Philosophie -> Vernunft
Pietismus
I. Orthodoxie und P.
Das plötzliche Aufkommen des P. im letzten Drittel des 17. Jh.s, in der Welt des Barock, hat die ganze Orthodoxie lutherischer wie reformierter Prägung schockiert. Dabei vermag man der Orthodoxie eine unaufhörliche selbstkritische Besinnung nicht abzusprechen. Eine wachsende Unruhe über den herkömmlichen kirchlichen Betrieb ist bereits um 1600 wahrnehmbar. Sie steigerte sich im Laufe des Jh.s, vor allem in der sog. Reformorthodoxie, die hier voranging und bei der die Übergänge zum P. fließend wurden. Mannahm die englische Erbauungsliteratur mit ihrer puritanischen Gesetzlichkeit zu Hilfe, übersetzte sie unbefangen, nicht ohne sie zu »lutheranisieren«. Eine unbewegliche Frömmigkeit, die sich zu sehr an die reine Glaubens- und Trostpredigt gewöhnt hatte, suchte man dadurch aufzulok- kern und den Entscheidungsernst christlicher Existenz neu sichtbar zu machen. Es geschieht in einer Zeit, die sich immer stärker individualistisch-ethizistisch ausprägt. Doch blieb man im Rahmen der bisherigen Praxis. Man war bestrebt, durch diese Impulse die Kirche zu beleben. Kirche und Gemeinde blieben im Mittelpunkt. Man dachte an keine Sonderung. Die Fülle des -» Liedguts mit ihren »Ich-Liedern«, die damals entstanden (vgl. Paul Gerhardt u.a.), wurde hineingenommen in das gemeinsame Bekennen der ganzen Gottesdienstgemeinde. Die markantesten Vertreter der sog. Reformorthodoxie waren in Rostock und Straßburg wie in Gotha, in Hamburg und in Nürnberg zu finden. In Straßburg sind die Professoren Johann Schmid (1594-1658), Johann Dorsch (1597-1659), Joh. Konrad Dannhauer (1603-1666) und Sebastian Schmidt’(i6i7-1696) zu nennen, in Gotha die Theologen um den Herzog Ernst den Frommen (1601-1675), den »Bete-Ernst«.
Für Hamburg ist der volkstümliche Hauptpastor an St. Jakob Balthasar Schupp (1610-1661), für Nürnberg sind Johann Säubert (1592-1646) und Johann Michael Dil- herr (1604 — 1669) und in Rostock ist vor allem Pfarrer Theophil Großgebauer (1623-1661) mit seiner ■■Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661) zu erwähnen, nicht zu vergessen Johann Matthäus Meyfart (1590-1642), zuletzt in Erfurt, den man wohl einen Hauptträger der vorpietistischen Reformbestrebungen im Luthertum nennen kann. Er hat rückhaltlos die Schäden im akademischen Leben und im Pfarrerstand gegeißelt.
Im großen und ganzen hat die Orthodoxie viel getan, die Hausandacht, die schönste Frucht der reformatori sehen Lehre vom —> Priestertum aller Gläubigen, durch die schöpferische Leistung im Kirchenlied, durch eine Andachts- und Gebetsliteratur zu stärken. Die große europäische Bewußt- seinskrise war unter den Gebildeten durch die Zerstörung des geozentrischen Weltbildes (Kopernikus, Galilei) ausgelöst worden. Innerhalb dieser neuen Wissenschaftslage und angesichts wachsender Bibelkritik war die Orthodoxie nicht mehr in der Lage, wegweisende und befreiende Antworten zu geben. Statt dessen verteidigte sie immer verbissener die Verbalinspirationslehre, die sich auf die Richtigkeit aller historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Aussagen der —» Bibel versteifte. Andererseits öffnete sie durch ihren Intellektualismus selbst die Pforten zu der sie überflügelnden -»Aufklärung. Den aufkommenden theoretisierenden —» Atheismus bekämpfte sie im G runde vergeblich. Auf sie hörte man nicht mehr. II.
ses? Es muß ein von Gott gewollter Gegenpol vorhanden sein, damit sich das Licht offenbaren kann. Die Synthese erblickte er in der Christuswirklichkeit. Durch eine »echte Revolution des Herzens« soll die —» Wiedergeburt erfolgen. Böhme hoffte auf eine nach innen gerichtete Reformation, »das Leben aus dem Geist«. Sie kam nicht. Doch die Auswirkungen seiner Schriften sind bedeutsam genug geworden. Böhme-Kreise bildeten sich zuerst in Schlesien, später in England, seine Werke wurden in Holland gesammelt. So wurde er in ganz Europa bekannt. Man hat Böhme den Vater des radikalen P. genannt, der die unmittelbaren Geisterfahrungen neben die Schriftoffenbarung stellte. Spener hat sich nie zu einer Verwerfung Böhmes drängen lassen, Francke hat Böhmes Erstlingsschrift »Aurora« ins Russische übersetzen lassen, Gottfried Arnold hat ihn verteidigt, Zinzendorf kannte sich in Böhmes Schriften gut aus, die schwäbischen pietistischen Väter wie Michael —» Hahn und Oetinger lasen Böhme mit Begeisterung.
