Evangelisches Gemeindelexikon



Yüklə 7,17 Mb.
səhifə53/76
tarix01.11.2017
ölçüsü7,17 Mb.
#25882
1   ...   49   50   51   52   53   54   55   56   ...   76

Philosophie -> Vernunft

Pietismus



I. Orthodoxie und P.

Das plötzliche Aufkommen des P. im letz­ten Drittel des 17. Jh.s, in der Welt des Ba­rock, hat die ganze Orthodoxie lutherischer wie reformierter Prägung schockiert. Dabei vermag man der Orthodoxie eine unaufhör­liche selbstkritische Besinnung nicht abzu­sprechen. Eine wachsende Unruhe über den herkömmlichen kirchlichen Betrieb ist be­reits um 1600 wahrnehmbar. Sie steigerte sich im Laufe des Jh.s, vor allem in der sog. Reformorthodoxie, die hier voranging und bei der die Übergänge zum P. fließend wur­den. Mannahm die englische Erbauungslite­ratur mit ihrer puritanischen Gesetzlichkeit zu Hilfe, übersetzte sie unbefangen, nicht ohne sie zu »lutheranisieren«. Eine unbe­wegliche Frömmigkeit, die sich zu sehr an die reine Glaubens- und Trostpredigt ge­wöhnt hatte, suchte man dadurch aufzulok- kern und den Entscheidungsernst christli­cher Existenz neu sichtbar zu machen. Es geschieht in einer Zeit, die sich immer stär­ker individualistisch-ethizistisch ausprägt. Doch blieb man im Rahmen der bisherigen Praxis. Man war bestrebt, durch diese Im­pulse die Kirche zu beleben. Kirche und Ge­meinde blieben im Mittelpunkt. Man dachte an keine Sonderung. Die Fülle des -» Lied­guts mit ihren »Ich-Liedern«, die damals entstanden (vgl. Paul Gerhardt u.a.), wurde hineingenommen in das gemeinsame Be­kennen der ganzen Gottesdienstgemeinde. Die markantesten Vertreter der sog. Re­formorthodoxie waren in Rostock und Straßburg wie in Gotha, in Hamburg und in Nürnberg zu finden. In Straßburg sind die Professoren Johann Schmid (1594-1658), Johann Dorsch (1597-1659), Joh. Konrad Dannhauer (1603-1666) und Sebastian Schmidt’(i6i7-1696) zu nennen, in Gotha die Theologen um den Herzog Ernst den Frommen (1601-1675), den »Bete-Ernst«.

Für Hamburg ist der volkstümliche Haupt­pastor an St. Jakob Balthasar Schupp (1610-1661), für Nürnberg sind Johann Säu­bert (1592-1646) und Johann Michael Dil- herr (1604 — 1669) und in Rostock ist vor allem Pfarrer Theophil Großgebauer (1623-1661) mit seiner ■■Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661) zu er­wähnen, nicht zu vergessen Johann Mat­thäus Meyfart (1590-1642), zuletzt in Er­furt, den man wohl einen Hauptträger der vorpietistischen Reformbestrebungen im Luthertum nennen kann. Er hat rückhaltlos die Schäden im akademischen Leben und im Pfarrerstand gegeißelt.

Im großen und ganzen hat die Orthodoxie viel getan, die Hausandacht, die schönste Frucht der reformatori sehen Lehre vom —> Priestertum aller Gläubigen, durch die schöpferische Leistung im Kirchenlied, durch eine Andachts- und Gebetsliteratur zu stärken. Die große europäische Bewußt- seinskrise war unter den Gebildeten durch die Zerstörung des geozentrischen Weltbil­des (Kopernikus, Galilei) ausgelöst worden. Innerhalb dieser neuen Wissenschaftslage und angesichts wachsender Bibelkritik war die Orthodoxie nicht mehr in der Lage, wegweisende und befreiende Antworten zu geben. Statt dessen verteidigte sie immer verbissener die Verbalinspirationslehre, die sich auf die Richtigkeit aller historischen, geographischen und naturwissenschaftli­chen Aussagen der —» Bibel versteifte. Ande­rerseits öffnete sie durch ihren Intellektua­lismus selbst die Pforten zu der sie überflü­gelnden -»Aufklärung. Den aufkommenden theoretisierenden —» Atheismus bekämpfte sie im G runde vergeblich. Auf sie hörte man nicht mehr. II.

ses? Es muß ein von Gott gewollter Gegen­pol vorhanden sein, damit sich das Licht of­fenbaren kann. Die Synthese erblickte er in der Christuswirklichkeit. Durch eine »echte Revolution des Herzens« soll die —» Wieder­geburt erfolgen. Böhme hoffte auf eine nach innen gerichtete Reformation, »das Leben aus dem Geist«. Sie kam nicht. Doch die Auswirkungen seiner Schriften sind bedeut­sam genug geworden. Böhme-Kreise bilde­ten sich zuerst in Schlesien, später in Eng­land, seine Werke wurden in Holland ge­sammelt. So wurde er in ganz Europa be­kannt. Man hat Böhme den Vater des radika­len P. genannt, der die unmittelbaren Geist­erfahrungen neben die Schriftoffenbarung stellte. Spener hat sich nie zu einer Verwer­fung Böhmes drängen lassen, Francke hat Böhmes Erstlingsschrift »Aurora« ins Russi­sche übersetzen lassen, Gottfried Arnold hat ihn verteidigt, Zinzendorf kannte sich in Böhmes Schriften gut aus, die schwäbischen pietistischen Väter wie Michael —» Hahn und Oetinger lasen Böhme mit Begeisterung.

