„Wann Krieg beginnt, kann man wissen, aber wann beginnt der Vor



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14. Die Sehergabe

Die Sehergabe, nach der Kassandra verlangt, geht mit dem Willen zur Wahrheit einher, dieser Wille, der auf die Erkenntnis einer Wahrheit und einer Wirklichkeit zielt. Sie durchbricht mit ihrem Verlangen die Grenzen des ihr zugewiesenen Ortes: Mit ihrem Streben nach der Sehergabe geht die Ablehnung der gesellschaftlich gebotenen Frauenrolle einher. Die Folge dieses Denkens und der daraus resultierenden Erkenntnis ist die Distanz: Kassandra verliert nicht nur den Bezug zu den Ihren, sie verliert zugleich den Glauben an die Götter.


1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 47

2. Ebenda, S. 49

3. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 34

„Die Trennung von den Eigenen kann nicht als ein ehemaliger Akt, der aus einer einmaligen Erkenntnis resultiert, geschehen. Wie Kassandra als des Königs Lieblingstochter in die Palastwelt hineinwuchs und dort ihren Platz fand, so kann sie dieser Welt nur allmählich – durch immer neue Konfrontation auch mit anderen Welten, durch vielfältige und sich steigernde Kenntnisse der Hintergründe der Palastwelt und ihrer eigenen Rolle darin – entwachsen. Das Denken der königlichen Familie kann sie langsam überwinden und kritisieren.

Wie ihre Trennung von den Eigenen sich nur in kleinen, schmerzhaften Schritten vollziehen kann, so benötigt Kassandra für das Aufgeben ihres Glaubens an die Allmacht der Götter eine lange Zeit des sich steigernden Zweifelns. Um handeln zu können, muss sie aber ihre Gedanken bremsen und ihren Zweifel unterdrücken. Der Verlust des Glaubens, den Kassandra schließlich konstatieren muss, markiert die Wende zur neuen Zeit. Für Kassandra bedeutet dieses Ende den erdrückenden/1 „Schmerz um den Verlust all dessen, was ich Vater nannte.“/2
Der Wunsch, der Kassandra Streben nach der Sehergabe zugrunde liegt, ist der nach Würde, danach, Einfluss zu nehmen und geachtet zu werden. Es ist der Wunsch, Verantwortung zu tragen. Es ist ihre Gier nach Erkenntnis. Rückblickend erscheint ihr der vergangene Zustand von Ahnungslosigkeit und Unwissenheit erniedrigend und demütigend. Später stellt sie aber fest, dass diese Aufgabe, die sie gewollt hatte, ist noch schwieriger, als sie sich vorgestellt oder gewünscht hatte.
Bevor Kassandra die Sehergabe bekommen hat, war schon aufgrund einer Begebenheit angenommen geworden, dass sie diese Fähigkeit noch mit ihrem Bruder Helenos haben werden:
„An unserem zweiten Geburtstag seien wir Zwillinge, mein Bruder Helenos und ich…eingeschlafen. Hekabe, die uns suchte, habe zu ihrem Schrecken sehen müssen, wie die heiligen Tempelschlangen sich an uns herangemacht hatten und an unseren Ohren leckten…Seitdem wusste sie: Diese beiden Kinder besäßen von der Gottheit die Gabe der Prophezeiung.“/3
1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 71-72

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 150

3. Ebenda, S. 29-30
Kassandras Wunsch nach der Sehergabe wurde vom Gott Apollon abgehört.
„Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört…Dass es Apollon war, der zu mir kam, das sah sich gleich…Apollon im Strahlenglanz…Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wusste, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige…enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich…in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte.“/1
Kassandras Traum, der sie so viel aufgeschreckt hat, erklärte die Amme Parthena, sie hat Kassandra „den Schlüssel für meinen Traum und für mein Leben in die Hand gab: Wenn Apollon dir in den Mund spuckt, sagte sie mir feierlich, bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben. /2
Kassandra spricht von ihrer Gabe und Voraussetzungen mit Panthoos dem Griechen. Er sagt, dass es Züge in ihrem Wesen gebe, die der Priesterschaft entgegenkämen: ihr Wunsch, auf Menschen Einfluss auszuüben, ihr Verlangen, sich mit der Gottheit vertraut zu nähern und ihre Abneigung gegen die Annäherung irdischer Männer.