Tief auf Spener hat der »eigentliche Stammvater des württembergischen P.«, Johann Valentin Andreä (1586-1654) gewirkt. Seine Schriften zur Kirchenreform »Theophilus« und die Utopie »Christianopolis« enthalten eine Fülle von Ideen, die der werdende P. aufgriff. Andreäs persönlicher Schüler war der bedeutendste Lehrer der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard in Jena (1586-1637). Am tiefsten jedoch pflügte Johann Arndt (1555-1621) - zuletzt in seiner lutherischen Rechtgläubigkeit anerkannt und als Generalsuperintendent in Celle wirksam - durch sein Andachtsbuch »Vom wahren Christentum«, den Boden der Frömmigkeit auf. Unbedenklich akzeptierte er den breiten Strom der katholischen Mystik, nicht ohne sie einer strengen lutherischen Revision zu unterziehen. Seine »Vier Bücher vom wahren Christentum« sind das lutherische Erbauungsbuch schlechthin geworden und verbreiteten sich über ganz Europa und Nordamerika. Arndt trat gegen den barocken Weltpessimismus auf durch den Hinweis auf die Herrlichkeit des Schöpfers und daß der Mensch der »Zweck der ganzen Welt« bleibe. Er darf in der Wiedergeburt seinen ursprünglichen Adel wiedererwarten. So entstand auch eine regelrechte Arndt-Schule von Erbauungsschriftstellern. Man wird auch nicht übersehen dürfen, daß der P. sich immer wieder auf Luther selbst berief. Luthers elementares Drängen zum lebendigen Glauben, überhaupt die Schriften des jungen Luther wurden aufgegriffen. Spener war einer der besten Lutherkenner seiner Zeit, Francke und Zinzendorf bekannten sich zu Luther.
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Der Pietismus. Was sich jedoch als pieti- stische Erneuerungsbewegung Bahn brach, ist von der altgläubigen Theologie nie akzeptiert worden. Obwohl es sich bei dem P. um eine Minderheit von Theologen und Laien handelte, brach er rasch in nichttheologische Bereiche ein und übte einen erstaunlich intensiven Einfluß auf die Breite des kulturellen und geistigen Lebens aus. Er wurde zu einem »»Träger des Fortschrittes« auf vielen weltlichen und in kirchlichen Gebieten. Das hängt mit der immer wieder in der Forschung vernachlässigten Tatsache zusammen, daß es der P. am Beginn des langsam einsetzenden Prozesses der -> Säkularisation verstand, das Gespräch mit jenen zu führen, die sich bereits innerlich vom herrschenden Kirchentum abgesetzt hatten, sich sozial- wie kirchenkritisch äußerten und von Glaubenszweifeln bedroht waren. Ob es sich um Spener, Francke oder Zinzendorf, um Bengel oder Oetinger handelte, sie griffen immer wieder das Wort aus Joh 7,17 auf und ermunterten zu experimenteller Erprobung des Glaubens. Dabei wußte der P., was Luther immer wieder ausgesprochen hatte, daß die letzten Entscheidungen nicht im Intellekt fallen, sondern in den tieferen Bezirken des Willens, und daß richtig über die christliche Lehre unterrichtet zu sein, noch nicht heißt, daß nun auch richtig gehandelt wird. Der P. forderte die Totalhingabe und verwendete dazu als tragendes seelsorgerli- ches Prinzip den Ruf nach —» Wiedergeburt und —> Bekehrung. Es wird dabei schwerlich gelingen, dem P. eine Abkehr vom lutherischen Hauptartikel der —» Rechtfertigung nachzuweisen. Die pietistischen Führergestalten waren »nicht so sehr theologische Dogmatiker als vielmehr theologische Pragmatiker«. Auch die Pragmatik kann theologische Qualität besitzen, a) Philipp iakob spener, *13.1.1635 Rappolts- weiler, 15.2.1705 Berlin, entstammte einer frommen elsässischen Juristenfamilie. Die wichtigsten Stationen seines Lebens: drei Jahre war er Freiprediger am Straßburger
Philipp fakob Spener
Münster; 20 Jahre Pfarrer an der Barfüßerkirche in Frankfurt/Main und zugleich Senior; fünf Jahre Oberhofprediger an der Schloßkapelle in Dresden und 14 Jahre Pfarrer und Propst an St. Nikolai in Berlin mit einem weitreichenden Einfluß auf die bran- denburgisch-preußischen Kirchen- und Universitätspolitik, zugleich Seelsorger Ungezählter in ganz Deutschland aus allen Ständen. Für diesen äußerst umfangreichen Briefwechsel erhielt er ein kaiserliches Privileg der Portofreiheit. In der Wappenkunde (Heraldik) galt er früh als eine anerkannte internationale Autorität, so daß er über weitreichende Beziehungen zu der noch tonangebenden Adelswelt verfügte. Zahllos sind seine theologischen Veröffentlichungen, noch weiter reichte der Einfluß seiner Predigtbücher in den »»Lerngemeinden« der damaligen Zeit. In den »Pia desideria« aus dem Jahre 1675 sprach der Senior der lutherischen Kirche in der freien Reichsstadt Frankfurt/Main ein Programm aus, das richtungsgebend für den vielgestaltigen P. wurde und blieb. Um diese Reformvorschläge gruppierte sich der P. und gewann gewisse gemeinsame Züge. Sie zu verwirklichen, wurde sein innerstes Bemühen, nämlich: Intensivierung des Bibelstudiums der Laien angesichts einer Bibelkritik bzw. Bibelferne; Praktizierung eines allgemeinen Priestertums der durch mitverantwortliche Aktivi- tat mündig gewordenen Laien im kirchlichen Leben, um die reine Pastorenkirche in einer von Luther nicht gewollten Aufblähung des Amtes zu korrigieren; Verwirklichung eines allein überzeugenden Christentums der Tat, damit es nicht zur leeren Deklamation werde; Reform des Theologiestudiums (—» Ausbildung, theologische) im Blick auf die —» Gemeinde; Ausrichtung der Predigt vom rein Lehrhaft-Verstandesmäßigen auf das Missionarisch-Seelsorgerliche unter Zurückdrängung alles theologischen Prunkes und Zügelung