Tief auf Spener hat der »eigentliche Stamm­vater des württembergischen P.«, Johann Valentin Andreä (1586-1654) gewirkt. Seine Schriften zur Kirchenreform »Theo­philus« und die Utopie »Christianopolis« enthalten eine Fülle von Ideen, die der wer­dende P. aufgriff. Andreäs persönlicher Schüler war der bedeutendste Lehrer der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard in Jena (1586-1637). Am tiefsten jedoch pflügte Johann Arndt (1555-1621) - zuletzt in seiner lutherischen Rechtgläubigkeit an­erkannt und als Generalsuperintendent in Celle wirksam - durch sein Andachtsbuch »Vom wahren Christentum«, den Boden der Frömmigkeit auf. Unbedenklich akzeptierte er den breiten Strom der katholischen My­stik, nicht ohne sie einer strengen lutheri­schen Revision zu unterziehen. Seine »Vier Bücher vom wahren Christentum« sind das lutherische Erbauungsbuch schlechthin ge­worden und verbreiteten sich über ganz Eu­ropa und Nordamerika. Arndt trat gegen den barocken Weltpessimismus auf durch den Hinweis auf die Herrlichkeit des Schöpfers und daß der Mensch der »Zweck der ganzen Welt« bleibe. Er darf in der Wiedergeburt seinen ursprünglichen Adel wiedererwar­ten. So entstand auch eine regelrechte Arndt-Schule von Erbauungsschriftstellern. Man wird auch nicht übersehen dürfen, daß der P. sich immer wieder auf Luther selbst berief. Luthers elementares Drängen zum lebendigen Glauben, überhaupt die Schrif­ten des jungen Luther wurden aufgegriffen. Spener war einer der besten Lutherkenner seiner Zeit, Francke und Zinzendorf be­kannten sich zu Luther.



  1. Der Pietismus. Was sich jedoch als pieti- stische Erneuerungsbewegung Bahn brach, ist von der altgläubigen Theologie nie akzep­tiert worden. Obwohl es sich bei dem P. um eine Minderheit von Theologen und Laien handelte, brach er rasch in nichttheologi­sche Bereiche ein und übte einen erstaunlich intensiven Einfluß auf die Breite des kultu­rellen und geistigen Lebens aus. Er wurde zu einem »»Träger des Fortschrittes« auf vielen weltlichen und in kirchlichen Gebieten. Das hängt mit der immer wieder in der For­schung vernachlässigten Tatsache zusam­men, daß es der P. am Beginn des langsam einsetzenden Prozesses der -> Säkularisa­tion verstand, das Gespräch mit jenen zu führen, die sich bereits innerlich vom herr­schenden Kirchentum abgesetzt hatten, sich sozial- wie kirchenkritisch äußerten und von Glaubenszweifeln bedroht waren. Ob es sich um Spener, Francke oder Zinzendorf, um Bengel oder Oetinger handelte, sie grif­fen immer wieder das Wort aus Joh 7,17 auf und ermunterten zu experimenteller Erpro­bung des Glaubens. Dabei wußte der P., was Luther immer wieder ausgesprochen hatte, daß die letzten Entscheidungen nicht im In­tellekt fallen, sondern in den tieferen Bezir­ken des Willens, und daß richtig über die christliche Lehre unterrichtet zu sein, noch nicht heißt, daß nun auch richtig gehandelt wird. Der P. forderte die Totalhingabe und verwendete dazu als tragendes seelsorgerli- ches Prinzip den Ruf nach —» Wiedergeburt und —> Bekehrung. Es wird dabei schwerlich gelingen, dem P. eine Abkehr vom lutheri­schen Hauptartikel der —» Rechtfertigung nachzuweisen. Die pietistischen Führerge­stalten waren »nicht so sehr theologische Dogmatiker als vielmehr theologische Pragmatiker«. Auch die Pragmatik kann theologische Qualität besitzen, a) Philipp iakob spener, *13.1.1635 Rappolts- weiler, 15.2.1705 Berlin, entstammte einer frommen elsässischen Juristenfamilie. Die wichtigsten Stationen seines Lebens: drei Jahre war er Freiprediger am Straßburger




