina:
Blumen und Obst, alles rundum regte sich auf: „He, kleiner Faun, da hat uns eine Biene eine Nachricht vorgetanzt. Vierundzwanzigtausend Flügelschläge Richtung Sonnenaufgang hat ein Menschenkind Sehnsucht nach dir. Sein Haar riecht nach Lindenblüten, und seine Haut hat die Farbe von Anemonenknospen. Es hat eine Orange für die bereitgelegt. Was ist los mit dir, kleiner Faun, du bist doch sonst nicht träge?“ (L. Mayer-Skumanz. Der kleine Faun, S. 45)
Als ein Jugendroman in Briefen – der einzige unter den von mir analysierten Werken – mit dem Thema der ersten Liebe kann das Werk Eine Hand zum Anfassen von Renate Welsh bezeichnet werden. Seine Protagonistin Nickel verweilt gerade bei ihrer sterbenden Großmutter in England. Das anfängliche Entsetzen vor den Krankheiten und vor dem Tod weicht einer wachsenden Fähigkeit, sich in die Kranken hineinzuversetzen. Nickel schildert ihren Alltag im Sanatorium ihrem Freund Felix. Manchmal verkraftet sie die Realität nicht und sie verabschiedet sich dann von Felix mit den Worten „Deine verwirrte Nickel“. Die Korrespondenz mit dem entfernten Freund hilft Nickel, sich über ihre Empfindungen klar zu werden:
„Erinnerst Du Dich an den Mann mit dem Kehlkopfkrebs? Er ist gestern gestorben. Seine Frau war bis zum Schluß bei ihm. Ich traf sie auf dem Gang, als sie aus seinem Zimmer kam. Sie lächelte mich an, gar nicht verzerrt oder gequält, sie hat wirklich gelächelt, und ich hab gespürt, dass sie die Glocke noch hat, weißt Du, die um die beiden war…. Am liebsten würde ich in den Garten laufen und mich ins feuchte Gras legen und in den Himmel schauen, da hängt ein dicker Halbmond ganz schief, und es gibt mehr Sterne als sonst.“ (R. Welsh. Eine Hand zum Anfassen, S. 71)
In den Briefen werden keine Intimitäten mitgeteilt, nur in subtilen Andeutungen kann der Leser erkennen, dass sich Nickel die Nähe ihres Freundes wünschen würde:
„Und jetzt geht´s mir gut, und ich bin müde, und es war sowieso nichts, das ich dringend schreiben müßte, also schick ich Dir nur einen Nasenstüber, und es macht mir gar nichts aus, daß ich Dir bloß schreibe, wenn ich´s brauche.“ (R. Welsh. Eine Hand zum Anfassen, S. 77)
ad 2.7.) Die Protagonistin als Trägerin der „rigiden“ Mittelschicht-Normen
Die Mehrheit der in diesem Kapitel behandelten Werke stammt von Christine Nöstlinger, die in ihrem Werk den tiefsten und meist offenen Einblick in das Zusammenleben österreichischer bzw. Wiener kleinbürgerlichen Familien machte. Das Niveau des Lebens, die familiären Krisen werden aus der Perspektive der Heranwachsenden meistens distanziert geschildert.
Lotte Prihoda, die Protagonistin der realistischen Geschichte Der Spatz in der Hand ist gegenüber ihren Eltern, den Gemüsehändlern, sehr kritisch, sie selbst übernimmt allmählich jedoch ihre Verhaltensweisen. Die schönsten Stunden ihres Alltags verbringt sie ihrer Meinung nach in einem Klo im Hof des Gemeindehauses, wo sie mit ihren Eltern wohnt. Von dort kann sie die Bewohner des Hauses kritisieren. Sie nimmt vor allem das soziale Milieu ihrer Eltern und ihrer Nachbarn als einen Störfaktor wahr.
Wenn sie auf der Klomuschel stand, konnte sie in den Hof hinunterschauen; auf die Abfallkübel, die Klopfstange und die zerzausten Fliederbüsche. Und wenn sie sich am Fensterbrett hochzog und den Kopf zum Fenster hinausstreckte, konnte sie ins Zimmer vom alten Franz schauen; auf den Petroleumkocher und das zerwühlte, schmutzige Bett und das große Bild an der Wand. (Ch. Nöstlinger. Der Spatz in der Hand, S. 9)
Mariechen, die Protagonistin der Feriengeschichte Villa Henriette lebt am Rande von Wien im Kreise einer größeren Familie, die auf Grund der fraglichen unternehmerischen Aktivitäten der Großmutter ihr einziges gemeinsames Haus verkaufen muss. Mariechen verbindet die Familienmitglieder mit dem Onkel, den alle in der Familie für irre halten. Sie wird letztendlich als Erbin seines Vermögens bestimmt. Mit Hilfe des erworbenen Geldes kann das von der Großmutter verschuldete Haus zurückgekauft und das Familienhaus gerettet werden. Mariechen steht den Familienangehörigen nicht kritisch gegenüber wie die Protagonistinnen der anderen Bücher – Lotte Prihoda, Ilse Janda oder Gretchen Sackmeier -, sondern sie ist optimistisch und in ihrem Handeln erwachsen und selbstbewusst. Sie möchte für ihre unpraktischen Familienmitglieder wirtschaftlich handeln und so die Familie aus den Wirtschaftsproblemen retten.