des rein Polemischen mit seiner abstoßenden Auswirkung. Nicht zuletzt, - und hier setzte der Widerstand der Orthodoxie ein -, schlug er »collegia pieta- tis« vor, besondere Versammlungen derer, »die mit Ernst Christen sein wollten« (Luther) um die Bibel mit freigestellter Aussprache zwischen Laien und Geistlichen. Damit wollte Spener zugleich die damals noch weithin üblichen Hausandachten mit dem Hausvater in seinem Priesteramt unter den Seinen stärken und nicht hintansetzen. Als in Frankfurt das Konventikeltum einer separatistischen Geheimbewegung Vorschub leistete, ließ er diesen Vorschlag und die Bemühung um die —» Stunden zurücktreten. Nur in Württemberg konnten sich schließlich die Stunden nach erfolgter kirchenbehördlicher Regelung frei entfalten. Spener überraschte seine Generation mit seinem Ruf nach einer Umkehr in die Zukunft. Auf alle sich in der Orthodoxie ausbreitende Resignation antwortete er herausfordernd mit der »Hoffnung zukünfig besserer Zeiten«, die er aus dem NT herauslas. Durch sein intensives Lutherstudium und durch den Willen, das Kirchentum nach dem urchristlichen Vorbild einer »familia Dei« zu formen, besaß er die Kraft, die lutherische Orthodoxie zu kritisieren und als Epoche zu überwinden. Er verstand es, im Blick auf die ganze Christenheit in allen Zonen und zu allen Zeiten die großen Verheißungen noch als bevorstehend darzustellen. Das galt im Blick auf die Juden nach Rom 9—n. Die katholische Kirche wird sich wandeln (freilich kam es nicht so, wie er es in einem »Fall des Papsttumes« sehen wollte). Für die Heidenmission gab er, wenn auch noch nicht in den »Pia desideria«, den Anstoß: Die Kirche wird sich über den ganzen Erdboden ausbreiten. Die getrennte Christenheit wird Zäune abbrechen und aufeinander zugehen. Das wird alles unter der Wirkung des lebendigen Gottesgeistes geschehen. Wenn auch die Kirche bleibend mit der Kreuzesgestalt ihres Herrn in ihrem Dasein verhaftet bleibt, so kann sie doch unerschrocken und getrost sein. Diese eschatologisch gestimmten Aussagen Speners besitzen zweifellos ihren Wurzelgrund in seiner lebendigen Gotteserfahrung, in der Wiederentdeckung des 3. Glaubensartikels. Von hier aus wird jetzt alles dynamisiert. Ein Aktivismus wurde in den Laienkreisen wach. Die Werke der Äußeren Mission, der Judenmission, der ersten freien Liebesarbeit begannen zeichenhaft einzusetzen. Selbst der Adel begeisterte sich für die Ziele des Reiches Gottes und übernahm oft zusammen mit den Pastoren die Führung in dieser Aktivierung.
Zugleich entwaffnete Speners Reformschrift die Kirchenkritik des Separatismus. Die Kirche war kein hoffnungsloser Fall. Speners und später Franckes wie Zinzendorfs Behutsamkeit im Umgang mit den separatistischen Kräften verdrängte die Träumereien von einer separatistischenGeheimkirche der Gemeinde der »Heiligen«. In der Wiederentdeckung der Realitäten, von denen der 3. Glaubensartikel zeugt, zeigt sich, wo Speners »Chiliasmus« wurzelt, mit dem er die starre Fixierung auf das »Tausendjährige Reich« zu überholen suchte. Ungeachtet mancher Bedenken blieb für ihn und den ganzen kirchlichen P. als Ort neuer Erfahrungen und missionarisch-diakonischer Aktion die Massen-Basis der —» Volkskirche. Die biblische Illusionslosigkeit über das Wesen der vergehenden Welt, die doch Gottes Welt bleibt, ließ ihn nüchtern klare Ziele anstreben. So hat er wirksam die allgemeine Judenbefreiung in Deutschland eingeleitet. Unvergessen sollte auch seine ntl. Widerlegung des unter den lutherischen Theologen noch grassierenden Hexenglaubens bleiben. Sein Blick heftete sich auf die —» Alte Kirche. Ohne ihre Erscheinung kritiklos zu verherrlichen, erkannte er in ihr eine Liebesglut, die das ganze Leben an Christus band und sich ihm auslieferte. Als großes Beispiel, nicht als eine Wiederholungsmöglichkeit sollte sie neu aufleuchten.
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AUGUST HERMANN FRANCKE (i 663 -I 727). Als eine ebenfalls charismatische Persönlichkeit faßte er die Fülle der Spener'schen Anregungen zu einem »geschlossenen und wirkungsmächtigen Ganzen« zusammen.
August Herrmann Francke
Durch ihn gelang der entscheidende Durchbruch des P. in Brandenburg-Preußen, dem mächtigsten deutschen Territorialstaat mitten in der jämmerlichen deutschen Kleinstaaterei. Durch sein Wirken in Halle/Saale entstand der hallesche P., die »geschichtlich bedeutsamste Form, die dem P. gelang«. Die Sammlung der verratenen, von den Heimatkirchen vergessenen deutschen Einwandererströme in Nordamerika, vor allem in Pennsylvanien, zu einer lutherischen Kirche hat er angebahnt und damit die bisherige Begrenzung des Luthertums auf Europa gesprengt. Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787), von Halle ausgesandt, ist dort die Zentralgestalt. Die erste, nicht mehr sporadische ev. Missionsarbeit in Indien durch die in Halle ausgebildeten Theologen Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719) und Heinrich Plütschau (1677-1746) ist nur durch Franckes Einsatz möglich geworden. Sie wuchs sich zu einer ökumenischen Arbeitsgemeinschaft zwischen der lutherischen Staatskirche von Dänemark-Norwegen und der Kirche von England zusammen mit Halle aus.
Die wagemutigen pietistischen Theologiekandidaten aus Halle ließen sich überall hinrufen: nach Rußland zum Aufbau des pe- trinischen höheren Schulwesens, als dänische Missionare nach Südindien, als Schulpädagogen nach England und in den Orient.