Philipp fakob Spener




Münster; 20 Jahre Pfarrer an der Barfüßer­kirche in Frankfurt/Main und zugleich Se­nior; fünf Jahre Oberhofprediger an der Schloßkapelle in Dresden und 14 Jahre Pfar­rer und Propst an St. Nikolai in Berlin mit einem weitreichenden Einfluß auf die bran- denburgisch-preußischen Kirchen- und Universitätspolitik, zugleich Seelsorger Un­gezählter in ganz Deutschland aus allen Ständen. Für diesen äußerst umfangreichen Briefwechsel erhielt er ein kaiserliches Pri­vileg der Portofreiheit. In der Wappenkunde (Heraldik) galt er früh als eine anerkannte in­ternationale Autorität, so daß er über weit­reichende Beziehungen zu der noch tonan­gebenden Adelswelt verfügte. Zahllos sind seine theologischen Veröffentlichungen, noch weiter reichte der Einfluß seiner Pre­digtbücher in den »»Lerngemeinden« der da­maligen Zeit. In den »Pia desideria« aus dem Jahre 1675 sprach der Senior der lutheri­schen Kirche in der freien Reichsstadt Frankfurt/Main ein Programm aus, das rich­tungsgebend für den vielgestaltigen P. wurde und blieb. Um diese Reformvorschläge gruppierte sich der P. und gewann gewisse gemeinsame Züge. Sie zu verwirklichen, wurde sein innerstes Bemühen, nämlich: In­tensivierung des Bibelstudiums der Laien angesichts einer Bibelkritik bzw. Bibelferne; Praktizierung eines allgemeinen Priester­tums der durch mitverantwortliche Aktivi- tat mündig gewordenen Laien im kirchli­chen Leben, um die reine Pastorenkirche in einer von Luther nicht gewollten Aufblä­hung des Amtes zu korrigieren; Verwirkli­chung eines allein überzeugenden Chri­stentums der Tat, damit es nicht zur leeren Deklamation werde; Reform des Theologie­studiums (—» Ausbildung, theologische) im Blick auf die —» Gemeinde; Ausrichtung der Predigt vom rein Lehrhaft-Verstandesmäßi­gen auf das Missionarisch-Seelsorgerliche unter Zurückdrängung alles theologischen Prunkes und Zügelung des rein Polemischen mit seiner abstoßenden Auswirkung. Nicht zuletzt, - und hier setzte der Widerstand der Orthodoxie ein -, schlug er »collegia pieta- tis« vor, besondere Versammlungen derer, »die mit Ernst Christen sein wollten« (Lu­ther) um die Bibel mit freigestellter Aus­sprache zwischen Laien und Geistlichen. Damit wollte Spener zugleich die damals noch weithin üblichen Hausandachten mit dem Hausvater in seinem Priesteramt unter den Seinen stärken und nicht hintansetzen. Als in Frankfurt das Konventikeltum einer separatistischen Geheimbewegung Vor­schub leistete, ließ er diesen Vorschlag und die Bemühung um die —» Stunden zurücktre­ten. Nur in Württemberg konnten sich schließlich die Stunden nach erfolgter kir­chenbehördlicher Regelung frei entfalten. Spener überraschte seine Generation mit seinem Ruf nach einer Umkehr in die Zu­kunft. Auf alle sich in der Orthodoxie aus­breitende Resignation antwortete er heraus­fordernd mit der »Hoffnung zukünfig besse­rer Zeiten«, die er aus dem NT herauslas. Durch sein intensives Lutherstudium und durch den Willen, das Kirchentum nach dem urchristlichen Vorbild einer »familia Dei« zu formen, besaß er die Kraft, die lutherische Orthodoxie zu kritisieren und als Epoche zu überwinden. Er verstand es, im Blick auf die ganze Christenheit in allen Zonen und zu al­len Zeiten die großen Verheißungen noch als bevorstehend darzustellen. Das galt im Blick auf die Juden nach Rom 9—n. Die katholi­sche Kirche wird sich wandeln (freilich kam es nicht so, wie er es in einem »Fall des Papsttumes« sehen wollte). Für die Hei­denmission gab er, wenn auch noch nicht in den »Pia desideria«, den Anstoß: Die Kirche wird sich über den ganzen Erdboden ausbrei­ten. Die getrennte Christenheit wird Zäune abbrechen und aufeinander zugehen. Das wird alles unter der Wirkung des lebendigen Gottesgeistes geschehen. Wenn auch die Kirche bleibend mit der Kreuzesgestalt ihres Herrn in ihrem Dasein verhaftet bleibt, so kann sie doch unerschrocken und getrost sein. Diese eschatologisch gestimmten Aus­sagen Speners besitzen zweifellos ihren Wurzelgrund in seiner lebendigen Gotteser­fahrung, in der Wiederentdeckung des 3. Glaubensartikels. Von hier aus wird jetzt al­les dynamisiert. Ein Aktivismus wurde in den Laienkreisen wach. Die Werke der Äu­ßeren Mission, der Judenmission, der ersten freien Liebesarbeit begannen zeichenhaft einzusetzen. Selbst der Adel begeisterte sich für die Ziele des Reiches Gottes und über­nahm oft zusammen mit den Pastoren die Führung in dieser Aktivierung.

Zugleich entwaffnete Speners Reformschrift die Kirchenkritik des Separatismus. Die Kir­che war kein hoffnungsloser Fall. Speners und später Franckes wie Zinzendorfs Behut­samkeit im Umgang mit den separatisti­schen Kräften verdrängte die Träumereien von einer separatistischenGeheimkirche der Gemeinde der »Heiligen«. In der Wiederent­deckung der Realitäten, von denen der 3. Glaubensartikel zeugt, zeigt sich, wo Spe­ners »Chiliasmus« wurzelt, mit dem er die starre Fixierung auf das »Tausendjährige Reich« zu überholen suchte. Ungeachtet mancher Bedenken blieb für ihn und den ganzen kirchlichen P. als Ort neuer Erfah­rungen und missionarisch-diakonischer Ak­tion die Massen-Basis der —» Volkskirche. Die biblische Illusionslosigkeit über das Wesen der vergehenden Welt, die doch Got­tes Welt bleibt, ließ ihn nüchtern klare Ziele anstreben. So hat er wirksam die allgemeine Judenbefreiung in Deutschland eingeleitet. Unvergessen sollte auch seine ntl. Widerle­gung des unter den lutherischen Theologen noch grassierenden Hexenglaubens bleiben. Sein Blick heftete sich auf die —» Alte Kirche. Ohne ihre Erscheinung kritiklos zu verherr­lichen, erkannte er in ihr eine Liebesglut, die das ganze Leben an Christus band und sich ihm auslieferte. Als großes Beispiel, nicht als eine Wiederholungsmöglichkeit sollte sie neu aufleuchten.



  1. AUGUST HERMANN FRANCKE (i 663 -I 727). Als eine ebenfalls charismatische Persön­lichkeit faßte er die Fülle der Spener'schen Anregungen zu einem »geschlossenen und wirkungsmächtigen Ganzen« zusammen.




August Herrmann Francke


Durch ihn gelang der entscheidende Durch­bruch des P. in Brandenburg-Preußen, dem mächtigsten deutschen Territorialstaat mit­ten in der jämmerlichen deutschen Klein­staaterei. Durch sein Wirken in Halle/Saale entstand der hallesche P., die »geschichtlich bedeutsamste Form, die dem P. gelang«. Die Sammlung der verratenen, von den Heimatkirchen vergessenen deutschen Einwandererströme in Nordamerika, vor al­lem in Pennsylvanien, zu einer lutherischen Kirche hat er angebahnt und damit die bishe­rige Begrenzung des Luthertums auf Europa gesprengt. Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787), von Halle ausgesandt, ist dort die Zentralgestalt. Die erste, nicht mehr sporadische ev. Missionsarbeit in Indien durch die in Halle ausgebildeten Theologen Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719) und Heinrich Plütschau (1677-1746) ist nur durch Franckes Einsatz möglich geworden. Sie wuchs sich zu einer ökumenischen Ar­beitsgemeinschaft zwischen der lutheri­schen Staatskirche von Dänemark-Norwe­gen und der Kirche von England zusammen mit Halle aus.

Die wagemutigen pietistischen Theologie­kandidaten aus Halle ließen sich überall hinrufen: nach Rußland zum Aufbau des pe- trinischen höheren Schulwesens, als däni­sche Missionare nach Südindien, als Schul­pädagogen nach England und in den Orient.

