Gott begegnete mir Teil 1/2 Von Riga bis Lübeck



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In Münster folgte nun bald die feierliche Promotion. Ich mußte eine Probevorlesung halten und wählte mir als Thema die Einfüh­rung der Reformation in meiner Vaterstadt Riga. Inzwischen war jener praktische Theologe Dekan der Fakultät geworden. Ich weiß nicht, ob ich es seiner Freude an liturgischen Formen zu danken hatte, daß die Feier recht farbenreich wurde. Er selbst erschien im violetten Talar und weißen Handschuhen. Die andern Herren ­wie auch ich - im schwarzen Gehrock. Da die evangelisch-theolo­gische Fakultät in Münster erst während des ersten Weltkrieges ge­gründet war, war dieses die erste Promotion der jungen Fakultät. Wir formierten uns zum feierlichen Zug in den Vorlesungsraum. Vor uns marschierten in feuerroten Roben zwei Pedelle, die hohe silberne Kreuze trugen. Einen Augenblick dachte ich an die Auto­dafes der Inquisition, wenn ich auch nicht auf den Scheiterhaufen geführt wurde. Kaum hatten wir uns in Bewegung gesetzt, als der „Rector magnificus" der Universität, Professor Meinertz, der ka­tholische Ordinarius für Neues Testament, erschien und mich be­grüßte: „Erlauben Sie, Herr Vikar, daß ich an der Feier teilnehme?" Was blieb mir in meinem Schrecken anderes übrig als zu sagen: „Es wird mir eine große Ehre sein, Magnifizenz!" Aber zugleich flog es mir durch den Kopf, wie ich meine Reformationsgeschichte Rigas formulieren sollte, ohne diesem gütigen Menschen nicht allzu sehr weh zu tun.

Wenn nicht ein paar meiner Freunde aus der DCSV, meine Frau und ein uns verwandtes älteres Ehepaar, das in Münster ansässig war, zum Vortrag gekommen wären, so hätte ich meine Lektion allein vor den hochwürdigen Professoren halten müssen. Nicht ohne innere Aufregung, aber im übrigen reibungslos, verlief meine Vorlesung. Dann überreichte mir der Dekan mit einer inhaltsvollen Rede die untersiegelte Urkunde.

Meine Zeit in Kattenvenne ging nun zu Ende. Der Abschied von

meinem Vikarsvater war nidit so harmonisch, wie ich gehofft hat­te. Ich hatte im Laufe des Jahres eine Selbständigkeit gewonnen, die ihm offenbar ein Dorn im Auge war. Da er mir aber nichts sagte, glaubte idi seiner Zustimmung gewiß zu sein. Er hat mir dann beim letzten Gespräch tüchtig den Kopf gewaschen, aber vor­her mir das Versprechen abgenommen, daß ich mich nicht vertei­digen und überhaupt keine Antwort geben würde. Das war gewiß ein überraschendes Verfahren. Aber ich lernte, für diese Feuertaufe meinem Gott zu danken und hatte eine Demütigung wohl nötig. Im übrigen hat sich später unser Freundschaftsverhältnis doch als stabil erwiesen. Nach einigen Jahren lud er mich zum Jahresfest des Jünglingsvereins ein, auf dem ich die Ansprache zu halten hat­te. Beim Abschied bescheinigte Pastor Sachsse mir, daß ich mich gebessert hätte. Das ländliche Jahr blieb mir in ungetrübter Er­innerung.

9. REISESEKRETÄR UND REPETENT (1920-1922)

Wohnungsnot in Halle/Saale -Die christliche Studentenbewegung

  1. Ihre fährenden Männer - Meine Reisetätigkeit -Besuch in Wer­nigerode - Walter Jack und Jakob Kroeker -Im Dienst an der Theologischen Schule in Bethel - Die Wohnung am Walde -Trau­gotts Geburt -Sollen wir Kinder taufen? - Das zweite Examen ­Der Ruf des Missionsbundes -Auf der Suche nach einem Pfarramt