Die seit der Reformation abgerissenen Fäden zur russisch-orthodoxen Kirche, wie auch zu den orientalischen Kirchen wurden wieder geknüpft. Eine ökumenische Diakoniegemeinschaft kam mit den großen anglikanischen Kirchen-Gesellschaften in der Betreuung der unglücklichen 15 000 Pfälzer in London zustande, die Religionsunterdrük- kung und Hungersnöte aus ihrem Land trieben. Den in Sibirien gefangenen heimwehkranken schwedischen Kriegsgefangenen konnte Francke durch baltische pietistische Adlige am Zarenhof die Postverbindung mit ihrer Heimat vermitteln. Unter ihnen brach eine Erweckung aus; sie trugen nach ihrer Entlassung den P. mit nach Schweden. Halle lieferte schließlich dem brandenbur- gisch-preußischen Staat eine Fülle gut durchdachter Reformpläne für die ganze Breite des öffentlichen Lebens. Preußentum und P. rückten zusammen.
Wie kam Francke zu so weitgehender Wirkung? In Lübeck als ein Sohn eines Juristen geboren, der 1666 in den Dienst Ernst des Frommen in Gotha trat, wuchs er im Mittelpunkt eines ökumenischen Luthertums und pädagogischer Reformbestrebungen auf, die zu einer wichtigen Vorstufe für ihn wurden. Nicht nur seine glänzende Sprachbegabung wiesen ihn für die akademische Laufbahn aus. Durch seine Bekehrung in Lüneburg 1687 wurden in ihm ungeahnte Kräfte freigelegt. Es kam durch ihn in Leipzig zu einer Studentenerweckung. Von Leipzig und dann von Erfurt vertrieben, vermittelte ihm Spe- ner eine Pfarrstelle und eine zunächst unbesoldete Professur an der neu eröffneten Universität Halle. Mit seinen pietistischen Freunden Joachim Justus Breithaupt (1658-1732) und Paul Anton (1661-1730), später auch Joachim Lange (1670-1744), führte er an der theologischen Fakultät die von Spener geforderte Reform des Theologiestudiums durch. Die Bibelwissenschaft wurde zum eindeutigen Mittelpunkt. Theologiestudenten aus ganz Deutschland und dem Ausland strömten nach dieser größten Fakultät.
Als Gemeindepfarrer in Glaucha bei Halle legte er mit der Eröffnung einer Armenschule den Grund zu einer schnell wachsenden Schüler- und Studentenstadt, die Weltruf erlangte. In einer erschreckenden Radikalität, in ihren Wurzeln aus seelsorgerli- chen Motiven mit entsprungen, verzichtete
Francke bei diesem Aufbau seiner Schulstadt, die schließlich 3 000 Schüler, Schülerinnen und Studenten versorgte, auf jegliche staatliche wie kirchliche Unterstützung.
Kategorisch lehnte er alle Bettelbriefe ab. Er vertraute Gott. In einer seine Umgebung beängstigenden Weise lebte er dabei in den Anfangszeiten buchstäblich von der Hand in den Mund. Durch eine in ganz Europa berühmte kleine Broschüre hat er seine Erfahrungen bei diesem »Glaubensexperiment« weitergegeben. »Von den Fußstapfen des noch lebenden und liebreichen und getreuen Gottes zur Beschämung des Unglaubens .. .« Dem Zweifel hielt er entgegen: Realist ist, wer mit Gott rechnet. Ungezählten hat er damit wieder Mut gemacht. Später hat er durch wegweisende wirtschaftliche Unternehmungen großen Stils in eigener Regie neben einem nicht abreißenden Gabenstrom gewisse regelmäßige Einnahmen gewonnen. Francke ist mit der Bibel und mit Johann Arndts »Wahrem Christentum« aufgewachsen, verbunden mit einem ehrlichen lutherischen Grundbekenntnis. Er war zugleich ein typischer Vertreter der Barockzeit, die eine nie versagende Freude an immer neuen Plänen zur Weltverbesserung hegte.
Die Staats- und Gesellschaftsutopien des 16. und T7. Jh.s wurden aufgegriffen. Francke hat sich von den Staats- und Sozialutopien Johann Valentin Andreas und den pädagogischen und ökumenischen Gedanken eines Johann Arnos Comenius (1592-1670) anregen lassen und plante eine Generalreform der Welt aus den Kräften eines erweckten Christentums, »eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutschlands, in Europa und in allen Teilen der Welt«. Halle sollte ein Zentrum dafür bilden. Diese Pläne ließen sich nur in Anfängen verwirklichen. In seinen Theologiekandidaten, die er als Lehrer in sein Schulwerk einspannte, sah er seine geeignetsten Mitarbeiter. Wegweisend war auch sein Waisenhaus, das erste in Europa, das mit den Tochtergründungen in vielen Ländern erstmalig den schauerlichen Ruf der Waisenhäuser als Brutstätten früher Kindersterblichkeit verlor. Zusammen mit dem Freiherrn Carl Hildebrand von Canstein (1667-1719) gelang die Gründung der ersten deutschen Bibelanstalt, die billige Bibeln unter das Volk brachte.
Die ganze radikale, praktisch-nüchterne, von einem verhaltenen Enthusiasmus beseelte Weltzugewandtheit über alle mystischen Einschläge hinaus will als ein echter Versuch einer Zurückwendung zum Urchristentum mit seinem Ruf zur Brüderlichkeit wie zur lutherischen Reformation verstanden sein. Der Barockpietismus hat freilich durch die auf genommenen optimistisch-aufklärerischen Einschläge seiner Weitsicht zu spät die destruktiven Momente der Aufklärungszeit entdeckt. Er wurde zur Seite geschoben. Er ist zudem wesentlichen Fragen ausgewichen, die die —> Aufklärung stellte. Francke fand auch keine ebenbürtigen Nachfolger in Halle.