Die seit der Reformation abgerissenen Fäden zur russisch-orthodoxen Kirche, wie auch zu den orientalischen Kirchen wurden wieder geknüpft. Eine ökumenische Diakoniege­meinschaft kam mit den großen anglikani­schen Kirchen-Gesellschaften in der Be­treuung der unglücklichen 15 000 Pfälzer in London zustande, die Religionsunterdrük- kung und Hungersnöte aus ihrem Land trie­ben. Den in Sibirien gefangenen heimweh­kranken schwedischen Kriegsgefangenen konnte Francke durch baltische pietistische Adlige am Zarenhof die Postverbindung mit ihrer Heimat vermitteln. Unter ihnen brach eine Erweckung aus; sie trugen nach ihrer Entlassung den P. mit nach Schweden. Halle lieferte schließlich dem brandenbur- gisch-preußischen Staat eine Fülle gut durchdachter Reformpläne für die ganze Breite des öffentlichen Lebens. Preußentum und P. rückten zusammen.

Wie kam Francke zu so weitgehender Wir­kung? In Lübeck als ein Sohn eines Juristen geboren, der 1666 in den Dienst Ernst des Frommen in Gotha trat, wuchs er im Mittel­punkt eines ökumenischen Luthertums und pädagogischer Reformbestrebungen auf, die zu einer wichtigen Vorstufe für ihn wurden. Nicht nur seine glänzende Sprachbegabung wiesen ihn für die akademische Laufbahn aus. Durch seine Bekehrung in Lüneburg 1687 wurden in ihm ungeahnte Kräfte freige­legt. Es kam durch ihn in Leipzig zu einer Studentenerweckung. Von Leipzig und dann von Erfurt vertrieben, vermittelte ihm Spe- ner eine Pfarrstelle und eine zunächst unbe­soldete Professur an der neu eröffneten Uni­versität Halle. Mit seinen pietistischen Freunden Joachim Justus Breithaupt (1658-1732) und Paul Anton (1661-1730), später auch Joachim Lange (1670-1744), führte er an der theologischen Fakultät die von Spener geforderte Reform des Theolo­giestudiums durch. Die Bibelwissenschaft wurde zum eindeutigen Mittelpunkt. Theo­logiestudenten aus ganz Deutschland und dem Ausland strömten nach dieser größten Fakultät.

Als Gemeindepfarrer in Glaucha bei Halle legte er mit der Eröffnung einer Armen­schule den Grund zu einer schnell wachsen­den Schüler- und Studentenstadt, die Welt­ruf erlangte. In einer erschreckenden Radi­kalität, in ihren Wurzeln aus seelsorgerli- chen Motiven mit entsprungen, verzichtete

Francke bei diesem Aufbau seiner Schul­stadt, die schließlich 3 000 Schüler, Schüle­rinnen und Studenten versorgte, auf jegliche staatliche wie kirchliche Unterstützung.

Kategorisch lehnte er alle Bettelbriefe ab. Er vertraute Gott. In einer seine Umgebung be­ängstigenden Weise lebte er dabei in den An­fangszeiten buchstäblich von der Hand in den Mund. Durch eine in ganz Europa be­rühmte kleine Broschüre hat er seine Erfah­rungen bei diesem »Glaubensexperiment« weitergegeben. »Von den Fußstapfen des noch lebenden und liebreichen und getreuen Gottes zur Beschämung des Unglau­bens .. .« Dem Zweifel hielt er entgegen: Realist ist, wer mit Gott rechnet. Ungezähl­ten hat er damit wieder Mut gemacht. Später hat er durch wegweisende wirtschaftliche Unternehmungen großen Stils in eigener Regie neben einem nicht abreißenden Ga­benstrom gewisse regelmäßige Einnahmen gewonnen. Francke ist mit der Bibel und mit Johann Arndts »Wahrem Christentum« auf­gewachsen, verbunden mit einem ehrlichen lutherischen Grundbekenntnis. Er war zu­gleich ein typischer Vertreter der Barockzeit, die eine nie versagende Freude an immer neuen Plänen zur Weltverbesserung hegte.

Die Staats- und Gesellschaftsutopien des 16. und T7. Jh.s wurden aufgegriffen. Francke hat sich von den Staats- und Sozialutopien Johann Valentin Andreas und den pädagogi­schen und ökumenischen Gedanken eines Johann Arnos Comenius (1592-1670) anre­gen lassen und plante eine Generalreform der Welt aus den Kräften eines erweckten Christentums, »eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutsch­lands, in Europa und in allen Teilen der Welt«. Halle sollte ein Zentrum dafür bil­den. Diese Pläne ließen sich nur in Anfängen verwirklichen. In seinen Theologiekandida­ten, die er als Lehrer in sein Schulwerk ein­spannte, sah er seine geeignetsten Mitarbei­ter. Wegweisend war auch sein Waisenhaus, das erste in Europa, das mit den Tochter­gründungen in vielen Ländern erstmalig den schauerlichen Ruf der Waisenhäuser als Brutstätten früher Kindersterblichkeit ver­lor. Zusammen mit dem Freiherrn Carl Hil­debrand von Canstein (1667-1719) gelang die Gründung der ersten deutschen Bibelan­stalt, die billige Bibeln unter das Volk brach­te.

Die ganze radikale, praktisch-nüchterne, von einem verhaltenen Enthusiasmus be­seelte Weltzugewandtheit über alle mysti­schen Einschläge hinaus will als ein echter Versuch einer Zurückwendung zum Ur­christentum mit seinem Ruf zur Brüder­lichkeit wie zur lutherischen Reformation verstanden sein. Der Barockpietismus hat freilich durch die auf genommenen optimi­stisch-aufklärerischen Einschläge seiner Weitsicht zu spät die destruktiven Momente der Aufklärungszeit entdeckt. Er wurde zur Seite geschoben. Er ist zudem wesentlichen Fragen ausgewichen, die die —> Aufklärung stellte. Francke fand auch keine ebenbürti­gen Nachfolger in Halle.