  2. Der erste Besuch in Lübeck -Ich bin gewählt!


Die Wohnungsnot in den ersten Jahren nach dem ersten Welt­krieg war groß. Ich sollte in Halle/Saale meinen Standort als Reisesekretär der DCSV haben. Aber es war aussichtslos, eine Woh­nung zu finden. Da half mir der Leiter der Halleschen Stadtmission, Pastor Winterberg. Unter seiner Wohnung am Weidenplan stellte er uns zwei große Zimmer zur Verfügung. Allerdings mußten wir unsere Küche, d. h. die Gasflamme, hinter einem Vorhang im Schlafzimmer haben. Trotz der großen Zimmer war es doch oft recht eng. Das hintere Zimmer war praktisch unheizbar. Wir beide bekamen oft Besuch von jungen Studenten. Wollte eine Studentin meine Frau seelsorgerlich sprechen, so ging ich auf die Straße und promenierte drüben auf dem Bürgersteig auf und ab, bis ich durch ein Lichtzeichen erfuhr, daß die Bahn frei war. Aber wir freuten uns doch des eigenen Nestes und der schönen Arbeit. Ich war für meinen Auftrag sehr dankbar. Hatte ich einst in Dorpat im Hause von Professor Hahn zum erstenmal von einer christlichen Studen­

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tenbewegung gehört, so hatte ich in Berlin, Tübingen und auch in Rostock mit großer Freude selbst in der Bewegung gestanden. Seit dem Jahre 1918 gehörte ich dem Gesamtvorstand der DCSV an. Die Sitzungen in Berlin unter dem Vorsitz des Altreichskanzlers Dr. Georg Michaelis waren für mich nicht nur interessant, sondern oft voll spannungsreicher Kämpfe. Zum Vorstand gehörten Männer wie Paul Humburg, Karl Heim, Franz Spemann, Hermann Weber, Johannes Kühne, Johannes Weise, Eberhard Arnold u. a., die schon aus der Vorkriegs-DCSV stammten. Während sie mit einigen Aus­nahmen zur pietistisch gerichteten Generation gehörten, kamen viele der jüngeren aus der sogenannten freideutschen Richtung. Das gab dann ab und zu scharfe Auseinandersetzungen. Dazu kam die große diakonische Arbeit der Soldatenheime, der Frontbüchereien usw., die im Kriege aufgebaut waren und nun aufgelöst werden mußten.

Unser aller Verehrung und Liebe gehörte dem ehemaligen Vor­sitzenden, Graf Eduard Pückler-Schedlau, einem geprägten Original und eigenwilligen Vertreter der alten Gemeinschaftsbewegung. Eberhard Arnold sagte: „Wenn Pückler ins Zimmer tritt, ist's, als ob die Sonne aufgeht." Das erste, was an ihm auffiel, war strahlen­de Güte.

Die Form seiner Versammlungsleitung fiel den Studenten oft schwer. Pückler war strenger Pneumatiker und erwartete bis ins kleinste - selbst bis zur Nummer des Liedes, das gesungen wer­den sollte - eine unmittelbare Eingebung durch Gottes Geist. Das wurde den Studenten zuviel. Eine Delegation wurde gewählt, die ihm nahelegen sollte, den Vorsitz niederzulegen. Mit freundlichem Lächeln sagte Pückler diesen Schritt zu, obwohl man wußte, wie schwer es ihm wurde. Später hat ihn einer gefragt, was er in jenen Augenblicken gedacht habe. Er antwortete: „Ich hatte nur einen Ge­danken: Herr Jesus, halt die Nägel fest!" Pückler wußte etwas vom Opfer des Willens und vom Geheimnis des Mitgekreuzigtseins mit seinem Herrn.