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NIKOLAUS LUDWIG VON ZINZENDORF (1700-1760). Ihm gelang es, durch alle auch staatspolitischen Bedrohungen die Herrnhuter —» Brüdergemeine, deren Begründer er wurde, als selbständige Freikirche, die ihre wesentlichen Impulse dem P. verdankt, sicher hindurchzuführen. Aus niederösterreichischem Hochadel stammend, wurde er als Sohn eines kursächsischen Kabinettsministers in Dresden geboren, wurde bei seiner Großmutter, die Spener wie Francke eng verbunden war, erzogen und danach Zögling des halleschen Pädagogiums, speiste am Tisch Franckes und wußte von all dessen Aktivitäten. Doch den Bekehrungsp., den halleschen Bußkampf, der sich dort entwik- kelte, akzeptierte er nicht. Wenn er auch
Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
zwischen dem P. und der Orthodoxie zu vermitteln suchte, als er in dem orthodoxen Wittenberg Jura studierte und Francke und Löscher zu einem freilich ergebnislosen Merseburger Religionsgespräch zusammenbrachte, reihte er selbst sich hier nicht ein. Auf seiner Kavaliersreise nach Paris lernte er das friedliche Nebeneinander der Kirchen- tümer in den Niederlanden kennen. In Paris schloß er eine nicht konfliktfreie Freundschaft mit dem jansenistisch gesonnenen, freilich zögernden Kardinal de Noailles, Erzbischof von Paris (1651-1729). Sie fanden sich in dem Mysterium des »Leidens und Verdienstes Jesu« aufs tiefste verbunden. Der von Westeuropa auf ziehenden Idee der —> Toleranz öffnete er sich und wurde ihr überzeugter Vertreter. In Pierre Bayles (1647 — 1706) »Dictionnaire historique et critique«, dem Standardwerk der frühen Aufklärung, war er daheim. Mit Bayle stimmte er dem reformatorischen Menschenverständnis zu, erkannte die Bestechlichkeit der Vernunft in Glaubensfragen und war für eine saubere Trennung von -> Vernunft und Glaube im Gegensatz zu einer Verbindung von Theologie und natürlicher Theologie, wie sie damals schulmäßig betrieben wurde. Zur Glaubensgewißheit gab es für ihn nur den Weg zu Jesus Christus. »Ohne Jesus wäre ich ein Atheist«. Seine ganze Theologie ist christozentrisch. Immer stärker hielt er sich in seiner theologischen Entwicklung an Luthers Theologie des Kreuzes. »Der Mann am Kreuz und sein stellvertretendes Strafleiden« war Richtpunkt in seinem Denken, Reden und Schreiben. »Ich kenne nur eine Passion und das ist ER«. Aufbruch zu Christus und zu den Brüdern war für ihn wesentlich. »Der Christ geht immer in Kompanie«. Die Realisierung dieser Grundüberzeugung seines ganzen Lebens wurde ihm ungesucht in der Herrnhuter Brüdergemeine zuteil, die als Grüpplein mährischer Glaubensflüchtlinge, Nachfahren der im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen zertretenen alten Brüder-Unität, in seiner Standesherrschaft Berthelsdorf Zuflucht fanden (1722). Die Gefahr einer Separation überwand Zinzendorf, der 1727 sein ungeliebtes Staatsamt in Dresden aufgab und nach Berthelsdorf-Herrnhut übersiedelte. Am 14. August 1727 erwuchs aus einer Bußbewegung ein elementares Zueinander von unauflöslicher Bindekraft zwischen den zerstrittenen Ansiedlern Herrnhuts. Mit diesem Datum beginnt eine Bruderschaft als »Erneuerte Brüder-Unität« ein Modell gelebten Glaubens, ganz unsentimental, in einem verhaltenen Enthusiasmus, in den vielfältigsten Formen des Mit- und Zueinander in den »Chören«, nach Geschlecht und Familienstand getrennt, in kleinen Gebetsbruderschaften, den »Banden«, und als Lerngemeinschaften in »Klassen« geordnet, oft variiert. Urchristliche Ämter wie das Ältestenamt wurden erneuert. Die Lospraxis wurde eingeführt und die Mitverantwortlichkeit aller in Synoden praktiziert.
Neue Gottesdienstformen in den festlichen Gemeindesälen entstanden, die —» Losungen kamen auf. Sehr schnell erwachte ein »Streiterdienst«, Boten zogen als Missionare zu den an die Ränder der Zivilisation gedrängten Eskimos, zu den Hottentotten, zu den Indianern, zu den Negersklaven in Amerika. Unter schweren Opfern an Menschenleben wurde diese Missionsarbeit ausgebaut. Zinzendorf selbst ließ sich nach einem Rechtgläubigkeitsexamen in Stralsund in Tübingen 1734 in den theologischen Kandidatenstand aufnehmen, um Verdächtigungen als »Laienprediger« auszuräumen. Auf seinen Erweckungsreisen durchwanderte er Deutschland, die Schweiz, war daheim in Holland, England und Dänemark, bereiste die baltischen Länder, Rußland, Amerika und Westindien. Nach dem Muster Herrnhuts entstanden »Dörfer des Heilandes«, geschlossene Siedlungen in Dänemark, Holland, England, in Nordamerika, seit 1742 auch in Schlesien und vorübergehend in der Wetterau. Die enthusiastische Periode der »Sichtungszeit« (1743-1750) wurde schnell überwunden, die Wetterauer Gemeinden aufgelöst.
Nach Kursachsen konnte der Graf nach elfjähriger Verbannung 1747 zurückkehren. Herrnhut war endgültig durch die Anerkennung als Augsburger Konfessionsverwandte mit eigenem Religionsexerzitium innerhalb der Landeskirche gesichert.
