„Wann Krieg beginnt, kann man wissen, aber wann beginnt der Vor



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6. Mythos in der Erzählung

„Der Mythos, dessen spezifische Eigenschaft es ist, die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen sowie den Erzähler mit dem Erzählten untrennbar zu verbinden, kommt den Forderungen Christa Wolfs an das Bewusstsein von Geschichte entgegen.

1., 2. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 17
Der Rückgriff auf die episch-mythische Vorlage des Trojanischen Krieges ermöglicht es Christa Wolf, das Problem „historischer Wahrheit“ zu umgehen und der Forderung nach beweisbaren Ereignissen und Entwicklungen ihr eigenes Geschichtsbild entgegenzuhalten. Der Mythos legt nicht fest, er ist offen, bietet mehrere Möglichkeiten der Wahrheit. Der Mythos ist immer die Vielfalt an Möglichkeiten.
Für Christa Wolf gibt es zumindest zwei „Geschichten“: die der Männer und die der Frauen. Die männliche ist in der Schrift fixierte und herrschende Geschichte. Frauen erzählten und immer noch erzählen die Märchen und haben sich durch diese Tätigkeit vielleicht eine spezielle Freiheit des Geistes bewahrt.“ /1 Wer Geschichte erzählt, muss sich konzentrieren und ist ständig angehalten, sich selbst mitzureflektieren. Man muss mit den Geschichten vorsichtig und überlegt umgehen.
„Stefanie Risses Unterscheidung zwischen „mythischer Zeit“ und der „bis heute andauernden Phase linearer und rationaler Aufklärung“, ihrer Charakterisierung der Zeit der Handlung der homerischen Epen und der „Kassandra“ Christa Wolfs als „Phase des Umbruchs vom mythischen zum rationalen und abstrakten Denken“ liegt die Auffassung von einer generellen antithetischen Relation zwischen Mythos und Logos zugrunde, die als historisch fixierbarer Wechsel des einen Prinzips zum anderen einen Wendepunkt in der Geschichte des Denkens. Risse orientiert sich an Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“.“/2

7. Abstraktion und Wahndenken

„Das abendländische Denken beruht auf der Trennung von erkennendem Subjekt und zu-erkennendem Objekt. Ziel jeder Erkenntnis ist die Nutzbarmachung des Objektes durch Einflussnahme, Nutzbarmachung für den ökonomisch-technischen Fortschritt.


1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 107

2. Glau, Katherina: Christa Wolfs Kassandra und Aischylos' Orestie. Zur Rezeption der griechischen Tragödie in der deutschen Literatur der Gegenwart. Heidelberg: Universitätsverlag, 1996, S. 47

Im rationalen und abstrakten Denken ist das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt eines der Beherrschung. Dieses Denken konnte selbst nur aus einem Gewaltverhältnis resultieren. Adorno mit Horkheimer schreiben: „Die Distanz des Subjekt zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt.““/1


Auch Christa Wolf stellt die Frage, ob nicht „das Objektmachen“ die Hauptquelle von Gewalt sei. Menschlichkeit definiert sie als einen Zustand, der Funktionalisierung eines Menschen durch einen anderen niemals zulässt.
„Christa Wolf ist keine grundsätzliche Gegnerin rationalen und abstrakten Denkens, und sie gesteht den Wert und Nutzen selbst der abstraktesten der Wissenschaften – der Mathematik – gern ein. Regeln der Menschlichkeit sind durch abstraktes Denken und rationale Reflexion weder zu entwickeln noch zu beweisen; ein Denken und Handeln, das auf solche Regeln jedoch verzichtet und seine Legitimität allein aus den Prinzipien der Nützlichkeit herleitet, nimmt wie ein Lagerkommandant in Auschwitz die formale Ordnung als Beweis für die Rechtmäßigkeit seines Tuns.
Die gesellschaftliche Totalität dieses Denkens macht den Wahn zur Regel. Die kollektive Verblendung der trojanischen Massen ist es auch, die den Untergang der Stadt ermöglicht und die Einwohner dazu bringt, ihn zuzulassen, wenn nicht sogar, ihn zu betreiben.“/2

8. Der Krieg als Ausdruck abstrakten Denkens

„Im Krieg realisiert sich das Denken, das seinen Gegenstand objektiviert, um ihn zu beherrschen. Krieg ist die unausweichliche Konsequenz einer Logik der Macht, die von dieser Logik deformierten und beherrschten Subjekte betreiben mit dem Untergang ihrer Gegner, Konkurrenten und Feinde den eigenen. Obgleich einzelne Frauen, zumal jene, die an der Macht partizipieren, das Wahndenken verinnerlicht haben und den Krieg mit betreiben, so bleibt er doch von Grund her Sache der Männer.