15. Drei Schiffe

Drei Schiffe spielen in der Erzählung im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch von Troia eine große Rolle. Drei Schiffe bedeuten für das Volk drei böse und sinnlose Schritte zum unbeabsichtigten Ende.



Das erste Schiff

Von dem ersten Schiff erzählt Anchises, der Kassandra die Geschichte Troias lehrte. Er meint, dass es keine Idee von König Priamos, sondern von Kalchas, war, den Lampos mit einem Schiff in hochgeheimer Mission nach Griechenland zu schicken. Und dazu ist er der Meinung, dass es dumm und unvorsichtig war, das Volk zum Jubeln bei der Ausfahrt an den Hafen zu bestellen und zu lassen. Kassandra sagt: „Mich auch, Anchises. Auf dem Arm der Amme. Licht, Jubel, Fähnchen, blitzendes Wasser und ein mächtiges Schiff.“/3



          1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 19

          2. Ebenda, S. 29

          3. Ebenda, S. 38

Es handelte sich auch um ihr angestammtes Recht, den Zugang zum Hellespont. Die Griechen einigten sich aber nicht über die Bedingungen, Lampos brachte nach Delphi reiche Opfergaben, dort lernte er den Panthoos kennen, der mit ihm freiwillig zurückkam, und der aber als Beutestück dem Volk vorgestellt wurde. Ursprünglich hat Lampos in Delphi bei einer Pythia fragen sollen, ob auf dem Hügel, auf dem Troia stand, noch immer ein Fluch lag. Das tat er aber nicht. Wegen einer Leidenschaft für den Apollonpriester Panthoos sollte Lampos die Befragung der Pythia vergessen haben. Kassandra reagiert auf die Erzählung von Anchises: „Dies alles war so unvorstellbar. So dumm. So schlecht erfunden./1

Die Angelegenheit mit dem ersten Schiff fasst Kassandra so zusammen: „Nicht durch Geburt, ach was, durch die Erzählungen in den Innenhöfen bin ich Troerin geworden. Durch das Geraune der Münder am Guckloch, als ich im Korb saß, habe ich aufgehört, es zu sein. Jetzt, da es Troia nicht mehr gibt, bin ich es wieder: Troerin. Nichts sonst.“/2


Das zweite Schiff

„Wie schwer, fast unmöglich, es doch war, das zweite Schiff als das zu sehn, was es, nach Hekabes Ausruf, wirklich war: eine Angstpartie.“/3

„Fähnchen, Winken, Jubel, blinkendes Wasser, blitzende Ruder…Die Königsschwester oder den Tod! riefen, die zurückblieben.“/4

Kassandra stellte sich die Frage, was so wichtig war, dass Anchises und der Seher Kalchas mit dem Schiff geschickt wurden. Der Grund, oder besser gesagt, der Deckmantel war des Königs Schwester Hesione. König Priamos weinerlich-pathetischer Stimme: „Hesione,…festgehalten von dem Spartaner Telamon, der sie geraubt hat.“ Seine Frau Hekabe spöttisch entgegnete: „Immerhin sei Hesione in Sparta keine erniedrigte Gefangene. Oder? Wenn man recht unterrichtet war, hatte jener Telamon sie zu seiner Frau gemacht? Zur Königin, oder?“ Hier will aber der sonst schwache und fehlerhafte König respektiert und geachtet werden, was aber auch zum großen Fehler wird: „Ein König, der seine entführte Schwester nicht zurückgewinnen suche, verliere sein Gesicht.“ /5

Anchises zurückkam alt geworden, Kalchas zurückkam gar nicht.