„Na schön!“ Mariechen klopfte auf die rosa Mappe, die neben ihrem Teller lag. „Da ich nun Hausbesitzerin bin, habe ich die Verantwortung für die Villa, und ich bin dagegen, daß sie zusammenbricht.“ Sie schlug die Mappe auf. „Ich habe drei Mietverträge ausgearbeitet. … Der übliche Quadratmeterpreis in der Gegend, sagt der Großonkel, beträgt hundertvierzig Schilling, aber ich bin kein Miethai, außerdem sind wir verwandt. Ich denke, die Hälfte ist gerecht, vor allem, da ich Küche, Klos und die zwei Bäder nicht einrechne und pro Person fürs Wohnzimmer nur je fünf Quadratmeter anrechne.“ (Ch. Nöstlinger. Die Villa Henriette, S. 233)
Claudia, die Protagonistin der Erzählung Wie in fremden Schuhen von Renate Welsh sieht in den Erwachsenen, mit denen sie lebt, keine Vorbilder. Von ihrem eigenen Vater erlebt sie Falschheit, der Stiefvater ist arbeitslos und streitet oft mit der Mutter. Claudia denkt oft an die verbrachte Zeit auf dem Lande bei der Oma, vergleicht das Verhalten der Kinder auf dem Lande mit dem der städtischen Kinder.
Während des Monologs des Vaters kann sie seine leeren Versprechungen und Ausreden gut dechiffrieren:
Er ging in die Küche, bevor Claudia noch den Mund aufbrachte, kam nach ein paar Minuten zurück, redete, redete. Er habe Pech gehabt in den letzten Jahren, aber jetzt werde sich alles ändern, sehr bald schon, und wenn Claudia Lust habe, könne sie nächstes Jahr mit ihm auf Urlaub fahren, fliegen natürlich, sie müsse doch das Meer kennenlernen, und wenn sie erst richtig braun wäre, wäre sie noch hübscher, Gelb solle sie tragen, das würde zu ihren dunklen Augen und dunklen Haaren wunderbar aussehen, und später könne sie dann bei ihm arbeiten, in seinem Lokal. (R. Welsh. Wie in fremden Schuhen, S. 96)
Am Ende ist Claudia fähig, eigene Entscheidungen zu treffen, die Realität mit offenen Augen zu sehen, und sie kann ihre Mutter besser verstehen.
2.8. Auswertung
Die Mehrheit der von mir analysierten Bücher unterliegt der Phase der sog. emanzipatorischen Mädchenliteratur. Es ist in ihnen die Intention zu spüren, die traditionellen Geschlechtsrollenzuschreibungen in Frage zu stellen. Das wichtigste Thema ist das Thema der Familie, die nicht mehr als Ort der Geborgenheit und Harmonie erscheint. Aus allen Kategorien, in denen die Protagonistinnen dargestellt wurden, geht hervor, dass für sie die Familie eine wesentliche Rolle spielt. Die Familie ist der Ausgang, der erste Ort, in dem ihre Persönlichkeit gebildet wird, sie ist jedoch kein ruhiger Hafen mehr. Im Sinne der antiautoritären Literatur der 70er Jahre wehren sich die Protagonistinnen immer mehr gegen die Strenge, Falschheit, Unzulänglichkeit und Lügen der Erwachsenen und übernehmen selbst die aktive Rolle bei Entscheidungen nicht nur für sich selbst, sondern manchmal auch für die Eltern. Die Mütter werden oft mit hasserfüllten Augen der adoleszenten Mädchen gesehen, das sich aus der Abhängigkeit an den Eltern befreien will (Nöstlinger).
Weitere Themen des ‚emanzipatorischen‘ Mädchenbuchs sind die Auseinandersetzung mit autoritären Strukturen in Schule und Gesellschaft und das Engagement für Randgruppen (Nöstlinger, Welsh, Lobe, Mayer-Skumanz). Einige Mädchenbücher von Ch. Nöstlinger haben „…keine normative Struktur, d. h. es geht in ihnen nicht darum, den Leserinnen Modelle vorzuführen, die als Vorbild dienen sollen. …hier trifft eher der Begriff des sozialen Realismus zu – bei Ch. Nöstlinger ein drastischer Realismus, der sich mit komischen und grotesken Zügen verbindet…“ (D. Grenz 2000, S. 343–344)
Die analysierten Bücher, die in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, gehören zur psychologisch orientierten Mädchenliteratur. Anstatt die Frage der Gleichberechtigung zu lösen, wird über das Bilden einer weiblichen Geschlechtsidentität im Sinne von gender-studies gesprochen, „…die weder in der Übernahme ‚männlicher‘ Eigenschaften noch einer polaren Entgegensetzung zu ihnen aufgeht, sondern ‚anders‘ ist.“ (D. Grenz 2000, S. 344)
Im psychologischen Mädchenroman werden anstatt der äußeren Handlung vor allem Gefühle, Erinnerungen und Phantasien der Protagonistinnen dargestellt. An die Stelle der vollständigen Familie mit autoritären Strukturen und traditioneller Rollenverteilung tritt oft die Teilfamilie. (Treiber, Welsh).
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