Michaelis war der Typus eines alten preußischen Verwaltungs­beamten. Er hatte in Schlesien als Geheimer Oberregierungsrat eine Bekehrung erlebt. Das war nach dem Besuch einer Evangelisations­versammlung in einer schlichten schlesischen Gemeinschaft. Dem ehemaligen Corpsstudenten mag es nicht leicht gefallen sein, sich um des Glaubens willen über Standesvorurteile und gesellschaftliche Rücksichten hinwegzusetzen. Nun aber war er als Christ ein tap­ferer Bekenner. Uns Studenten war er väterlich verbunden. Ich selbst habe seiner väterlichen Freundschaft viel zu danken, zumal, als wir auf einer ostpreußischen Studentenkonferenz in Neuhäuser im Samland gemeinsam die Leitung hatten. Das Vertrauen, das mir

hier im Vorstand geschenkt wurde, hatte zu meiner Berufung zum Reisesekretär geführt. Ich teilte mich in die Arbeit mit fünf an­deren: Franz Spemann, Johannes Kühne, Dr. Johannes Weise, Her­mann Tiesler und - für die Altfreunde - Dr. Hans Berg. Wir hat­ten den Auftrag, die Universitäten und Technischen Hochschulen zu besuchen, die vorhandenen Kreise der DCSV zu stärken und auf Wunsch öffentliche Vorträge und Aussprachen zu veranstalten. Nach Schluß der Semester hatten wir unseren Dienst auf den Stu­dentenkonferenzen, die wir planten und vorbereiteten.

Paul Humburg, der unser Generalsekretär war, sagte einmal: „Es ist für die Kirchengeschichte Deutschlands nicht ohne Bedeutung, wie die DCSV sich entwickelt." Dieses anspruchsvoll klingende Wort hat Recht behalten. Nicht nur sind aus der DCSV eine Anzahl aka­demischer Lehrer hervorgegangen - auch der Deutsche Evangeli­sche Kirchentag und die Evangelischen Akademien verdanken ihre Entstehung Männern, die ihre geistliche Wurzel in der DCSV hat­ten. Auch eine Anzahl der Landesbischöfe waren als Studenten tätige Glieder dieser Bewegung.

Was war das Besondere an der DCSV? Ihr Quellort lag in der deutschen Gemeinschaftsbewegung, jener neueren Erweckungsbewe­gung, die im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ihren Höhe­punkt hatte. Einige Vertreter der Akademikerschaft und besonders des norddeutschen Adels rangen darum, auch die Universitäten dem erwecklichen Wort zu öffnen. Zu ihnen gehörte der genannte Graf Pückler, Freiherr von Lüttichau, Kammerherr von Engel u. a. Man begann auch hier mit Konferenzen. Aus ihnen entstanden studenti­sche Bibelkreise an den Universitäten. Bald verband eine Zeitschrift, „Die Furche", die Gleichgesinnten. Von Jahr zu Jahr wurden die Kreise größer. Eine Anzahl akademischer Lehrer unterstützten die Bewegung. Ich war auch hier der Vertreter der zweiten Generation. Zweierlei wurde mir bedeutsam. Ich fand hier Studenten, die sich bewußt zu Jesus bekannten und sich dieses Bekenntnisses nicht schämten. Sie wußten sich zum Zeugnis berufen und wollten unter ihren Kommilitonen Mission treiben. Ohne sich mit dem Pietismus zu identifizieren, behielt man weithin seine Formen. Das gemein­same Gebet wurde gepflegt. Die Bibel stand im Mittelpunkt. Durch die Verbundenheit mit dem Christlichen Studentenweltbund unter seinem genialen Führer John Mott entstand hier zum erstenmal ein ökumenisches Bewußtsein. Sowohl Hanns Lilje wie Walter Freytag und Martin Pörksen - um nur einige der ökumenischen Gestalten unserer Kirche zu nennen - waren lebendige, tätige Glieder der DCSV. Aber mit dieser substanziell biblischen Haltung verband die DCSV eine große Offenheit für alle Probleme und Fragen, die einem jungen Studenten kommen konnten. Hier fand ich das, was ich als Lebensform suchte: biblischen Realismus ohne jeden Abstrich liberalistischer und rationalistischer Art - und zugleich eine große Weltoffenheit ohne gesetzliche Verengung. Diese gesunde Verbin­dung von entschlossener Christusnachfolge und froher Lebensbeja­hung blieb mir ein Erbe fürs ganze Leben. Ob ich später in der Gemeinde stand, in der Stadtmission oder in der Diakonie - immer blieb ich abhängig von diesem Lebensstil der DCSV.