      1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 18

      2. Ebenda, S. 20-21

Obgleich einzelne Frauen, zumal jene, die an der Macht partizipieren, das Wahndenken verinnerlicht haben und den Krieg mit betreiben, so bleibt er doch von Grund her Sache der Männer. Dem sichtbaren Krieg gegen die zum Feind stigmatisierten Völker entspricht der unsichtbare, im intimen Bereich der Privatheit stattfindende Krieg der Männer gegen die Frauen. Dieser findet in einer Sexualität seinen Ausdruck, die als Akt der Beherrschung und Besitzergreifung die männliche Dominanz dokumentiert. Die Frau wird zum Objekt krankhafter männlicher Leidenschaft.“/1


In der Erzählung erwähnt Wolf diesen Aspekt vor allem in der Figur des Achilles, der in der Erzählung als ein perverser Mann dargestellt wird, der auch dazu fähig ist, eine tote Frau zu vergewaltigen. Die homosexuelle Veranlagung des Achill in der Erzählung ist in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch. Die Autorin will vielleicht deutlich zu machen, dass es nicht richtig wäre, die Perversion des Achill auf seine homosexuelle Veranlagung zurückzuführen.
9. Sprachkrieg

Beim Besuch des Spartanerkönigs Menelaos, der in friedlicher Absicht gekommen war, um an den trojanischen Heroengräbern zu opfern, treten Paris und Eumelos in Erscheinung: „Paris aber, mein geliebter Bruder Paris, gehörte schon dem Eumelos. Der schlanke schöne Jüngling, hingegeben an den massigen Mann mit dem Pferdegesicht.“/2

Es zeigen sich bereits die Früchte ihrer Arbeit: Auf sprachlicher Ebene hat Eumelos den Boden bereitet, auf dem der königliche Gast anstatt mit Ehrerbietung und Vertrauen mit argwöhnischer Distanz empfangen wird. In dieser Atmosphäre kann der eitle Paris seinen Angriff auf Menelaos wagen. Das Schwanken des Vaters und das Eingreifen der Mutter beschleunigten nur dessen Verkündung, dass er, wenn nicht des Königs Schwester, so doch eine andere Frau nach Troja holen werde, schöner als sie. Die schöne Helena, Frau des Gastes Menelaos:
„Menelaos,… ,der Streit nicht suchte, gab dem Sohn des Gastgebers höflich Bescheid, bis seine Fragen so frech wurden, dass Hekabe, ungewöhnlich zornig, dem ungezogenen Sohn den Mund verbot…Paris sprang auf, schrie: Wie! Schweigen solle er; Schon wieder?
1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 22-23

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 66


Immer noch? Sich klein machen?... Ich, Paris, bin nicht zurückgekommen, um zu schweigen. Ich, Paris, bin es, der des Königs Schwester von den Feinden wiederholt. Wenn sie mir aber verweigert wird, findet sich eine andere, schöner als sie. Jünger. Edler. Reicher. Es ist mir versprochen worden…“/1
Unter dem Vorwand, ein altes Recht wiederherstellen zu wollen, die vor langer Zeit entführte Königsschwester zurückzuerobern, betreibt Paris die Entführung der schönen Helena.

Eine weitere Legitimation für sein geplantes Unrecht schöpft er aus der Behauptung, sein Ehrgeiz werde von göttlicher Seite unterstützt, die schöne Frau sei ihm von Aphrodite versprochen worden.


Während Kassandra hier bereits das Unrecht spürt und den Untergangangelegt sieht, während ihre Stimme sich in einem Anfall Bahn bricht, bejubelt das Volk am nächsten Morgen das Auslaufen des dritten Schiffes wie schon die beiden male zuvor.

