So gesehen stand Marginalität nicht länger ausschließlich für das kollektive Leid und die gesellschaftliche Ohnmacht, sondern konnte auch einfach nur bedeuten, nicht im imperialistischen Zentrum zu stehen, das die Begegnung mit dem Anderen meist als Chance zur Eroberung, Unterwerfung und Kolonisation verstanden hat. Sich nicht im Zentrum dieser Praxen zu befinden war eine große Erleichterung und ging mit dem Erkennen einer kulturellen Freiheit einher, die Selbstbestimmungspotenziale in sich birgt. Wer am Rand lebt, wird am ehesten mit anderen kulturellen Zwischenräumen konfrontiert, kann sich nicht verwurzeln, sodass er oder sie frei und fähig ist, sich auf das jeweils Andere einzulassen und sich darauf zuzubewegen (Anzaldua 1987). Solche GrenzgängerInnen haben ein kreatives Potenzial, weil sie die ihnen zugeteilte Opferrolle ablehnen und in ihrer kritikfähigen und unbequemen Position zwischen den Kulturen vermitteln können. Sie besitzen keine feste eindeutige Identität und sind dadurch in der Lage durch vielfältige Kulturaneignung multiple Identitäten zu entwickeln. Der Ansatz multipler Identitäten geht mit einer kulturellen Praxis einher, die es uns erlaubt verschiedenen Kulturen und Gemeinschaften zur gleichen Zeit anzugehören. Menschen, die sich weigern ausschließlich das eine zu sein und sich unterschiedlichen Orten, Geschichten und Identitäten verbunden fühlen, können die willkürlichen und damit veränderbaren Grenzen zwischen den Kulturen und Nationen mit ihrer Uneindeutigkeit sukzessiv auflösen.
Politik der Selbstaneignung
Die Aufwertung der Marginalität ist erst durch eine Politik der Differenz ermöglicht worden, die Räume für marginalisierte Stimmen innerhalb der dominanten Kultur aufgebrochen hat. Es ist ein Versuch, kritische Politik innerhalb der bestehenden Diskurse produktiv und kreativ einzubinden, um durch Repräsentation des Nicht-Repräsentierten handlungsfähige Positionen für ausgeschlossene Gruppen zu gewinnen, die die Diskurse als solche verändern sollen. Der postkoloniale Diskurs schlägt ein Denken in den Kategorien der Differenz, der Selbstkonstruktion und Unbestimmtheit vor, ohne dabei die Geschichte des Rassismus zu vergessen. Im Hinblick auf die selbstbestimmte Aneignung zukünftiger Selbstdefinitionen gilt es, neue politische Landschaften, befreite Identitäten und autonome Handlungsperspektiven zu entwerfen. Mit dem Verlust von reiner Konsistenz und widerspruchsloser Kontinuität wird unsere Welt, werden die sozialen Beziehungen, die Menschen eingehen, unter die Bedingung dauerhafter und unumkehrbarer Unsicherheit gestellt. Differenz wie Gemeinschaft können dann nicht mehr als sicheres Wissen, als gegeben vorausgesetzt werden, sondern müssen unter der Kondition ständigen Wandels bestehen.
Das Recht auf Selbstkonstruktion erlaubt mehr individuelle Emanzipation, wenn ein Abgleiten in die ideologischen Verstrickungen essenzialistischer Ethnien verhindert und die schwierige Gratwanderung bei der Bestimmung von Differenz zwischen rassistischer Determinierung und kultureller “Entbettung” erfolgreich ausgeglichen werden kann. Entbettung meint den Prozess der Selbstformierung des Subjekts, sein Recht, eine eigene Identität zu wählen und richtet sich gegen die Zwangsvergemeinschaftung von Individuen in Ethnien und Nationen. Dann könnte sich auch die Idee erfüllen, dass Geschlecht und Ethnizität nicht mehr unvermeidbare Kriterien zur Beschreibung von Menschen sind. Sie wären dann nicht mehr wie bisher Schicksal, sondern Bestandteil einer freiwillig angenommenen Identität. Wie Zygmunt Bauman betont, sind es gerade die Fremden, die MigrantInnen, die die Freiheit aus der Ungewissheit ihrer Identität schöpfen. Indem sie geographische, politische und kulturelle Grenzen überschreiten, verstoßen sie (gegen) das moderne Bedürfnis nach einer fundierten Kollektivbiographie, verweigern sie sich dem Bekenntnis, einem festen Territorium anzugehören und eine unveränderliche Identität zu besitzen (Bauman 1995). Es ist gerade der “Verlust” von überkommenen Bindungen und sozialen Fesseln in der Migration, der Erneuerung ermöglicht und die bestehenden Grenzen herausfordert. Mit der Vorstellung einer kulturellen Identität, die einen unbequemen, aber aufregenden Blick auf die eigene Position in der Zwischenwelt eröffnet, beginnt die aktive Suche nach politischen Selbstinszenierungen im Feld der historischen Zuschreibungen und kulturellen Codes, die ein radikal anderes Verständnis von Kultur nahe legen. Bei dieser Politik geht es keinesfalls um eine Kulturalisierung des Sozialen, sondern darum, Kultur als einen wichtigen Kampfplatz von Politik zu verstehen, auf dem Marginalisierte sich positionieren müssen, wenn sie sich nicht von vornherein kampflos zurückziehen wollen. Selbstverständlich erfordert eine Politik der Repräsentation nicht weniger, sondern eine Universalisierung und Weiterentwicklung der BürgerInnenrechte, den Abbau des Staates, wo er autoritär strukturiert ist oder repressiv handelt, sowie den Aufbau einer radikaldemokratisch-politischen Kultur der Zivilgesellschaft. BürgerInnenrechte stellen eine unverzichtbare Voraussetzung politischen Handelns dar, die die gesellschaftliche Repräsentation überhaupt erst ermöglicht. Aber der Kampf gegen Rassismus/Nationalismus ist, wie die Beispiele USA, Großbritannien und Frankreich zeigen, mit der Erlangung der formalen BürgerInnenrechte nicht beendet. Um Rassismus als ideologischen Diskurs und gesellschaftliche Praxis einzudämmen, müssen wir vielmehr verstehen, wie er mit sozialer Ungleichheit und Sexismus verbunden ist, sich mit ihnen überlappt und reproduziert. Diskurspolitik zu betreiben heißt nicht, das Engagement der MigrantInnen für ihre politischen Rechte als Gesellschaftsmitglieder aufzugeben oder zu vernachlässigen, sondern diese Auseinandersetzung auf einem weiteren Schauplatz auszutragen und durch Bündnisse mit Frauen, Linken, Homosexuellen, Arbeitslosen, Obdachlosen und Basisbewegungen in der “Dritten Welt” auszuweiten. Eine Politik der Repräsentation übernimmt keine symbolische Funktion, sondern ist an eine politische Verpflichtung gebunden, die kritische Gegendiskurse initiieren und Modelle für Gegenkulturen anbieten will.
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PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 120, 30. Jg., 2000, Nr.3, //-//
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