Der ältere Blumhardt soll einmal gesagt haben: Die meisten Men­schen müßten sich zweimal bekehren - zuerst zu Jesus und dann zur vollen Natürlichkeit! Uns brauchte man diese Mahnung nicht zu sagen. Die gleichen Studenten, die frohe Studentenlieder sangen, traten mit der gleichen Selbstverständlichkeit zum Gebet zusammen. Ich danke der DCSV, daß ich in ihren Kreisen nie eine Zweideutig­keit, geschweige denn eine Zote, gehört habe. Was das bedeutet, weiß jeder, der in Männergemeinschaften gelebt hat. Und nie sah ich einen der Freunde betrunken, ohne daß die von mir damals geübte Abstinenz vom Alkohol die Regel oder gar Gesetz war.

Darum war ich sehr gerne Reisesekretär der DCSV geworden. Nachträglich könnte es mir leid tun, daß ich es nur in dem einen Wintersemester 1920/21 war. Aber um der Gesundheit meiner Frau willen, deren Nerven das viele Alleinsein in der fremden Stadt nicht vertrugen, brach ich im Frühjahr 1921 den Dienst ab und er­kannte darin meines Gottes Führung und Befehl. Damals fand ich das Wort aus dem fünften Buch Mose 24,5: „Wenn jemand kurz zuvor ein Weib genommen hat, der soll nicht in die Heerfahrt zie­hen, und man soll ihm nichts auflegen. Er soll frei in seinem Hause sein ein Jahr lang, daß er fröhlich sei mit seinem Weibe, das er ge­nommen hat." Wie natürlich und nüchtern ist doch unsere Bibel! Ich habe später oft manchen jungen Ehemann auf dieses Wort hin­gewiesen.

Aber dieses eine Semester war erfüllt von reichem Dienst. In Halle selbst holten mich die Studenten öfters, auch einige Male der CVJM, zum Dienst. An einem regen Altfreundekreise nahm ich teil. Täglich hatten wir Studentenbesuch. Im Laufe des Semesters besuchte ich die Universitäten Leipzig und Gießen, die Techni­schen Hochschulen Dresden und Hannover und das Predigersemi­nar in Herrnhut. Fast überall knüpften sich Beziehungen, die jahr­zehntelang hielten. Es gab allerlei Seelsorge an Studenten. Ich muß­te immer Zeit haben für einzelne, aber ebenso gerüstet sein zu öf­fentlichen Vorträgen. Die theologischen Professoren, die ich besuch­te, zeigten starkes persönliches Interesse an der Arbeit. Julius Schniewind stand noch im Anfang seiner akademischen Tätigkeit.

Auch er stammte aus der DCSV. Unvergeßlich ist mir der Besuch bei dem ehrwürdigen Professor Ihmels in Leipzig, dem späteren Landesbischof, der sich warm nach der Arbeit erkundigte.

Noch einer Begegnung, die für mich weitreichende Folgen haben sollte, muß ich gedenken. Pastor Walter Jack vom neubegründeten Missionsbund „Licht im Osten" schrieb mir in Erinnerung an eine früher gesandte Missionsgabe. Diese hatte eine seltsame Vorge­schichte. Als ich mich im Herbst 1919 in Bethel auf das erste theo­logische Examen rüstete, lud mich mein alter CVJM ein, einen Vor­trag zu halten. Ich hatte wenige Tage vorher in der Betheler Brok­kensammlung ein paar Hefte der Lepsiusschen Orientmission gefun­den, in denen ich zum erstenmal über die Stundistenbewegung unter den russischen und ukrainischen Bauern las. Der Stoff war inter­essant, ich hatte nicht viel Zeit, etwas Neues vorzubereiten, und bot an, darüber zu berichten. „Und wie sollen wir das Thema nennen?" fragten die jungen Leute. „Sagen wir mal: Licht vom Osten!" Ich dachte an das lateinische Wort „Ex Oriente lux". Nach dem Vortrag sagte mir ein Glied der Neustädter Gemeinschaft, daß Jakob Kroeker und Walter Jack in Wernigerode einen Missions­bund mit ähnlichem Namen gegründet hätten. Nun wußte ich, wo­hin ich die Kollekte schicken konnte. Erst nach einem Jahr kam die Quittung zugleich mit einer Einladung zu einem Besuch in Wer­nigerode.