Nach der erfolglosen Rückkehr des dritten Schiffes aber entsteht ein noch viel kompakteres Lügengebilde um die angebliche Eroberung der schönen Helena. Der Glaube an den Besitz der schönen Helena muss so stark sein, dass er im Volk die Bereitschaft erzeugt, um seinetwillen einen Krieg zu führen. Es ist die Idee, dass das Volk ideologisch motiviert werden muss. Hinter diesem Ideal jedoch verbirgt sich ein ökonomischer Grund. In Troja ist es der Zugang zu den Dardanellen, um den die Herrscher streiten, während die Trojanische Bevölkerung für das Ideal in den Krieg zieht.


„Ein Zusammenhang zwischen zwei voneinander unabhängigen Handlungen – zwischen dem Raub der Königsschwester und der Entführung der Helena – wird sprachlich hergestellt; es wird eine Logik entwickelt, die die eine Handlung als unausweichliche Folge der anderen erscheinen lässt. Die Tat, die zur Durchsetzung persönlicher Machtinteressen geschieht, soll als göttlicher Auftrag zur Aufhebung einer Schmach, die auf dem König und mit ihm auf dem gesamten Volk gelastet haben soll, verstanden werden.“/2
1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 70

2. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 30

„Mit der Tradition überlieferter Begriffe verbindet Kassandra deren Rechtmäßigkeit; daher erscheinen ihr die bewussten Eingriffe in die sprachlichen Gewohnheiten, wie Eumelos sie vornimmt, als unrechtmäßig.
Gegen die Verordnung neuer Begriffe und das Verbot der Benutzung altvertrauter reagiert sie spontan und emotional. Sie entrüstet sich, als Eumelos die Bezeichnung „Gastfreund“ für den Spartanerkönig verbieten will“/1: „Seit wann entschied ein Offizier über den Gebrauch von Wörtern?“ /2, S.65
„Wie der fremde Herrscher auf sprachlicher Ebene bereits zum Feind wird, ehe es eine reale Begründung dafür gibt, so wird die Omnipotenz des eigenen Königs verbal beschworen.

Kassandra durchschaut diesen Mechanismus und widersetzt sich ihm, indem sie an den alten Benennungen festhält. Nachträglich jedoch kann sie dieses Auflehnen nicht mutig nennen, weil ihre Verweigerung als Lieblingstochter des Priamos und im vollen Bewusstsein der königlichen Gunst geschah.

Trotzig hält sie beim Erzählen an den alten und wahren Begriffen fest, nennt „Krieg“, was nach offizieller Sprachregelung „Überfall“ heißen sollte und empört sich über die Ausdruckweise des Agamemnon, der bedauert, dass er seine Tochter Iphigenie habe „opfern“ müssen.“/3
Als der Prozess ihres Erkennens beginnt, muss Kassandra feststellen, wie weit sie sich, auch in ihrer Sprache, von ihnen entfernt hatte.
10. Verweigerungsarten

„Nach dem Verstummen folgt die Verweigerung: Nein zu sagen beinhaltet die vollkommene Absage an die Möglichkeit der Übereinstimmung. Es bedeutet eine Verhärtung, die bis in die körperliche Ebene vordringt. Dennoch ist das Nein in einer bestimmten Phase für Kassandra notwendig: Das Nein nimmt ihr, was ihr am liebsten war, schenkt ihr jedoch auf der anderen Seite die Freiheit, ihren eigenen Stadtpunkt und ihr eigenes Ziel – die vollkommene Bewusstheit – zu setzen. Die Entscheidung zum Nein war für Kassandra sogar lebensnotwendig. Es ist ein Aufschrei ihrer Seele und geschieht zur Rettung ihrer selbst.


1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 32

3. Ebenda, S. 32-33

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 65
Auch das Lachen ist ein Zeichen für Kassandras Verweigerung; indem sie lacht, verweigert sie sich, denn lachend stellt sie sich außerhalb des herrschenden Diskurses. Das Lachen ist Ausdruck ihres Fühlens, der vielfältigen, vieldeutigen und widersprüchlichen körperlichen und sinnlichen Wahrnehmungen und Reaktionen.