„Wie die Troer, die doch alle, gleich mir, die Ausfahrt des zweiten Schiffes bejubelt hatten, später darauf bestanden: mit diesem Schiff habe das Verderben angefangen.“ /6

1., 2.Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 40

3. Ebenda, S. 42

4., 5. Ebenda, S. 43

6. Ebenda, S. 44


„Als das zweite Schiff endlich zurückkehrte, selbstverständlich…ohne die Königsschwester, aber auch ohne Kalchas den Seher, als das Volk sich enttäuscht, ich fand: beinah feindselig am Hafen versammelte, murrend…als der düstere Schatten auf meines Vaters Stirn erschien, das habe ich zum letzten Mal öffentlich geweint…und immer selten heimlich.“/1
Man fragte, wo der Seher Kalchas geblieben ist. Später wurde festgestellt, dass er zu den Griechen übergelaufen, weil er Angst gehabt hatte, zurückzukehren. Man sollte ihn in Troia zur Verantwortung für den Misserfolg der Expedition in der Angelegenheit der entführten Königsschwester ziehen, obwohl er eigentlich zur guten und erfolgreichen Vorhersage gezwungen wurde. Kassandra hatte schon voraus die Ahnung gehabt, dass es passiert. Als sie festgestellt hat, dass sie Recht gehabt hatte, ist in den Wahnsinn gefallen.
„Aineias war es – er, dem ich immer glaubte, weil die Götter es versäumten, ihm die Fähigkeit zu lügen mitzugeben – Aineias war es, der mir alles, Wort für Wort, bestätigte: Ja. Kalchas der Seher war auf eignen Wunsch bei den Griechen geblieben…Und ich, hörte ich mich zu Aineias sagen, ich habe es von Anfang an gewusst…weiß ich seit langem, es war kein Zufall, dass diese fremde Stimme, die mir oft schon in der Kehle gesteckt hatte, in seiner Gegenwart zum ersten mal aus mir sprach…Vier Männer konnten mich kaum halten.“ /2
Das dritte Schiff und der Königssohn Paris

„…weil ich mich zu der Zeit, da es ausgerüstet wurde, gerade auf die Weihe zur Priesterin vorbereitete, dass ich mich mit diesem Schiff gleichsetzte, dass ich insgeheim mein Schicksal mit dem seinen verband.“ /3

Diesmal hat auch Aineias mit seinem Vater Anchises mit geleitet. Ein wichtiges Ereignis in dieser Zeit war „das unvermutete Auftauchen eines verlorenen ungekannten Bruders“ /4 an den Gedächtnisspielen für einen früh gestorbenen namenlosen Bruder.
„Dann, über dem drohend anschwellenden Summen des Stadions die durchdringende Stimme: Priamos! Dieser da ist dein Sohn. Und ich, warum nur, wusste im gleichen Augenblick: Das war die Wahrheit…Und des Fremdling bescheidene Antwort auf die Frage des Königs nach seinem Namen: Paris.“/5, S.59
1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 45

2. Ebenda, S. 46-47

3., 4. Ebenda, S. 53

5. Ebenda, S. 59

Kassandras Stiefbruder Aisakos verkündete vor der Geburt jenes Knaben, dass auf ihm ein Fluch liegt. Ausschlaggebend sei der Traum der Hekabe, die Mutter des Knaben, gewesen: „Die nämlich hatte…kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen. Dies hieß nach der Deutung Kalchas: Das Kind, das Hekabe gebären sollte, werde ganz Troja in Brand stecken.“ /1

Hier tritt der König Priamos ins Spiel ein: „Die einen hätten ihn beschworen, das gefährliche Kind beiseite zu schaffen, die andern, natürlich Hekabe dabei, wollten gerade diesen Sohn als zu Höherem auserwählt retten.“ /2

Schließlich wurde damals entschieden, den Knaben zur Sicherheit töten zu lassen. Nach der längeren Zeit taucht er aber lebend auf, weil „Der Hirte…“, der zu dieser Aufgabe bestimmt wurde, „…hat es nicht über sich gebracht, ihn zu töten. Die eitle Reaktion des Königs: „Gleichviel. Lieber mag Troja fallen, als mein wunderbarer Sohn sterben sollte.“ /3

Paris ist also wirklich zur Ursache des Verderbens Trojas geworden.