Es war ein neblig kalter Novembermorgen. Schon sehr früh war ich als Passagier vierter Klasse von Halle weggefahren. Bei Glatteis und im Dunkeln stieg ich mit meinem Koffer auf den Lindenberg, wo Jack seine Wohnung hatte. Ich wurde sehr warm begrüßt, wir fanden schnellen Kontakt und wurden gute Freunde bis zu jener Stunde, wo ich meinem älteren Bruder auf dem schönen Theobaldi­friedhof das Abschiedswort am Grabe sagen mußte. Wie reich hat mich diese Freundschaft mit Walter Jack gemacht, der eine erstaun­liche Begabung zu echter Bruderschaft hatte! Nach einem recht „weltlich" gestalteten Theologiestudium war Jack, der einer Huge­nottenfamilie entstammte, zu Christus bekehrt worden. Er konnte sich zum Dienst in der Landeskirche nicht entschließen und folgte einem Ruf von Direktor Lepsius, um in Rußland die Leitung ei­ner Bibelschule zu übernehmen. Der sogenannte Stundismus, eine Bibelbewegung unter den russischen Bauern, die durch die Bibel­stunde der schwäbischen Ansiedler entstanden war, hatte seit 1905 eine gewisse Freiheit bekommen. Selten ist eine Erweckungsbewe­gung so schnell, so gründlich zur Verbreitung gekommen. Ihre Wir­kung dauert bis in die Gegenwart, auch wenn die Bezeichnung, die von dem deutschen Wort „Stunde" stammt und von den Rus­sen selbst geprägt war, sich inzwischen änderte. Jack war der rechte Mann für diese Aufgabe. Als die Schule geschlossen und Jack durch seine Heirat mit einer deutschen Gutsbesitzerstochter selbst Landwirt geworden war, rief er seine Schüler als Kutscher, Gärtner und Landarbeiter auf sein Gut und setzte die Bibelschule illegal fort. Durch den ersten Weltkrieg wurde die Arbeit zerstört. Jack wurde mit seiner Familie nach dem Norden deportiert und erst gegen Ende des Krieges nach Deutschland entlassen. Hier wurde er dann zusam­men mit dem Mennoniten Jakob Kroeker zum lauten Rufer zur Unterstützung der bedrängten Evangelischen drüben im Osten.

Als ich bei Walter Jack saß, kündete er gleich an, daß auch Kroe­ker kommen werde, um mich kennenzulernen. Auch ihn kannte ich bisher nur dem Namen nach. Ich hatte vor zwei bis drei Jahren sein Büchlein „Allein mit dem Meister" gelesen und sofort gemerkt, daß es sich hier nicht um eine oft allzu billige christliche Traktat­literatur handelt, sondern um eine sprachlich originelle und inhalt­lich tiefe Heiligungsschrift, an der unser deutsches christliches Schrifttum so arm ist.

Ich wunderte mich über das Interesse an meiner Person. Der Mis­sionsbund suchte Fühlung mit Kreisen, die für die vergessene Auf­gabe im Osten offene Herzen und Ohren hatten. Nun hatte ich innerhalb der DCSV eine Arbeitsgemeinschaft „Dienst für Chri­stus unter den Studenten Rußlands" (DCSR) gegründet und eine Anzahl Studenten aller Fakultäten für die noch bestehende russische CSV interessiert. Wir suchten ihr nicht nur mit Geld, sondern auch mit Medikamentensendungen zu helfen. Die Wernigeröder wa­ren dadurch auf mich aufmerksam geworden.