Durch seine Tropenidee, nach der er in den verschiedenen Konfessionen unterschiedliche Erziehungsformen (Tropen) sah, mit denen Christus die Ausbreitung seiner Christenheit betrieb, ermöglichte er ein gutes Miteinander zwischen Gliedern reformierten wie lutherischen Bekenntnisses in seinen Gemeinden wie auch den Zusammenhang mit den großen Kirchen. In seinem Bi- helverständnis öffnete er sich den berechtigten Anliegen der aufkommenden Bibelwissenschaften und bewahrte seine Brüdergemeine mitten im Strom der Aufklärung in ihrer Bibelfestigkeit wie in ihrer Ausstrahlungskraft auf die —> Stillen im Lande. Die Auswirkungen Zinzendorfs wie der »Erneuerten Brüderunität« auf Kirche und Gesellschaft im 18. Jh. sind intensiv.
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DER wUrttembergische p.
In fast allen deutschen Territorien hat sich der P. bemerkbar gemacht, am meisten gehemmt in Hannover, doch nur in Württemberg ist er bleibend tief eingewurzelt. Dem alemannischen P. benachbart, dem überragende Führer fehlten, der aber aufs Ganze gesehen nüchtern, eminent praktisch und weltklug blieb, die typisch schweizerische reformierte Strenge milderte, sich von einer apokalyptischen Überreizung fernhielt, zeigte sich der schwäbische P. dagegen grüblerisch und der Spekulation zugeneigt. Den puritanischen Erbauungsbüchern gegenüber zurückhaltend, öffnete man sich lieber der Theosophie Böhmes. Spontan entstanden auf Speners »Pia desideria« hin viele Erbauungsversammlungen. Sie fanden nach anfänglicher Behinderung 1743 einen von der württembergischen Staatskirche klug gewährten, wenn auch regulierten Entfaltungsraum innerhalb der einzelnen Gemeinden, der sie aus unfruchtbarer Polemik herausführte. Die entscheidende Gestalt wurde Johann Albrecht Bengel (1687-1752), Präzeptor an der Klosterschule in Denkendorf, später Prälat. Sein Griechisches NT von 1734 war die erste textkritische Ausga
be. Die Grundsätze seiner Texterforschung sind bis heute gültig. Durch Bengel wurde zugleich der Sperriegel, den Luther gegenüber der Apokalyptik und dem Chiliasmus im NT angebracht hatte, zurückgeschoben und das letzte Buch der Bibel kirchlich für den allgemeinen Gebrauch legitimiert. Seitdem wurde die Offb zu einem Lieblingsbuch des P. Im württembergischen P. entfremdeten sich Theologie, Kirche und Kirchenvolk nicht. Bengel, der die biblizistisch-heilsge- schichtliche Betrachtung der Bibel entfaltete, gelangte durch seine Berechnung des Zeitpunktes, an dem Christus wiederkommen würde, den er auf das Jahr 1836 fixierte, zu einer Autorität nicht nur im schwäbischen P. Er blieb dabei nüchtern. »Sollte das
fohann Albrecht Bengel
Jahr 1836 ohne merkliche Änderung verstreichen, so wäre freilich ein Hauptfehler in meinem System und man müßte eine Überlegung anstellen, wo er stecke«. Jedenfalls gegenüber ungeduldiger Naherwartung im schwärmerischen P. bedeutete dieses späte Datum von 1836 heilsame Ernüchterung. Bleibende Verehrung erwarb sich Bengel durch seine weitverbreitete Schriftauslegung im »Gnomon Novi Testamenti« 1742. Durch seine Schrift gegen Zinzendorf und die Brüdergemeine hat er dem Herrnhuter- tum nach anfänglichen Erfolgen bis in die Erweckungszeit hinein den Eingang nach Württemberg blockiert. Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), ein Schüler und Freund Bengels, württembergischer Pfarrer und Prälat, ist der originellste und tiefsinnigste unter den Schwabenvätern. Er hat Speners Verlangen nach einer aus der Bibel entfalteten »philosophia sacra« zu erfüllen versucht. Von Luthers dynamischem Gottesbegriff aus, daß Gott das Leben ist, entfaltet er seine gegen den aufklärerischen abstrakten Gottesbegriff gerichtete Theologie, in der das »Leben« zum Urbegriff wird. Was Gott geschaffen hat, Organisches und Anorganisches, ist voller Leben. »Theologie und Chemie sind bei mir ein Ding«. Von der Theosophie Jakob Böhmes, der Kabbala und von Swedenborg (1688-1772) angeregt, will er aus seelsorgerlichem Bemühen das
schwäbische Kirchenvolk vor einem Absinken in die flache Aufklärungsfrömmigkeit abschirmen. Unverkennbar sind die Anstöße, die von ihm auf die Philosophie des deutschen —> Idealismus, vor allem auf Schelling und Hegel, ausgegangen sind,
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DER NIEDERRHEINISCHE REFORMIERTE P.