Er hat sich ein schönes Mädchen aus den Bergen mitgebracht: Oinone.
„Er liebe sie, dafür habe sie untrügliche Zeichen. Aber in ihren Armen rufe er laut den Namen einer andren Frau: Helena, Helena. Sie sei ihm von Aphrodite versprochen…Nur besitzen will, weil sie angeblich die schönste alle Frauen sei? Weil er durch ihren Besitz der erste aller Männer werde?“ /4
Es fand ein Festessen statt, an dem auch der Grieche Menelaos teilnahm. Paris wurde betrunken und rühmte die Schönheit der Menelaos Ehefrau fast frech an. Kassandras inneres Beben wurde stärker. Alle waren verblüfft und zornig über sein unhöffliches Benehmen. „Todesstil wurde der Saal. Nur Paris sprang auf, schrie:
Wie! Schweigen solle er? Schon wieder? Immer noch? Sich klein machen?... O nein. Die Zeiten sind vorbei. Ich, Paris, bin nicht zurückgekommen, um zu schweigen. Ich, Paris, bin es, der des Königs Schwester von den Feinden wiederholt. Wenn sie mir aber verweigert wird, findet sich eine andre, schöner als sie. Jünger. Edler. Reicher. Es ist mir versprochen worden, dass ihr`s wisst. Was in dieser Stunde seinen Ausgang nahm, war unser Untergang…Stillstand…Grabeskälte…“/5
1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 59

2., 3. Ebenda, S. 60

4. Ebenda, S. 69

5. Ebenda, S. 69-70

Kassandra ist wahnsinnig geworden, als sie das gehört hatte, und schrie, dass sie das Schiff nicht fortlassen sollten: „…Dann fiel der Vorhang vor mein Denken. Der Schlund öffnete sich. Dunkelheit. Ich stürzte ab. Auf grauenerregende Weise soll ich gegurgelt haben, Schaum sei mir vor den Mund getreten…“
Trotz allen Drohungen Kassandras ist morgen früh das dritte Schiff ausgelaufen.

„Das Volk, so hat man mir berichtet, jubelte…der Abfahrt des Menelaos und zugleich dem Auslaufen des dritten Schiffes zu und drängte sich zur Verteilung von Opferfleisch und Brot…am Abend war die Stadt voll Lärm. Kassandra hat allem aus ihrem Zimmer unglücklich zugehört: Und in mir wurde gekämpft, das merkte ich wohl…Nur der Wahnsinn schützte mich vor dem unerträglichen Schmerz…so hielt ich am Wahnsinn fest, er an mir…Hekabe kam, streng, Priamos ängstlich, Die Schwestern scheu, Parthena die Amme mitleidsvoll, Marpessa verschlossen – keiner nützte mir.“ /1

Kassandra lag lange im Bett, schrie, heulte, wälzte sich in ihrem Schmutz, kratzte sich das Gesicht auf. Niemand durfte zu ihr kommen. Sie hatte die riesige Kraft. Eines Tages ist eine Gestalt gekommen, die in einer Ecke saß und wartete. Als Kassandra aufhörte zu brüllen, sagte die: „So strafst du diese nicht.“ /2 Am nächsten Tag kam die Gestalt wieder. Sie war Arisbe. „Anscheinend glaubte sie, es läge in meiner Hand, vom Wahnsinn frei zu werden.“ /3

Als Kassandra endlich in der Lage war, der Arisbe zuzuhören und mit ihr zu sprechen, sprach Arisbe zu ihr mit dem Absicht, sie zum Vernunft zu bringen: „Schluss mit dem Selbstmitleid…Tauch auf, Kassandra…Öffne dein inneres Auge. Schau dich an…“/4