Außerhalb der Ordnung genießt die Lachende einen gewissen Schutz. Gleichzeitig stellt Kassandra schon durch ein lächeln eine Distanz zu der feindlichen Umgebung. Mit diesem Lachen vermittelt sich die weibliche Verweigerung. Wie die Sprache des Körpers liegt auch das Lachen jenseits der wirklichen Sprache. Dieses Lachen gehört den Unterdrückten und in diesem Sinne nach Christa Wolf auch den Frauen.“/1



11. Erkennensarten von Christa Wolf

„Mit diesem Zitat Leonardo da Vincis diagnostiziert Christa Wolf die Krankheit des Abendländischen Denkens: „Die Erkenntnis, die nicht durch die Sinne gegangen ist, kann keine andere Wahrheit erzeugen als die schädliche.“

Christa Wolf unterscheidet zwei Arten des Erkennens: Die herrschende Form des rationalen Denkens, das in seiner Losgelöstheit von der sinnlichen Wahrnehmung zum „Wahndenken“ wurde, und ein Erkennen, das gerade auf der sinnlichen Wahrnehmung basiert und dadurch seinen Wert erhält: Dieses Denken ist unmittelbar und konkret. Christa Wolf weist darauf hin, dass die Sinne keine neutralen Mittler zwischen Individuum und Außenwelt (Natur, Gesellschaft) sein können. Das physiologische Funktionieren der Sinne allein sichert keine Erfahrung.“ /2
So ist Kassandra, die nach Wahrheit sucht, mehr und mehr gezwungen, ihre eigene sinnliche Wahrnehmung zu reflektieren, denn mehr und mehr muss sie erkennen, dass es eine objektive Realität, die ihr als Halt dienen könnte, nicht gibt.

Frauen, die innerhalb der abendländischen Gesellschaft und Kultur eine ganz bestimmte Zuweisung erfahren haben, die der männlichen entgegensteht, müssen sich durch die Art und Weise ihres Wahrnehmens und Erkennens von der männlichen Form unterscheiden. Wenn Frauen sich ihrer unmittelbaren, sinnlichen und subjektiven Wahrnehmung bewusst werden, wenn sie sich bewusst als Frauen äußern, dann sind sie diese Äußerungen Ausdruck sowohl ihrer subjektiven als auch der kollektiven Erfahrung, die allen Frauen innerhalb der patriarchalen abendländischen Gesellschaft gemein ist.



        1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 50-53

        2. Ebenda, S. 65

„Christa Wolf vermeidet starre Geschlechterfixierungen und geschlechtsspezifische Zuordnungen bestimmter Formen des Wahrnehmens und Erkennens. Die „ganze Person“ ist für sie der Mensch, dem es gelingt, Fühlen und Denken in sich zu vereinen, dessen Äußerungen Ausdruck des produktiven Zusammenspiels beider Kräfte sind. Der Schmerz über das Auseinandersetzung der beiden Bereiche wird und wurde von Frauen stärker empfunden als von Männern.

Dieser Aufgabe, subjektive Erfahrung und Wahrnehmung mit verschiedener Erkenntnis zu versöhnen zum Zwecke der Erweiterung der eng gesteckten Grenzen des Subjekts, kommt Christa Wolf in der Gestaltung ihrer Kassandra nach.“/1



12. Kassandras Konfrontation mit ihrem Vater Priamos

Die Auseinandersetzung Kassandras mit der herrschenden Logik findet hauptsächlich auf sprachlicher Ebene statt. In der Sprache des Herrschers Priamos verbinden sich Herrschersprache und Männersprache.

Die sprachliche Auseinandersetzung mit ihm steht im Mittelpunkt ihrer Entwicklung.
Die Beziehung zwischen Kassandra und ihrem Vater ist von Widersprüchen gekennzeichnet. Einer starken affektiven Zuneigung, die sie als „Lieblingstochter“ an ihn bindet wie auch ihn an sie, stehen konträre Weltanschauungen gegenüber, die nicht zu vereinen sind und die Kassandra deshalb lange Zeit nicht sehen will.