In ihm mischen sich starke mystische Züge mit reformierter Zucht und Nüchternheit. Wo er Fuß fassen konnte, fanden sich Pfarrer, Presbyter wie die ganze Gemeinde einhellig zusammen unter Verzicht auf alles Konventikeltum. Vom Spenerischen P. nicht unberührt, bestanden hier anfänglich starke Verbindungen mit dem niederländischen P., vor allem mit der von Jean de Laba- die (1610-1674) geführten Separatistengemeinde, deren berühmtestes Glied Anna Maria von Schürmann (1607-1678) wurde. Der Ruf zum »Auszug aus Babel« und zur Separation fand Widerhall; doch konnten sich die von Labadie inspirierten Konventi- kel schließlich nicht durchsetzen. Eindeutig wird man Theodor Undereyck (1635 — 1693), als Pfarrer in Mülheim/Ruhr, später in Bremen wirkend, als den Begründer des kirchlichen P. in der deutschen reformierten Kirche anzusehen haben, der noch vor Speners »Pia desideria« erste kirchliche Konventikel in der reformierten Kirche gründete. Neben und nach ihm sind noch die Liederdichter Joachim Neander (1650-1680) und Friedrich Adolf Lampe (1683-1729) zu nennen. Der bedeutendste Vertreter reformierten P. war jedoch Gerhard Tersteegen (1697-1769). Die quietistische Mystik, die seinen Lebensstil prägt, führt nicht von der Schrift weg. Das Gedankengut der romanischen quietistischen Mystik, die als Unterströmung nicht nur im P. überall wahrnehmbar war, hat Tersteegen in seinem Hauptwerk »Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen« in 3 Bänden 1733-1753 veröffentlicht. Viele Auflagen erlebte seine Gedichtssammlung »Geistliches Blumengärtlein«. Gegenüber der aufklärerischen Grundposition seines Landesherrn Friedrich II. hat er wie Oetinger seine Distanz in den »Gedanken über die Werke des Philosophen von Sanssouci« »in ruhiger Gelassenheit« kundgetan. Mit Fug und Recht wird man in ihm den Hauptrepräsentanten der —> Stillen im Lande sehen, der ihnen Sammelorte schuf, wo sie sich überpa- rochial treffen und gegenseitig stärken konnten. Man lernte hier wie im P. aller Landschaften den Wanderstab in die Hand zu nehmen, um Gleichgesinnte zu treffen. Tatsächlich ist die überparochiale Arbeit zuerst im P. praktiziert und in ihrem Recht erstritten worden. Hier sind die urchristli- chen Gemeindeversammlungen in Form von Bibelabenden erneuert und ist die Monopolstellung des sonntäglichen Gottesdienstes als einzige Möglichkeit, als Christen über die Familie hinaus zusammenzukommen, durchbrochen worden.
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DER SCHWÄRMERISCHE P.
Daneben wucherte überall ein schwärmerischer P., besonders in den unruhevollen Anfangszeiten. Der linke Flügel der Reformation war vor allem im süddeutschen Raum nicht völlig zerschlagen worden. Die in lautlosen Zirkeln untergetauchten Taufgesinnten, Separatisten, Inspirierten, Schwenkfel- dianer rührten sich wieder, als der P. seine kirchen- und sozialkritischen Thesen aufstellte. Die Unterwanderung durch diese Seitenströme lag sehr nahe. Groteskes, Lächerliches, Verworrenes, Abstoßendes sik- kerte aus diesen Zirkeln auch in das Strombett des kirchlich gesonnenen P. ein. Daß ein gewisses Schwärmertum oft gefühlsmäßiger Überhitzung eine besondere Gefahr für den ganzen P. wurde, ein Überwuchern rein emotionaler Frömmigkeit ohne die harte Zucht nüchterner Besinnung seine stete Versuchung geblieben ist, ist nicht zu übersehen.
Drei Gestalten unter den radikalen Pietisten sind unübersehbar neben den zahllosen, die mit Recht vergessen worden sind. Johann Wilhelm Petersen (1649-1727) und seine visionär veranlagte Frau Johanna Eleonora geb. Merlau (1644-1724) verbreiteten durch ihre Schriften die Lehre vom Tausendjährigen Reich. Von der englischen Böhme-Schülerin Jane Leade (1624-1704) übernahmen und propagierten sie die Lehre der —» Allversöhnung, die in einer großen Breite den ganzen Protestantismus bewegte, die Frühaufklärung einbezogen. Sollten ewige Höllenstrafen für die christusferne Welt das letzte Wort Gottes sein? Das Ehepaar Petersen bestritt auch die Einmaligkeit der Offenbarung. Sie lehrten die fortlaufende, die sich in inneren Kundgebungen und Gesichten kundtut. Die Visionen der Rosamunde von Asseburg (1672-1712), eine Verquickung von chiliastischer Apokalyptik und erotischer Jesusminne, gaben sie in ihren Schriften weiter. Anders stand es um Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721), der unverdrossen durch Deutschland wanderte, um zum Auszug aus Babel im Hinblick auf den baldigen Anbruch des Tausendjährigen Reiches zu rufen. Dreißigmal ließ er sich geduldig einsperren. Feste Gemeinden gründete er nicht. Er stiftete nur Unruhe, die sich wieder legte. Seine Losung war: »Ich finde am besten, alle Secten zu verlassen und Jesus allein anhangen«. Gottfried Arnold (1660-1714) war eine Zeitspanne hindurch die große Gestalt des radikalen P. Am stärksten, ja epochemachend wirkte er durch zwei Veröffentlichungen. Unter der Reihe der Schriften über die Urchristenheit ist es: »Die erste Liebe, d.i. wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben«. Noch stärker schlug das zweibändige Werk »Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie« von 1699/1700 ein, eine Kirchengeschichte von Anbeginn bis zum Jahre 1688. Er verurteilt in ihr die Verketzerung, rechtfertigt aber nicht die Ketzer. Die Urchristenheit zeigt wohl das Bild der wahren Kirche und bleibt Vorbild für spätere Geschlechter. Doch sie ist ihr Kindesalter und soll noch heranreifen. Der Ablauf der ganzen Geschichte steht unter dem Signum der Verhülltheit Gottes, in dem sich das »lutherische Töten und Lebendigmachen« abzeichnet. Die Sinnhaftigkeit der Geschichte kann nur geglaubt werden. Gottes geheime Führung ist die Mitte der Geschichte, in der er sich immer neu unter der Maske des Widerspiels versteckt. Das ist der lutherische Zug bei Gottfried Arnold. Man versteht ihn weder vom —> Spiritualismus noch von Jakob Böhme vollständig. Gewiß ist bei ihm das Alarmierende sein Angriff gegen herrschsüchtige Theologen aller Zeiten und sein Eintreten für die Verketzerten. Doch er will mehr, wenn er mahnt, die trennenden Schrämten zwischen den Konfessionskirchen nicht als unüberwindbar anzusehen, ohne die -* Wahrheitsfrage auszuklammern. Er, der einst »Babels Grablied« •anstimmte, schloß Frieden mit der Kirche .und wurde Pfarrer. In seinem Buch von 1704 beschreibt er »Die geistliche Gestalt eines evangelischen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten. . .«. Hier zeichnet er ihn als einen Diener, der zu Gott hin ruft und sich ganz für den Nächsten hingibt. Aus einem kirchenfeindlichen Individualismus ist er heimgekehrt in die besten Traditionen des kirchlichen P., ohne sich selbst untreu zu werden. Seine Choräle von biblischer Tiefe und Sprachgewalt werden noch heute gesungen. Der radikale P. erlosch, soweit er nicht in die Aufklärung einmündete. Der klassische P. in seinen vielerlei Ausprägungen und Gestalten, der später von der Aufklärung überrollt wurde, meldete sich in der Erwek- kungsbewegung jedoch neu und vollmächtig zu Wort, um neu wirkungskräftig zu werden.