  1. NIKOLAUS LUDWIG VON ZINZENDORF (1700-1760). Ihm gelang es, durch alle auch staatspolitischen Bedrohungen die Herrnhu­ter —» Brüdergemeine, deren Begründer er wurde, als selbständige Freikirche, die ihre wesentlichen Impulse dem P. verdankt, si­cher hindurchzuführen. Aus niederösterrei­chischem Hochadel stammend, wurde er als Sohn eines kursächsischen Kabinettsmini­sters in Dresden geboren, wurde bei seiner Großmutter, die Spener wie Francke eng verbunden war, erzogen und danach Zögling des halleschen Pädagogiums, speiste am Tisch Franckes und wußte von all dessen Aktivitäten. Doch den Bekehrungsp., den halleschen Bußkampf, der sich dort entwik- kelte, akzeptierte er nicht. Wenn er auch




Nikolaus Ludwig von Zinzendorf




zwischen dem P. und der Orthodoxie zu vermitteln suchte, als er in dem orthodoxen Wittenberg Jura studierte und Francke und Löscher zu einem freilich ergebnislosen Merseburger Religionsgespräch zusammen­brachte, reihte er selbst sich hier nicht ein. Auf seiner Kavaliersreise nach Paris lernte er das friedliche Nebeneinander der Kirchen- tümer in den Niederlanden kennen. In Paris schloß er eine nicht konfliktfreie Freund­schaft mit dem jansenistisch gesonnenen, freilich zögernden Kardinal de Noailles, Erz­bischof von Paris (1651-1729). Sie fanden sich in dem Mysterium des »Leidens und Verdienstes Jesu« aufs tiefste verbunden. Der von Westeuropa auf ziehenden Idee der —> Toleranz öffnete er sich und wurde ihr überzeugter Vertreter. In Pierre Bayles (1647 — 1706) »Dictionnaire historique et critique«, dem Standardwerk der frühen Aufklärung, war er daheim. Mit Bayle stimmte er dem reformatorischen Men­schenverständnis zu, erkannte die Bestech­lichkeit der Vernunft in Glaubensfragen und war für eine saubere Trennung von -> Ver­nunft und Glaube im Gegensatz zu einer Verbindung von Theologie und natürlicher Theologie, wie sie damals schulmäßig be­trieben wurde. Zur Glaubensgewißheit gab es für ihn nur den Weg zu Jesus Christus. »Ohne Jesus wäre ich ein Atheist«. Seine ganze Theologie ist christozentrisch. Immer stärker hielt er sich in seiner theologischen Entwicklung an Luthers Theologie des Kreuzes. »Der Mann am Kreuz und sein stellvertretendes Strafleiden« war Richt­punkt in seinem Denken, Reden und Schrei­ben. »Ich kenne nur eine Passion und das ist ER«. Aufbruch zu Christus und zu den Brü­dern war für ihn wesentlich. »Der Christ geht immer in Kompanie«. Die Realisierung dieser Grundüberzeugung seines ganzen Le­bens wurde ihm ungesucht in der Herrnhu­ter Brüdergemeine zuteil, die als Grüpplein mährischer Glaubensflüchtlinge, Nachfah­ren der im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen zertretenen alten Brüder-Unität, in seiner Standesherrschaft Berthelsdorf Zuflucht fanden (1722). Die Gefahr einer Separation überwand Zinzendorf, der 1727 sein unge­liebtes Staatsamt in Dresden aufgab und nach Berthelsdorf-Herrnhut übersiedelte. Am 14. August 1727 erwuchs aus einer Buß­bewegung ein elementares Zueinander von unauflöslicher Bindekraft zwischen den zer­strittenen Ansiedlern Herrnhuts. Mit die­sem Datum beginnt eine Bruderschaft als »Erneuerte Brüder-Unität« ein Modell ge­lebten Glaubens, ganz unsentimental, in ei­nem verhaltenen Enthusiasmus, in den viel­fältigsten Formen des Mit- und Zueinander in den »Chören«, nach Geschlecht und Fa­milienstand getrennt, in kleinen Gebets­bruderschaften, den »Banden«, und als Lern­gemeinschaften in »Klassen« geordnet, oft variiert. Urchristliche Ämter wie das Älte­stenamt wurden erneuert. Die Lospraxis wurde eingeführt und die Mitverantwort­lichkeit aller in Synoden praktiziert.

Neue Gottesdienstformen in den festlichen Gemeindesälen entstanden, die —» Losungen kamen auf. Sehr schnell erwachte ein »Strei­terdienst«, Boten zogen als Missionare zu den an die Ränder der Zivilisation gedräng­ten Eskimos, zu den Hottentotten, zu den Indianern, zu den Negersklaven in Amerika. Unter schweren Opfern an Menschenleben wurde diese Missionsarbeit ausgebaut. Zin­zendorf selbst ließ sich nach einem Recht­gläubigkeitsexamen in Stralsund in Tübin­gen 1734 in den theologischen Kandidaten­stand aufnehmen, um Verdächtigungen als »Laienprediger« auszuräumen. Auf seinen Erweckungsreisen durchwanderte er Deutschland, die Schweiz, war daheim in Holland, England und Dänemark, bereiste die baltischen Länder, Rußland, Amerika und Westindien. Nach dem Muster Herrn­huts entstanden »Dörfer des Heilandes«, ge­schlossene Siedlungen in Dänemark, Hol­land, England, in Nordamerika, seit 1742 auch in Schlesien und vorübergehend in der Wetterau. Die enthusiastische Periode der »Sichtungszeit« (1743-1750) wurde schnell überwunden, die Wetterauer Gemeinden aufgelöst.

Nach Kursachsen konnte der Graf nach elf­jähriger Verbannung 1747 zurückkehren. Herrnhut war endgültig durch die Anerken­nung als Augsburger Konfessionsverwandte mit eigenem Religionsexerzitium innerhalb der Landeskirche gesichert.