„Von selbst erklärte sie sich eines Tages überflüssig, und als ich in einer Aufwallung sagte, gewisse Dinge würde ich ihr nicht vergessen, erwiderte sie trocken: Doch. Du wirst. – Immer hat es mich gestört, wenn andre mehr über mich wussten oder zu wissen glaubten als ich selbst.“ /5 Die Rückkunft des dritten Schiffes ließ sie überraschend ganz kühl. Bedrohlich war aber der Bericht, der sich bald verbreitet. Paris hatte die schöne Helena entführt.
„Da man ihm in Sparta die Rückgabe der Königsschwester wiederum verweigert habe, sei er gezwungen gewesen, seine Drohung wahrzumachen. Er habe…die Gattin des Menelaos entführt. Die Frau des Königs von Sparta. Die schönste Frau Griechenlands: Helena. Mit ihr sei er auf Umwegen unterwegs nach Troja…Darunter tat es der kleine Bruder nicht.“/6, S.76

1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 71-72



  1. Ebenda, S. 72

3., 4. Ebenda, S. 73

5. Ebenda, S. 74, 6. Ebenda, S. 76



Zusammenfassung der drei Schiffe

„Der Ausgangspunkt für Kassandras Zweifeln macht sich an der fürs Volk inszenierten Expedition des ersten Schiffes fest. Der Grund des Auslaufens ist die Heimholung der ehemals entführten Königsschwester. Das wahre Motiv dieser Aktion ist aber die Eitelkeit des schwächlichen Königs.

Die Verunsicherung, die Kassandra wahrnimmt und die von den Unwahrheiten um das erste Schiff ausgeht, wird durch die Expedition des zweiten Schiffes aufgegriffen und weitergetrieben. Die Wahrheiten, die ihr geboten wurden, standen im Widerstand zu ihrem Vertrauen in die Macht und Richtigkeit der Welt der Erwachsenen und ihrer Familie. Kassandra hat Angst. Mit dieser Angst ist sie allein, obwohl sie sie eigentlich mit vielen teilt. Sie spürt schon früh, dass mit der Bereitschaft zum Kampf für ein übergeordnetes Ziel, das im Interesse der Herrschaft steht, in jedem einzelnen die Verleugnung seines primären und berechtigten menschlichen Interesses einhergeht. Hier, wo das Recht auf den Schutz der familialen Bande für die Bevölkerung in Kollision gerät mit den Interessen der Herrschenden, stellt sich Kassandra spontan und emotional auf die Seite des alten Rechts. Sie konzentriert ihre Hoffnung auf das Ziel, was offiziell genannt und auch ihr geboten wird, auf die Rückkehr der Königsschwester. Nach der Auseinandersetzung mit den Ihren muss sie sich jetzt endgültig der Wahrheit stellen. Der Anfall von Wahnsinn ist letzter Ausweg aus dem unlösbaren Konflikt, in dem sie sich durch ihr Erkennen mehr und mehr zu zerreißen droht. Zugleich steht der Anfall als letzte Stufe der Folgen, die die Expedition des zweiten Schiffes für Kassandra nach sich zieht. Bei der bloßen Ankündigung des Paris, ein Unternehmen drittes Schiff zu wagen, überkommt sie die schreckende Erkenntnis des unweigerlichen Untergangs mit einer Wucht, die ihr wiederum nur einen Ausweg, die Flucht in den Wahnsinn, lässt.

Mit diesem Ausbruch stellt sich Kassandra öffentlich gegen die Ihren. Zugleich erfüllt sie ihre Aufgabe als Seherin zum ersten Mal: Sehen bedeutet Kassandra zunächst einmal Abschied zu nehmen.“/1



16. Die Liebe vs. körperliche Beziehung

Aineias ist Kassandras Mann ihres Lebens. Während des Weges zum Tod erinnert sie sich an ihn und spürt wieder die große und intensive Zuneigung. Die erste Erwähnung von ihm ist die folgende: „Seltsam, dass ich, selbst noch nicht alt, von beinahe jedem, den ich gekannt, in der Vergangenheitsform reden muss.. Nicht von Aineias, nein. Aineias lebt.“ /2

Sie bestreitet ihn in jeder Angelegenheit: „Alle Männer sind ichbezogene Kinder. Aineias? Unsinn. Aineias ist ein erwachsener Mensch…“/3

1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 67-69

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 7 3. Ebenda, S. 20

Kassandras Liebe zu Aineias findet ihren Ausdruck in der Intensivierung ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Seine Anwesenheit erhöht ihre Sensibilität gegenüber der Außenwelt und steigert ihre Lebendigkeit.