Lit.: K. Aland (Hg.), Pietismus und Bibel, 1970-E. Beyreuther, Geschichte des P., 1978 - Ph. J. Spe- ner (hg. E. Beyreuther), Umkehr in die Zukunft. Reformprogramm des P.; Pia desideria, 197 5 — ders., Ziegenbalg, Bahnbrecher der Weltmission, 1968 - ders., A. H. Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, 1957 - ders., A. H. Francke, Zeuge des lebendigen Gottes, 19693- ders., Selbstzeugnisse A. H. Franckes, 1963 - ders., Biographie Zinzendorfs, Bd 1: Der junge Zinzendorf, 1957-Bd. 2: Zinzendorf und die sich alle hier beisammen finden, 1959-Bd. 3: Zinzendorf und die Christenheit. 1961 - ders., Studien zur Theologie Zinzendorfs, 1962 - ders., N. L. v. Zinzendorf in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 19752- A. H. Francke, Werke: Auswahl (hg. E. Peschkel), 1969 - Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, 1963 - C. P. van Andel, Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, 1973
Beyreuther
IV. Einzelpersönlichkeiten im Übergang zur Erweckungsbewegung. Keiner der großen pietistischen Bewegungen zuzuordnen und doch durch mancherlei Fäden mit ihnen verbunden sind Persönlichkeiten wie der schweizer Theologe und Schriftsteller J. K. Lavater (1741-1801), der Arzt und Schriftsteller H. —» Jung-Stilling, der Dichter M. —» Claudius und vor allem der Schriftsteller J.
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Hamann (1730-1788). Dieser wurde durch seine philosophischen Schriften nicht nur ein Bahnbrecher der literarischen Bewegung des »Sturm und Drang« (J. G. Herder, J. W. Goethe), sondern auch einer der wichtigsten Anreger der Erweckungstheologie (—» Erweckungsbewegung). Nach unabgeschlossenem Universitätsstudium zunächst Mitarbeiter eines Rigaer Handelshauses, kam er 1758 während einer unglücklichen Handelsmission in London über dem Lesen der Bibel zur Bekehrung. Von ihr gibt er in seinen »Gedanken über meinen Lebenslauf« (erst 1821 veröffentlicht) Zeugnis. Das dar-
J. G. Hamann
aufhin intensivierte Bibelstudium fand seinen Niederschlag in den ebenfalls erst nach seinem Tode veröffentlichten »Biblischen Betrachtungen eines Christen«, die schon die Grundzüge seines Denkens enthalten: den zentralen und zugleich das Ganze der Wirklichkeit umfassenden Gedanken der Selbsterniedrigung des dreieinigen Gottes; Gottes des Vaters in der Schöpfung, des Sohnes in Jesus Christus und des Hl. Geistes in der -» Bibel (»Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen der Ratschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?«} In dieser Gotteserkenntnis fand er den Ansatz zur Überwindung der auf allgemeine, abstrakte Wahrheiten drängenden Aufklärungsphilosophie. Schlagartig bekannt wurde Hamann durch die kleine Schrift »Sokratische Denkwürdigkeiten« {1759), in der er in der Verkleidung sokrati- schen Philosophierens seinen neu gewonnenen Erkenntnissen Ausdruck gab. Eine Fülle ebenfalls meist kleiner Schriften folgte, die zu einem umfangreichen Schriftwechsel mit den bedeutendsten Geistern der Zeit führten. Von bis heute kaum ausgeschöpfter Bedeutung ist, daß und wie er in seine Kritik an der Aufklärung auch seinen Königsberger Landsmann und angeblichen Überwinder der —> Aufklärung, I. Kant (1724 — 1804) einbezog (»Metakritik über den Purismum der Vernunft«, 1800 posthum veröffentlicht). Unter den von ihm beeinflußten Erweckungstheologen sind besonders zu nennen: J. M. —» Sailer, Th. Wi- zenmann (1759-1787), G. -»Menken, W. -» Löhe, R. Rocholl (1822-T905), M. -> Kahler,
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-» Bezzel und W. -» Lütgert.
Lit.: J. G. Hamann, Verkleidung und Verklärung. Eine Auswahl aus Schriften des »Magus im Norden« (hg. M. Seils), 1963 - ders., Sämtliche Werke, 6 Bde. (hg. J. Nadler), 1949-1957 - ders., Briefwechsel, bisher 6. Bde. (hg. Ziesemer/Henkel), 194off.. - R. Wild (Hg.), J. G. Hamann, 1978
Burkhardt
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