Als Kroeker kam, fanden auch wir uns schnell, obwohl er viel älter war als ich und mein Vater hätte sein können. Kroeker ver­trat einen lebendigen und sehr originellen Spiritualismus. Einer­seits war er ein edler Vertreter des alten Täufertums, dem die großen Reformationskirchen in der Geschichte so viel Unrecht ge­tan haben. Andererseits war er ein sehr selbständig geprägtes Ori­ginal. Als junger Mensch von der Erweckung in der Krim ergriffen, war er als Lehrer und Prediger durch den bekannten Dr. Baedecker, den Freund der sibirischen Gefangenen, geistlich reich befruchtet. Kurz vor dem Kriege emigrierte Kroeker aus Rußland und zog nach Wernigerode. Die erzwungene Stille, die ihm der Kriegs­beginn auflegte, da er immer noch russischer Staatsangehöriger war und wie ich unter Polizeiaufsicht stand, verstand er fruchtbar aus­zunutzen. Er vervollkommnete sich in den biblischen Ursprachen und vertiefte sich besonders in das Alte Testament. Später saß er wie ein Student im neutestamentlichen Seminar Adolf Deißmanns in Berlin. Er hat» als Mennonit das baptistische Predigerseminar in Hamburg absolviert und blieb doch theologisch ein Selfmade­man. Das gab ihm eine uns alle beglückende Originalität. Er kann­te nicht nur die alten Biblizisten und die englische Heiligungslitera­tur. Er benutzte dankbar die religionsgeschichtlichen Bücher der liberalen Theologie. Aber er kannte auch ebenso gründlich die mo­dernen jüdisch-synaogalen Exegeten, vor allem Raphael Samson Hirsch. Durch diese Vielseitigkeit war er vielen zünftigen Theolo­gen voraus. In späteren Jahren wurde er gerne auf landeskirchliche Pastoralkonferenzen gerufen. Gleichzeitig gehörte er zum Komitee der Blankenburger Allianzkonferenzen. Bischof Wurm hat ihm in seinen Lebenserinnerungen warme Freundschaftsworte gewidmet.

Damals saß Kroeker mir gegenüber und stellte mir allerlei harm­lose Fragen, aus denen ich aber bald merkte, daß er mich exami­nierte. Nun, ich muß auch dies Examen bestanden haben. Ich sehe Kroekers freundliches Lächeln. Wir hatten zu dreien eine schöne Stunde brüderlichen Gesprächs. Wie hätte ich damals ahnen kön­nen, daß ich achtundzwanzig Jahre später Kroekers Nachfolger wer­den sollte!

Der praktische Ertrag meines Wernigeröder Besuchs war, daß Pastor Jack bereit war, zu einer größeren Aktion nach Halle zu kom­men. Ich wollte Professoren und Studenten auf die noch so wenig er­kannte Missionsaufgabe im Osten aufmerksam machen. Im Alter staunen wir über die unbekümmerte Art, mit der wir in der Ju­gend erkannte Aufgaben anzupacken bereit waren. Wieviel Beden­ken hätte ich heute! Damals gelang der Vorstoß. Eine ganze An­zahl Professoren erschienen zur akademischen Teestunde, auf der Jack unsern Blick auf den Osten lenkte. Professor Haußleiter, der Gustav Warnecks Lehrstuhl für Mission geerbt hatte, sagte ganz spontan: „Das russische Volk wird einst die Missionierung Asiens übernähmen." Manch einer mag überlegen lächeln, daß diese Pro­phezeiung in unserer Zeit in ganz anderer Weise ihre Erfüllung fand. Dennoch möchte ich an ihr festhalten. Gottes Kalender rech­net mit größeren Zeitabschnitten, als unser historischer Horizont reicht. Auch vor Studenten und im CVJM hielt Walter Jack Vor­träge.

Meine Hoffnung, daß ich am akademischen Leben Halles teilneh­men könnte, erfüllte sich nicht. Denn ich war viel unterwegs. Äu­ßerlich war der Winter nicht leicht. Die politischen Unruhen in Sachsen, die Aktionen des Räuberhauptmanns Max Holz, die mili­tanten Demonstrationen des »Völkischen Schutz- und Trutzbun­des'', einer antisemitischen Organisation, aus der später eine Reihe Aktivisten der NS-Bewegung hervorgingen, schließlich eine län­gere Streikbewegung-alles machte den Aufenthalt in Halle, wo der Winter ohnehin mit viel Nebel und Regen eine nicht erfreuliche Form zeigte, vielfach notvoll.