Der König Priamos verkörpert für sie den guten Herrscher der alten Zeit, der für die tradierten Prinzipien eintritt und steht. Seine menschliche Schwäche macht ihn stark, wenigstens in Kassandras Augen: „Dass er Schwierigkeiten persönlich nahm, wusste jeder im Palast, ich nahm es als Stärke, alle anderen als Schwäche. Da wurde es zur Schwäche.“ /2

Dieses Idealbild, für das die Figur durchaus Raum gibt, gilt Kassandra als das eigentliche Wesen ihres Vaters, an dem sie der Entwicklung zum Trotz mit aller Macht versucht, festzuhalten.
1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 66

2. Christa Wolf, Kassandra, Frankfurt am Main, 1986, S. 53

Dieses positive Vaterbild speist sich weitgehend aus ihren frühesten Kindheitserinnerungen, „in denen sich ihr der Vater in starkem Maße affektiv zuwandte; die Rolle der Lieblingstochter gewährte ihr einen Schutz und räumte ihr Freiheiten ein, die sich lange Zeit als einen für ihr Erkennen hinderlichen Freiraum erweisen“/1:
„Abend für Abend, ich seh ihn noch, ist er zur Mutter gegangen…in ihrem Megaron saß…der einem Thron sehr ähnlich sah und an den sich…einen Hocker heranzog. Dies ist mein frühestes Bild, denn ich, Liebling des Vaters und an Politik interessiert wie keines meiner zahlreichen Geschwister, ich durfte bei ihnen sitzen und hören, was sie redeten, oft auf Priamos´Schoß, die Hand in seiner Schulterbeuge.“/2, S.17
Mit kindlichem Blick schaute Kassandra zu ihrem Vater auf, dessen Schwächen gerade ihre liebevollen Gefühle auf sich ziehen: „Priamos der Vater brauchte mich.“/3

Die Mutter dagegen, Hekabe, ist kühl und streng. „Sie liebt die Unbeherrschbaren.“/4

Mithilfe der Beziehung zwischen dem König Priamos und seiner Frau Hekabe zeigt Christa Wolf, wie die matriarchale Gesellschaft zur patriarchalen wird. Der König Priamos ist ein schwacher König, der seiner Frau Hekabe untergeordnet ist, was die Herrschaft in Troja betrifft. Er ist ein guter Ehemann der Königin, er ist ein Vater im natürlichen und noch nicht im patriarchalen Sinne. Ein Zeichen der Zersetzung sind angestochene Beziehungen: die Ausscheidung der Königin und der Kinder aus den Beratungen über das Schicksal der Stadt, die Benutzug der Töchter als ein politischer Köder. Und die Söhne werden zu den bejubelten Helden.
„Entgegen der üblichen Rollenzuweisung ist es für die kindliche Kassandra der Vater, zu dem sie einen starken emotionalen Bezug hat, während das Verhältnis zur Mutter auf distanzierter Achtung basiert. Hekabe, deren Scharfsinn und kühle Berechnung sie geradezu zur idealen Herrscherin prädestinieren, beherrscht auf der informellen Ebene ihren Mann und übt so auf indirektem Wege Macht aus. Die Möglichkeiten der Einflussnahme werden ihr jedoch mit der Erstarkung des Eumelos und dem Herannahen des Krieges mehr und mehr entzogen./5

1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 41

5. Ebenda, S. 41-42

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 17

3. Ebenda, S. 15

4. Ebenda, S. 25

(In dieser Entwicklung spiegelt sich der historische Prozess des Übergangs der matriarchal strukturierten Gesellschaft zum Patriarchat, der Prozess der allmählichen Entmachtung der Frau.)

Während die Mutter als Person beschrieben wird, die auch im privaten Bereich des Palastes Herrscherin bleibt – sie sitzt auf einem thronähnlichen Stuhl - , fallen vom Vater alle Repräsentationsgesten ab, die ihm als König aufgezwungen werden. In der seiner Frau untergeordneten Position, zu ihren Füssen, fühlt er sich frei, weil diese seinem Wesen entspricht. Die Herrschaft hingegen gilt ihm als ein Zwang, den er gerne den dazu befähigteren Frauen, Hekabe oder Kassandra, überlassen würde.