„Die Beziehung zu Aineias bedeutet Kassandra keine Hilfe im praktischen Sinn, denn ihre Wege kreuzen sich nur hin und wieder und sie trennen sich schließlich ganz. Der für sie unschätzbare Wert dieser Liebe liegt darin begründet, dass die Stärke ihres Gefühls die seelische Voraussetzung ihrer Lebendigkeit ausmacht.

Das Wissen um seine Existenz, die, selbst dann, wenn er fern von ihr ist, jederzeit als Gedanke ihr Fühlen reaktivieren kann, gibt ihr Rückhalt, in ihm findet sie den Ort, an dem sie sich vertraut und heimlich fühlt.“/1


Ganz empfindsam wird hier das Prozess der Entjungferung der Frauen beschrieben, aber auch ganz deutlich gezeigt, was für eine Schande es für jede bedeutete. Die Männer sind unter ihnen gegangen und haben sich eine für diesen Zweck ausgewählt: „Ich erfuhr zwei Arten von Scham: die, gewählt zu werden, und die, sitzenzubleiben…“ Hier äußert sie ihre Überzeugung, dass sie unbedingt Priesterin werden muss: „Ja, ich würde Priesterin, um jeden Preis.“ /2

Kassandra hatte eigentlich Glück, dass sie keinen erwartet hat. Sie spürte aber die ganze Zeit, dass Aineias für sie kommen muss: „Mittags, als Aineias kam…Er kam stracks auf mich zu, verzeih, sagte er, eher konnte ich nicht kommen. Als wären wir verabredet gewesen.“ /3


„... da wir beide, Aineias und ich, wussten, was von uns erwartet wurde – beide durch Hekabe die Mutter. Da wir uns nicht imstande sahen, den Erwartungen zu entsprechen. Da jeder die Schuld für unser Versagen bei sich suchte…die Liebe, wenn sie plötzlich dazwischentrat, den Pflichten des Beilagers im Wege sein kann, so dass ich mir nicht zu helfen wusste und in Tränen ausbrach über seine Unsicherheit, die doch nur durch meine Ungeschicklichkeit verschuldet sein konnte.“ /4
„Aineias, das blieb ein glühender Punkt in meinem Innern, sein Name ein scharfer Stich, den brachte ich mir bei, sooft ich konnte.“ /5

1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 85

2., 3. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 21

4. Ebenda, S. 22

5. Ebenda, S. 23

„Die Vertrautheit zwischen Kassandra und Aineias stellt sich nicht primär über die verbale Sprache, sondern über die sinnliche Wahrnehmung des anderen her. Bereits bei ihrem ersten Zusammensein, bei dem Aineias der Pflicht der Entjungferung nicht nachkommt und damit die soziale Erwartung, die auf beiden lastet, nicht erfüllt, überschreiten sie, ohne es zu merken, die Grenze, hinter der die Sprache aufhört. In der erotischen Begegnung des Paares gibt sich Kassandra vollkommen den Wahrnehmungen ihrer Sinne, ihres Körpers hin. Ihre eigene körperliche Reaktion vollzieht sich jenseits jeder Möglichkeit, bewusst einzugreifen.

Aus dem Zusammenspiel von sinnlich-körperlicher Wahrnehmung mit der geistigen erwächst die vollkommene Lebendigkeit, die Kassandra in der Liebesbegegnung erfährt. Dieser Zustand ist jedoch nicht beliebig reproduzierbar, und die Greuel der Realität des Krieges können die Kraft, die Kassandra aus ihrer Liebe zu Aineias schöpft, zerstören.“/1
In ihrem Leben taucht noch ein Mann auf, mit dem sie eine ganz komplizierte Beziehung hat, die bei ihr zwischen dem Respekt, der Bewunderung und dem Hass schwebt: Panthoos.