Durch seine Tropenidee, nach der er in den verschiedenen Konfessionen unterschiedli­che Erziehungsformen (Tropen) sah, mit de­nen Christus die Ausbreitung seiner Chri­stenheit betrieb, ermöglichte er ein gutes Miteinander zwischen Gliedern reformier­ten wie lutherischen Bekenntnisses in sei­nen Gemeinden wie auch den Zusammen­hang mit den großen Kirchen. In seinem Bi- helverständnis öffnete er sich den berechtig­ten Anliegen der aufkommenden Bibelwis­senschaften und bewahrte seine Brüderge­meine mitten im Strom der Aufklärung in ihrer Bibelfestigkeit wie in ihrer Ausstrah­lungskraft auf die —> Stillen im Lande. Die Auswirkungen Zinzendorfs wie der »Erneu­erten Brüderunität« auf Kirche und Gesell­schaft im 18. Jh. sind intensiv.



  1. DER wUrttembergische p.

In fast allen deutschen Territorien hat sich der P. bemerkbar gemacht, am meisten ge­hemmt in Hannover, doch nur in Württem­berg ist er bleibend tief eingewurzelt. Dem alemannischen P. benachbart, dem überra­gende Führer fehlten, der aber aufs Ganze ge­sehen nüchtern, eminent praktisch und weltklug blieb, die typisch schweizerische reformierte Strenge milderte, sich von einer apokalyptischen Überreizung fernhielt, zeigte sich der schwäbische P. dagegen grüb­lerisch und der Spekulation zugeneigt. Den puritanischen Erbauungsbüchern gegenüber zurückhaltend, öffnete man sich lieber der Theosophie Böhmes. Spontan entstanden auf Speners »Pia desideria« hin viele Erbau­ungsversammlungen. Sie fanden nach an­fänglicher Behinderung 1743 einen von der württembergischen Staatskirche klug ge­währten, wenn auch regulierten Entfal­tungsraum innerhalb der einzelnen Ge­meinden, der sie aus unfruchtbarer Polemik herausführte. Die entscheidende Gestalt wurde Johann Albrecht Bengel (1687-1752), Präzeptor an der Klosterschule in Denken­dorf, später Prälat. Sein Griechisches NT von 1734 war die erste textkritische Ausga­

be. Die Grundsätze seiner Texterforschung sind bis heute gültig. Durch Bengel wurde zugleich der Sperriegel, den Luther gegen­über der Apokalyptik und dem Chiliasmus im NT angebracht hatte, zurückgeschoben und das letzte Buch der Bibel kirchlich für den allgemeinen Gebrauch legitimiert. Seit­dem wurde die Offb zu einem Lieblingsbuch des P. Im württembergischen P. entfremde­ten sich Theologie, Kirche und Kirchenvolk nicht. Bengel, der die biblizistisch-heilsge- schichtliche Betrachtung der Bibel entfalte­te, gelangte durch seine Berechnung des Zeitpunktes, an dem Christus wiederkom­men würde, den er auf das Jahr 1836 fixierte, zu einer Autorität nicht nur im schwäbi­schen P. Er blieb dabei nüchtern. »Sollte das






fohann Albrecht Bengel


Jahr 1836 ohne merkliche Änderung ver­streichen, so wäre freilich ein Hauptfehler in meinem System und man müßte eine Über­legung anstellen, wo er stecke«. Jedenfalls gegenüber ungeduldiger Naherwartung im schwärmerischen P. bedeutete dieses späte Datum von 1836 heilsame Ernüchterung. Bleibende Verehrung erwarb sich Bengel durch seine weitverbreitete Schriftausle­gung im »Gnomon Novi Testamenti« 1742. Durch seine Schrift gegen Zinzendorf und die Brüdergemeine hat er dem Herrnhuter- tum nach anfänglichen Erfolgen bis in die Erweckungszeit hinein den Eingang nach Württemberg blockiert. Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), ein Schüler und Freund Bengels, württembergischer Pfarrer und Prälat, ist der originellste und tiefsin­nigste unter den Schwabenvätern. Er hat Speners Verlangen nach einer aus der Bibel entfalteten »philosophia sacra« zu erfüllen versucht. Von Luthers dynamischem Got­tesbegriff aus, daß Gott das Leben ist, entfal­tet er seine gegen den aufklärerischen ab­strakten Gottesbegriff gerichtete Theologie, in der das »Leben« zum Urbegriff wird. Was Gott geschaffen hat, Organisches und Anor­ganisches, ist voller Leben. »Theologie und Chemie sind bei mir ein Ding«. Von der Theosophie Jakob Böhmes, der Kabbala und von Swedenborg (1688-1772) angeregt, will er aus seelsorgerlichem Bemühen das



schwäbische Kirchenvolk vor einem Absin­ken in die flache Aufklärungsfrömmigkeit abschirmen. Unverkennbar sind die Anstö­ße, die von ihm auf die Philosophie des deut­schen —> Idealismus, vor allem auf Schelling und Hegel, ausgegangen sind,