Als am Ende des Semesters die Anfrage von D. Jäger, dem Lei­ter der Theologischen Schule in Bethel, eintraf, ob ich bereit wäre, an die Theologische Schule zu kommen, schien uns diese Nachricht wie eine göttliche Hilfe. Bethel und Bielefeld kannten wir beide, und das Ravensberger Land hatte für uns viel Anziehungskraft. Bei mir entstand die Hoffnung, vielleicht ganz in den akademischen Lehrberuf zu kommen. Einerseits hatte ich die Aussicht, mein zu früh abgebrochenes Theologiestudium lehrend zu ergänzen. Ande­rerseits, aber hatte ich Freude am Unterrichten. Die Theologische Schule in Bethel hatte damals noch nicht den Charakter einer den Universitäten ebenbürtigen Fakultät. Die Dozenten beanspruchten auch noch nicht den Professorentitel. Andererseits war die Schule mehr als eine Bibelschule oder ein Predigerseminar. Ich habe spä­ter sehr bedauert, daß dieser Typ einer theologischen Schule ver­schwand, als auch Bethel wie die andern kirchlichen Hochschulen sich den staatlichen Fakultäten anglich.

Mein Auftrag war bescheiden. Ich sollte in den lateinischen und griechischen Sprachkursen je das erste Semester, also die gramma­tikalischen Grundlagen übernehmen. Das war nicht schwer und bei meinen bei weitem nicht ausreichenden Sprachkenntnissen für mich selbst sehr förderlich. Außerdem sollte ich mit dem Titel eines Re­petenten die Lücke eines fehlenden Kirchenhistorikers ausfüllen. Diese Disziplin entsprach meinem Wunsch und meiner Neigung.

Wiederum staune ich jetzt, daß ich damals alle mir aufsteigen­den Bedenken überwand und diesen Schritt ins akademische Lehr­amt wagte. Nach drei Semestern zeigte es sich, daß meine Lebens­aufgabe nicht hier lag. Auch die Leitung der Theologischen Schule überzeugte sich, daß ich zum mindesten nicht genügend vorbereitet war, um ein akademisches Lehramt zu übernehmen. Mein Studium war durch die Umstände zu unsystematisch und auch zu kurz ge­wesen, um allen Aufgaben zu genügen. Obwohl es für mich an Pein­lichkeiten nicht fehlte, waren doch in vieler Hinsicht die andert­halb Jahre in Bethel eine gute Schule für mich.

Wie reich war die Gemeinschaf t im Kreise der Dozenten! Die Lei­tung hatte noch D. Jäger, der die systematischen Fächer vortrug. Altes Testament lehrte Ostreicher, Neues Testament - Schrenk, meine ehemaligen Lehrer. Die praktische Theologie bestritt seit eini­gen Semestern Pastor D. Walter Michaelis. Die Missionsdozentur war durch Err« Johannssen, den hochbegabten Pioniermissionar der Betheimission in Osttfrika, besetzt. Die wöchentlichen Dozen­

tenbesprechungen, ZQ denen ich stets hinzugezogen wurde, waren mir sehr wertvoll und bereicherten mich.

Neben meinen Sprachkursen hatte ich gleich ein allgemeines Re­petitorium für Kirchengeschichte angesetzt, da wir eine Anzahl Ex­amenskandidaten hatten, zum Teil Freunde aus dem Tübinger Se­mester. Diese Übungsstunde setzte viel Vorbereitungen voraus. Da­neben trieb ich die Lektüre der sogenannten „Apostolischen Väter",

d. h. jener altchristlichen Literatur, die sich zeitlich den Schriften des Neuen Testaments anschließt. Dabei erwachte bei mir ein be­sonderes Interesse für die Didache, die „Lehre der zwölf Apostel". Ich habe damals viel über sie gearbeitet und im folgenden SemesterÜbungen über sie gehalten. Eine gewisse Anziehungskraft hatte meine Vorlesung über die Ostkirche. Wäre meine Hoffnung in Er­füllung gegangen, ganz beim Lehramt bleiben zu dürfen, so hätte ich mich auf den Osten spezialisiert. Ich begann sogar, das alte Kir­chen-Slavisch zu lernen.

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