Panthoos soll ein Beutestück des Vetters von Kassandra Lampos vom ersten Schiff sein. In der Wirklichkeit traf Panthoos den Lampos in Delphi, wohin dieser reiche Opfergaben brachte, und kam mit ihm nach Troia zurück. Dem Jubelvolk konnte er bei dem Heimkehr etwas wie ein Beutelstück vorgezeigt werden.

Die erste Erwähnung von Panthoos: „Alle wussten es. Auch Panthoos. Panthoos der Grieche war eingeweiht….So glaubte er nicht, dass ich von Apollon geträumt hatte? Aber doch, kleine Kassandra. Das Dumme war: Er glaubte nicht an Träume.“ /2

Ihre verschiedene Herkunft, ihre Wurzeln, ihre verschiedene Erziehung und angeborene Eigenschaften, dass alles zeichnet sich in ihren Auseinandersetzungen und Streiten auf der sprachlichen Ebene ab. Kassandra fühlt sich aber demütigend, ebenso wohl bei den Auseinandersetzungen mit anderen, die ihr auch nicht glaubten und die an ihren Träumen und Reden zweifelten.


„Panthoos der Grieche tat, als kenne er die Wunde in meinem Herzen nicht, als mache es ihm nicht aus, in dies Herz eine mir selbst fast nicht bewusste, sehr feine, sehr geheime Feindschaft gegen ihn, den Ersten Priester, einzupflanzen.
1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 86

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 28


Mein Griechisch hab ich ja bei ihm gelernt. Und die Kunst, einen Mann zu empfangen, auch… Geschickt, fast ohne mir weh zu tun und beinah liebevoll tat er, wozu Aineias, an den ich dachte, nicht willens oder nicht fähig gewesen war… Ich aber wusste nicht, wie ich Hass und Dankbarkeit gegen ein und denselben Menschen mit mir herumtragen sollte./S.32

Ich mochte ihn zuletzt nicht mehr, Panthoos. Ich mochte nicht in mir, was durch ihn verführbar gewesen war.“ /1, S.42



17. Die Person, mit der man erzählt

Christa Wolf schreibt von Kassandra in der ersten Person. Die Erzählung beginnt aber mit der Einführung der Protagonistin als der dritten Person. Den Ort jedoch haben Kassandra und Christa Wolf gemein. Der Schauplatz von Kassandras Ermordung, ihrem tragischen Ende, ist Ausgangspunkt ihrer Erzählung: „Mit dieser Erzählung geh ich in den Tod…“ /2 (der erste Satz mit der ersten Person).


„Christa Wolf imaginiert die Wahrnehmungen der anderen, die dreitausend Jahre vor ihr hier stand. Im Steinhaufen sieht sie die Festung, die Kassandra als letztes sah.

Die Gemeinsamkeit des Ortes ermöglicht es der Autorin, die Empfindungen der anderen zu teilen, als die andere wahrzunehmen und auf diese Weise ihre eigene Identität mit der der Seherin verschmelzen zu lassen. Zugleich treffen sich an dieser Stelle Vergangenheit und Zukunft.

Je mehr Kassandra dazu in der Lage ist, sich mit der Entwicklung Trojas und gerade auch mit der Entwicklung zum Krieg hin, die ihr zuwiderläuft, in Beziehung zu setzen, desto problematischer wird nicht nur der Gebrauch des „ich“ als Ausdruck einer fixierbaren Persönlichkeit und Identität, sondern mehr noch wird sie gezwungen, die Anwendung des „wir“ zu reflektieren.“/3
„Da wir nicht wussten, was wir wollten, haben wir uns nicht bemüht, der Griechen Absicht wirklich zu ergründen. Ich sage „wir“, seit vielen Jahren wieder „wir“, im Unglück hab ich meine Eltern wieder angenommen.“ /4, S.84

1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 32, 42

2. Ebenda, S. 5

4. Ebenda, S. 84

3. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, 91, 93
Mit dem Tod Kassandras löst sich ihre Gestalt wieder von der Ich-Identität der Erzählerin, die weiterlebt. Kurz vor ihrem Tod wird Kassandra wieder zur dritten Person: Den Abschied, den sie von Aineias nimmt, nimmt sie gleichzeitig von Christa Wolf.


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