  1. DER NIEDERRHEINISCHE REFORMIERTE P.

In ihm mischen sich starke mystische Züge mit reformierter Zucht und Nüchternheit. Wo er Fuß fassen konnte, fanden sich Pfar­rer, Presbyter wie die ganze Gemeinde ein­hellig zusammen unter Verzicht auf alles Konventikeltum. Vom Spenerischen P. nicht unberührt, bestanden hier anfänglich starke Verbindungen mit dem niederländi­schen P., vor allem mit der von Jean de Laba- die (1610-1674) geführten Separatistenge­meinde, deren berühmtestes Glied Anna Maria von Schürmann (1607-1678) wurde. Der Ruf zum »Auszug aus Babel« und zur Separation fand Widerhall; doch konnten sich die von Labadie inspirierten Konventi- kel schließlich nicht durchsetzen. Eindeutig wird man Theodor Undereyck (1635 — 1693), als Pfarrer in Mülheim/Ruhr, später in Bre­men wirkend, als den Begründer des kirchli­chen P. in der deutschen reformierten Kirche anzusehen haben, der noch vor Speners »Pia desideria« erste kirchliche Konventikel in der reformierten Kirche gründete. Neben und nach ihm sind noch die Liederdichter Joachim Neander (1650-1680) und Fried­rich Adolf Lampe (1683-1729) zu nennen. Der bedeutendste Vertreter reformierten P. war jedoch Gerhard Tersteegen (1697-1769). Die quietistische Mystik, die seinen Lebensstil prägt, führt nicht von der Schrift weg. Das Gedankengut der romani­schen quietistischen Mystik, die als Unter­strömung nicht nur im P. überall wahr­nehmbar war, hat Tersteegen in seinem Hauptwerk »Auserlesene Lebensbeschrei­bungen heiliger Seelen« in 3 Bänden 1733-1753 veröffentlicht. Viele Auflagen erlebte seine Gedichtssammlung »Geistli­ches Blumengärtlein«. Gegenüber der auf­klärerischen Grundposition seines Landes­herrn Friedrich II. hat er wie Oetinger seine Distanz in den »Gedanken über die Werke des Philosophen von Sanssouci« »in ruhiger Gelassenheit« kundgetan. Mit Fug und Recht wird man in ihm den Hauptrepräsen­tanten der —> Stillen im Lande sehen, der ih­nen Sammelorte schuf, wo sie sich überpa- rochial treffen und gegenseitig stärken konnten. Man lernte hier wie im P. aller Landschaften den Wanderstab in die Hand zu nehmen, um Gleichgesinnte zu treffen. Tatsächlich ist die überparochiale Arbeit zuerst im P. praktiziert und in ihrem Recht erstritten worden. Hier sind die urchristli- chen Gemeindeversammlungen in Form von Bibelabenden erneuert und ist die Mo­nopolstellung des sonntäglichen Gottes­dienstes als einzige Möglichkeit, als Chri­sten über die Familie hinaus zusammenzu­kommen, durchbrochen worden.

  1. DER SCHWÄRMERISCHE P.

Daneben wucherte überall ein schwärmeri­scher P., besonders in den unruhevollen An­fangszeiten. Der linke Flügel der Reforma­tion war vor allem im süddeutschen Raum nicht völlig zerschlagen worden. Die in laut­losen Zirkeln untergetauchten Taufgesinn­ten, Separatisten, Inspirierten, Schwenkfel- dianer rührten sich wieder, als der P. seine kirchen- und sozialkritischen Thesen auf­stellte. Die Unterwanderung durch diese Seitenströme lag sehr nahe. Groteskes, Lä­cherliches, Verworrenes, Abstoßendes sik- kerte aus diesen Zirkeln auch in das Strom­bett des kirchlich gesonnenen P. ein. Daß ein gewisses Schwärmertum oft gefühlsmä­ßiger Überhitzung eine besondere Gefahr für den ganzen P. wurde, ein Überwuchern rein emotionaler Frömmigkeit ohne die harte Zucht nüchterner Besinnung seine stete Versuchung geblieben ist, ist nicht zu über­sehen.

Drei Gestalten unter den radikalen Pietisten sind unübersehbar neben den zahllosen, die mit Recht vergessen worden sind. Johann Wilhelm Petersen (1649-1727) und seine visionär veranlagte Frau Johanna Eleonora geb. Merlau (1644-1724) verbreiteten durch ihre Schriften die Lehre vom Tausendjähri­gen Reich. Von der englischen Böhme-Schü­lerin Jane Leade (1624-1704) übernahmen und propagierten sie die Lehre der —» Allver­söhnung, die in einer großen Breite den gan­zen Protestantismus bewegte, die Frühauf­klärung einbezogen. Sollten ewige Höllen­strafen für die christusferne Welt das letzte Wort Gottes sein? Das Ehepaar Petersen be­stritt auch die Einmaligkeit der Offenba­rung. Sie lehrten die fortlaufende, die sich in inneren Kundgebungen und Gesichten kundtut. Die Visionen der Rosamunde von Asseburg (1672-1712), eine Verquickung von chiliastischer Apokalyptik und eroti­scher Jesusminne, gaben sie in ihren Schriften weiter. Anders stand es um Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721), der unverdrossen durch Deutschland wanderte, um zum Auszug aus Babel im Hinblick auf den baldigen Anbruch des Tausendjährigen Reiches zu rufen. Drei­ßigmal ließ er sich geduldig einsperren. Fe­ste Gemeinden gründete er nicht. Er stiftete nur Unruhe, die sich wieder legte. Seine Lo­sung war: »Ich finde am besten, alle Secten zu verlassen und Jesus allein anhangen«. Gottfried Arnold (1660-1714) war eine Zeitspanne hindurch die große Gestalt des radikalen P. Am stärksten, ja epochema­chend wirkte er durch zwei Veröffentli­chungen. Unter der Reihe der Schriften über die Urchristenheit ist es: »Die erste Liebe, d.i. wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heili­gen Leben«. Noch stärker schlug das zwei­bändige Werk »Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie« von 1699/1700 ein, eine Kir­chengeschichte von Anbeginn bis zum Jahre 1688. Er verurteilt in ihr die Verketzerung, rechtfertigt aber nicht die Ketzer. Die Ur­christenheit zeigt wohl das Bild der wahren Kirche und bleibt Vorbild für spätere Ge­schlechter. Doch sie ist ihr Kindesalter und soll noch heranreifen. Der Ablauf der ganzen Geschichte steht unter dem Signum der Verhülltheit Gottes, in dem sich das »luthe­rische Töten und Lebendigmachen« ab­zeichnet. Die Sinnhaftigkeit der Geschichte kann nur geglaubt werden. Gottes geheime Führung ist die Mitte der Geschichte, in der er sich immer neu unter der Maske des Wi­derspiels versteckt. Das ist der lutherische Zug bei Gottfried Arnold. Man versteht ihn weder vom —> Spiritualismus noch von Ja­kob Böhme vollständig. Gewiß ist bei ihm das Alarmierende sein Angriff gegen herrschsüchtige Theologen aller Zeiten und sein Eintreten für die Verketzerten. Doch er will mehr, wenn er mahnt, die trennenden Schrämten zwischen den Konfessionskir­chen nicht als unüberwindbar anzusehen, ohne die -* Wahrheitsfrage auszuklammern. Er, der einst »Babels Grablied« •anstimmte, schloß Frieden mit der Kirche .und wurde Pfarrer. In seinem Buch von 1704 beschreibt er »Die geistliche Gestalt eines evangeli­schen Lehrers nach dem Sinn und Exempel der Alten. . .«. Hier zeichnet er ihn als einen Diener, der zu Gott hin ruft und sich ganz für den Nächsten hingibt. Aus einem kirchen­feindlichen Individualismus ist er heimge­kehrt in die besten Traditionen des kirchli­chen P., ohne sich selbst untreu zu werden. Seine Choräle von biblischer Tiefe und Sprachgewalt werden noch heute gesungen. Der radikale P. erlosch, soweit er nicht in die Aufklärung einmündete. Der klassische P. in seinen vielerlei Ausprägungen und Ge­stalten, der später von der Aufklärung über­rollt wurde, meldete sich in der Erwek- kungsbewegung jedoch neu und vollmächtig zu Wort, um neu wirkungskräftig zu wer­den.