„Priamos ist nach den Kriterien der einbrechenden neuen Zeit kein fähiger Herrscher, weil ihm Realitätssinn und Kalkül abgehen, als idealer Vertreter der alten Prinzipien, für deren Einhaltung auch Kassandra eintritt.
Als der Vater seinen Bittgang zu Achill antritt, um von ihm den Leib des ermordeten Sohnes Hektor zu erbitten, ist er selbst bereits ein gebrochener Mann. Dennoch gilt für ihn die Unverletzlichkeit des Wahrlosen: Am schlafenden Achill kann er keine Rache nehmen. Durch solche Szenen wird das Bild vom guten alten König als dem Wahrer des traditionellen Rechtes, das Kassandra in ihrem Herzen trägt, nach jeder Zerstörung wieder neu genährt und aufgebaut, wenn es auch von Mal zu Mal auf unsicherem Grund steht. Jede neue Hoffnung, zu der der Vater ihr Anlass gibt, zögert den Prozess ihres Erkennens neu heraus.“/1

13. Der Verlust all dessen, was ich „Vater“ nannte

Priamos bedeutet für Kassandra mehr als nur die familiale Rolle des Vaters. „Symbolhaft steht er ihr vielmehr für all das ein, was sie in Abgrenzung zu der neu hereinbrechenden Zeit des Eumelos in ihrer Trauer um die verlorene Harmonie als Ideal der alten Zeit imaginiert. Der Verlust an Vertrauen, der aus dem Lauf ihres Erkennens resultiert und ihn zugleich vorantreibt, ist mit dem ungeheueren „Schmerz all dessen, was ich Vater nannte“/2 verbunden.“/3


1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 43

3. Ebenda, S. 44

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 150

Die Desillusionierung Kassandras geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen verändert sich der Vater unter den Bedingungen des Krieges, unter dem Einfluss des Eumelos.

„Was ihn blind und taub gemacht, ist der Satz des Truppenführers: Wir gewinnen.“/1, S.83

Zum anderen verändert sich Kassandra und entwickelt einen anderen Blick. In gewisser Weise macht sie im Prozess des Erwachsenwerdens die ganz gewöhnliche Erfahrung junger Mädchen, dass der Vater nicht allmächtig und ideal, sondern fehlerhaft und schwach ist; regelmäßig gehen mit dieser Erkenntnis Enttäuschung und eventuell Aggression einher.


„Im Zustand der kindlichen Naivität fühlt sich Kassandra im Schutze des Palastes und der königlichen Femilie geborgen. Die Ordnung, die hier herrscht, ist ihr vertraut. Um Wahrheiten zu erfahren und Erkenntnisse zu erlangen, muss sie diese ihr vertraute Ordnung verlassen. Ein wahr und aufrichtig gesprochenes Wort, das hier anstelle formelhafter Freundlichkeiten, an die die Königstochter gewöhnt ist, herrscht, besitzt für Kassandra eine starke Anziehungskraft.“/2
Es ist Arisbe, die Kassandra darauf aufmerksam macht, dass sie für aufrichtige und offene Worte dankbar sein sollte, wenn alle anderen die Wahrheit hinter die falschen Aussagen verbergen. Es passiert im Moment, in dem die Wahrheit aus der Seite der Arisbe die Kassandra erbittert und anreizt.
„Mit Hilfe dieser Menschen - Arisbe, Anchises, Marpessa, Panthoos - lernt Kassandra in kleinen Schritten, die väterliche Logik bzw. deren unhinterfragte Voraussetzungen zu durchschauen und ihren eigenen Standpunkt zu finden, sich abzugrenzen. In der Konfrontation mit ihrem Vater, dem sie sich zunächst noch mit ihren Zweifeln vertrauensvoll offenbart, lernt sie, ihn von einer völlig anderen Seite zu betrachten, die ihr bis dahin unsichtbar gewesen war.“/3
„Das Gefühl, verkannt zu werden, kränkt sie zutiefst. Durch die Unaufrichtigkeit, mit der der König und die gesamte Familie ihr begegnen, fühlt sie sich beleidigt und hintergangen. Schmollend denkt sie über die Rache nach.“/4
1. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 83

2. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 45

3. Ebenda, S. 45

4. Ebenda, S. 46


„Die Kränkung, unter der sie aufgrund ihrer unbeantworteten Fragen leidet, verzerrt ihre Wahrnehmung und verhindert ihr Erkennen. Erst als sie erkennt, dass ihre Fragen einer völlig anderen Denkart entspringen als der des Herrschers, kann sie sich vom erkenntnishemmenden Gefühl der Kränkung befreien.“/1 (z. B. die Hilfe der Arisbe, Kassandras Wahnsinn loszuwerden.)
Sehr lange aber versucht Kassandra, Einigkeit durch das Gespräch mit ihrem Vater zu erzielen. Da sie davon ausgeht, dass er sich auch nach Frieden sehnt, sieht sie die Differenz in der verschiedenen Wahl des Weges und der Mittel. So sucht sie immer wieder nach einem für den König gangbaren Weg zur friedlichen Lösung seines Konfliktes mit den Griechen und rät ihm zu verhandeln. Doch ihre Argumente und ihre Bitten sind überflüssig.
„Verlangte, diesen Krieg zu endigen, sofort. Und wie? Fragten sie mich fassungslos, die Männer. Ich sagte: Durch die Wahrheit über Helena. Durch Opfer. Gold und Waren, was sie wollen. Nur dass sie abziehn…Zugeben, was sie fordern werden: Dass Paris, als er Helena entführte, schwer verletzte, was uns allen heilig ist, das Gastrecht…Gestandne Männer wurden totenbleich. Sie ist verrückt…Und König Priamos der Vater erhob sich langsam…und brüllte dann…Seine Tochter! Sie, von allen sie musste es sein, die hier im Rat von Troia für die Feinde sprach…Hinaus mit der Person. Sie ist mein Kind nicht mehr…“/2
So konnte sie nicht mehr an den Sitzungen des Rates teilnehmen und so verlor sie das Vertrauen und die Zuneigung ihres Vater. Das bedeutete, das Vertrauen des Volkes zu verlieren. Sie wurde zur Verräterin.
Das Missverständnis zwischen Kassandra und ihrem Vater beruht auf unterschiedlichen Vorstellungen über den Weg zur Erzielung der Freiheit und der Rettung des Staates. Kassandra nimmt sensibel die Gefahr wahr und will sie möglichst schnell und ruhig vermeiden, der König sieht den Gewinn in der Bewahrung seiner Ehre und der Ehre des ganzen Staates. Er sieht keine andere Lösung als die Möglichkeit, zu gewinnen. Er muss gewinnen, und er macht dafür alles. Keine Verhandlung. Er will nicht resignieren. Das machen nur die Frauen.
1. Risse, Stefanie: Wahrnehmen und Erkennen in Christa Wolfs Erzählung Kassandra, Bamberg: Pfaffenweiler, 1986, S. 46-47

2. Wolf, Christa: Kassandra, Frankfurt am Main: Luchterhand, 1986, S. 89


„Zwar geht es ihm wie ihr um „die Ehre des Hauses“, doch dieser abstrakter Begriff beinhaltet konträre Vorstellungen: Während der schwache Herrscher den Misserfolg seines Sohnes Paris zu verbergen sucht, um mit allen Mitteln, auch durch Lüge und Betrug, die rein äußerliche, formale Achtung aufrechtzuerhalten, versteht Kassandra den Ehrbegriff als eine moralische Forderung an die eigene Person. Für sie gibt es nur eine Möglichkeit, Ehre zu erlangen zu bewahren: nur durch den unbedingten Mut zur Wahrheit, auch und gerade dann, wenn sie persönlich schmerzt und peinlich ist.“/1
„Als Eumelos ihre Treue zur Vaterstadt durch ihr Bemühen um Abschaffung der Kontrollen in Frage stellt, fühlt sich Kassandra zutiefst verletzt und missverstanden. Es ist doch gerade ihre Liebe zu Troja, die ihr Handeln bestimmt.“ /2
Was ihre zahlreichen Geschwister betrifft, stieß sie auch auf ihr Missverständnis im Zusammenhang mit ihren Fähigkeiten alles vorherzusehen. Sie glaubten ihr nicht wie alle anderen, trotzdem spürte Kassandra ihr Neid und Intoleranz. ...nachdem diejenigen meiner müßigen Schwestern und Brüder, denen Klatsch und Familienzwist gelegen kamen, gewiss weidlich über mich hergezogen waren: Bevorzugt vor ihnen wollte ich sein, doch ihren Neid ertrug ich nicht./3

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