Lit.: K. Aland (Hg.), Pietismus und Bibel, 1970-E. Beyreuther, Geschichte des P., 1978 - Ph. J. Spe- ner (hg. E. Beyreuther), Umkehr in die Zukunft. Reformprogramm des P.; Pia desideria, 197 5 — ders., Ziegenbalg, Bahnbrecher der Weltmission, 1968 - ders., A. H. Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung, 1957 - ders., A. H. Francke, Zeuge des lebendigen Gottes, 19693- ders., Selbstzeugnisse A. H. Franckes, 1963 - ders., Biographie Zinzendorfs, Bd 1: Der junge Zinzendorf, 1957-Bd. 2: Zinzendorf und die sich alle hier beisammen finden, 1959-Bd. 3: Zinzen­dorf und die Christenheit. 1961 - ders., Studien zur Theologie Zinzendorfs, 1962 - ders., N. L. v. Zinzendorf in Selbstzeugnissen und Bilddoku­menten, 19752- A. H. Francke, Werke: Auswahl (hg. E. Peschkel), 1969 - Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, 1963 - C. P. van Andel, Gerhard Tersteegen. Leben und Werk - sein Platz in der Kirchengeschichte, 1973

Beyreuther

IV. Einzelpersönlichkeiten im Übergang zur Erweckungsbewegung. Keiner der gro­ßen pietistischen Bewegungen zuzuordnen und doch durch mancherlei Fäden mit ihnen verbunden sind Persönlichkeiten wie der schweizer Theologe und Schriftsteller J. K. Lavater (1741-1801), der Arzt und Schrift­steller H. —» Jung-Stilling, der Dichter M. —» Claudius und vor allem der Schriftsteller J.



  1. Hamann (1730-1788). Dieser wurde durch seine philosophischen Schriften nicht nur ein Bahnbrecher der literarischen Bewe­gung des »Sturm und Drang« (J. G. Herder, J. W. Goethe), sondern auch einer der wichtig­sten Anreger der Erweckungstheologie (—» Erweckungsbewegung). Nach unabge­schlossenem Universitätsstudium zunächst Mitarbeiter eines Rigaer Handelshauses, kam er 1758 während einer unglücklichen Handelsmission in London über dem Lesen der Bibel zur Bekehrung. Von ihr gibt er in seinen »Gedanken über meinen Lebenslauf« (erst 1821 veröffentlicht) Zeugnis. Das dar-




J. G. Hamann


aufhin intensivierte Bibelstudium fand sei­nen Niederschlag in den ebenfalls erst nach seinem Tode veröffentlichten »Biblischen Betrachtungen eines Christen«, die schon die Grundzüge seines Denkens enthalten: den zentralen und zugleich das Ganze der Wirklichkeit umfassenden Gedanken der Selbsterniedrigung des dreieinigen Gottes; Gottes des Vaters in der Schöpfung, des Soh­nes in Jesus Christus und des Hl. Geistes in der -» Bibel (»Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschrei­ber der verächtlichsten, der nichts bedeu­tendsten Begebenheiten auf der Erde gewor­den, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen der Ratschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?«} In dieser Gotteserkenntnis fand er den Ansatz zur Überwindung der auf allgemeine, abstrakte Wahrheiten drängen­den Aufklärungsphilosophie. Schlagartig bekannt wurde Hamann durch die kleine Schrift »Sokratische Denkwürdigkeiten« {1759), in der er in der Verkleidung sokrati- schen Philosophierens seinen neu gewon­nenen Erkenntnissen Ausdruck gab. Eine Fülle ebenfalls meist kleiner Schriften folg­te, die zu einem umfangreichen Schrift­wechsel mit den bedeutendsten Geistern der Zeit führten. Von bis heute kaum ausge­schöpfter Bedeutung ist, daß und wie er in seine Kritik an der Aufklärung auch seinen Königsberger Landsmann und angeblichen Überwinder der —> Aufklärung, I. Kant (1724 — 1804) einbezog (»Metakritik über den Purismum der Vernunft«, 1800 post­hum veröffentlicht). Unter den von ihm be­einflußten Erweckungstheologen sind be­sonders zu nennen: J. M. —» Sailer, Th. Wi- zenmann (1759-1787), G. -»Menken, W. -» Löhe, R. Rocholl (1822-T905), M. -> Kahler,



  1. -» Bezzel und W. -» Lütgert.

Lit.: J. G. Hamann, Verkleidung und Verklärung. Eine Auswahl aus Schriften des »Magus im Nor­den« (hg. M. Seils), 1963 - ders., Sämtliche Werke, 6 Bde. (hg. J. Nadler), 1949-1957 - ders., Brief­wechsel, bisher 6. Bde. (hg. Ziesemer/Henkel), 194off.. - R. Wild (Hg.), J. G. Hamann, 1978

Burkhardt



Yüklə 7,17 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   49   50   51   52   53   54   55   56   ...   76




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin