Masaryk – universität brünn philosophische Fakultät Institut für Germanistik, Nordistik und Niederlandistik diplomarbeit



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DAS HEMMED
Christian Morgenstern erklärt in seinen Anmerkungen: „Das Hemd eines Galgenbruders, das Sophie gewaschen und auf die Leine gehängt hat, draußen auf der Galgenwiese. – Das kleine Kind, wie welches das Hemmed „weint“, (nämlich – vermutlich - tropft, weil es noch vom Waschen nass ist) ist dasselbe wie im Zwölf-Elf, Zeile 14.“ Da man wieder zeigen kann, dass die Galgengestalten in verschiedenen Gedichten dieser Sammlung anwesend sind (vgl. bei Galgenbruders Frühlingslied). Obwohl wir die Anmerkungen von CH. M. nicht ganz ernst nehmen können, können wir sicher zulassen, dass es ein Hemd vom Galgenbruder ist. Damit sind schon mehrere Szenen aus dem „Galgenleben“ erschienen und wir können mit ihnen schon eine kleine Lebensgeschichte zusammenstellen: Sophie hat das Kind zu Welt gebracht (siehe „Das Geburtslied oder: Die Zeichen oder: Sophie und kein Ende“ ) dann singt sie dem Kind das Wiegenlied (siehe „Galgenkindes Wiegenlied“ ) und dann kann sie dem Galgenbruder sein Hemd aufhängen (siehe Das Hemmed) usw. Man kann aber die Gedichte auch ohne diese Verknüpfung wahrnehmen, man kann nur wissen, dass diese Gestalten in mehreren Gedichten erwähnt sind.

Die Vorliebe in der Bildung der Neologismen ist schon aus dem Titel zu sehen. Das Hemmed ist eine Neubildung zu Hemd. So quält Morgenstern seine Übersetzer, aber das ist auch eine gute Übung für sie, sie müssen einen passenden Neologismus finden, der in gegebener Sprache funktionell ist (vgl. Wie sich das Galgenkind die Monatsnamen merkt oder Neue Bildungen, der Natur vorgeschlagen). Aus den paaren Versen hat er eine tonmalende (onomatopoetische) Begleitung gebildet, die aus dem Gedicht ein kleines wehmütiges Lied machen.



13. DAS KNIE

Ein Knie geht einsam durch die Welt.

Es ist ein Knie, sonst nichts!

Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!

Es ist ein Knie, sonst nichts.
Im Kriege ward einmal ein Mann

erschossen um und um.

Das Knie allein blieb unverletzt –

als wärs ein Heiligtum.
Seitdem gehts einsam durch die Welt.

Es ist Knie, sonst nichts.

Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.

Es ist ein Knie, sonst nichts.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 52.)

CH. M.

Dasselbe bedeutet gewissermaßen das restlose Schreiten des guten Prinzips nach sich selbst, nachdem es (Zeile 5 und 6) vom bösen beinahe vernichtet worden wäre.



Es ist kein Baum! Nämlich: keine Weltesche, Ygdrasil.

Es ist kein Zelt! Nämlich: kein Sternenzelt!

Diese alten schönen Vorstellungen müssen, zum mindesten seit Fritz Mauthner, ad acta gelegt werden.

Manche wollen in dem Knie nur einfach den Begriff der Zeit sehen. Sie gehen von der Mittelstrophe aus und fassen sie insofern als einen Angriff auf die Kantische Lehre von der transzendentalen Idealität von Raumund Zeit auf, als sie in ihren ersten zwei Zeilen Kant im Krieg der Geister unterliegen lassen: aber freilich nur zur Hälfte. Der Raum nämlich (das Umundum) wird mit Kant „erschossen“. Die Zeit aber bleibt, („einsam“ nunmehr) als diejenige sinnliche Form der Anschauung, auf welche sich zuletzt alles, also auch der Raum, zurückführen lässt. – Auch diese Deutung hat viel für sich. 10


DAS KNIE
Der Autor bemüht sich, die Aufmerksamkeit von den Kriegsnöten abzulenken. Er will die schwierigen Situationen im Krieg, wie z. B. schießen oder Tod, damit erleichtern, dass er ein verspieltes Gedicht schreibt, wie ein Soldat zwar erschossen wird, aber sein Knie weiter lebt und einsam durch die Welt geht.

Wir können es entweder als eine schöne Fortsetzung nehmen – der Soldat ist gestorben, aber sein Knie lebt noch und erinnert an etwas wie die Seele oder an das nächste Leben, oder es kann auch ein bisschen traurig sein – der Soldat ist tot, aber das Knie hat keine Ruhe, es muss wie eine Irrseele einsam durch die Welt wandern und kann nie die Glückseligkeit erreichen. Beide diese Zugänge dürfen aber nicht so ernst genommen werden, weil der Autor dieses Gedicht ebenso wie manche andere Gedichte als eine große Übertreibung oder einfach zur Vergnügung geschrieben hat.



14. DER SEUFZER
Ein Seufzer lief Schlittschuh auf nächtlichem Eis

und träumte von Liebe und Freude.

Es war an dem Stadtwall, und schneeweiß

glänzten die Stadtwallgebäude.
Der Seufzer dacht an ein Maidelein

und blieb erglühend stehen.

Da schmolz die Eisbahn unter ihm ein –

Und er sank – und ward nimmer gesehen.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 58.)

CH. M.

Pars pro toto. In Wirklichkeit wird der gute in ein Fischloch gefahren sein. Nach den jüngsten pädagogischen Gesichtsstandpunkten für die neureichsdeutschen Schulbücher umgewälzte Fassung:

Zeile 2: Und träumte von Freundschaft und Freude.

Zeile 6: Der Seufzer dacht` an die Ahnen sein und blieb nachsinnend stehen. 11



DER SEUFZER
Das Abstraktum „Der Seufzer“ ist personifiziert. (Vgl. die Personifikation bei Die zwei Wurzeln)

Dieses Gedicht kann als eine Parodie auf verschiedene Liebesgeschichten, wo die Frauen oder auch Männer (Der Seufzer ist doch Maskulinum) an Liebeskummer leiden, genommen werden. Was aber dieses „Trauerspiel“ erleichtert, ist die Tatsache, dass es sich nur um einen Seufzer handelt, welcher leidet. Man muss dann die Geschichte nicht so intensiv empfinden und mit dem Titelheld leiden und auch nicht traurig sein, dass er ertrunken ist. Die Parodie bringt Entspannung und Erleichterung jeder Situation. Man darf sie selbstverständlich nicht ernst nehmen.


15. BIM, BAM, BUM

Ein Glockenton fliegt durch die Nacht,

als er fliegt in römischer Kirchentracht

wohl über Tal und Hügel hätt er

Vogelflügel;
Er sucht die Glockentönin BIM,

Die ihm vorausgeflogen;

d. h., die Sache ist sehr schlimm,

sie hat ihn nämlich betrogen.
O komm,“ so ruft er, „ komm, dein BAM

erwartet dich voll Schmerzen.

Komm wieder, BIM, geliebtes Lamm,

dein BAM liebt dich von Herzen!“
Doch BIM, dass ihrs nur alle wisst,

hat sich dem BUM ergeben;

der ist zwar auch ein guter Christ,

allein das ist es eben.
Der BAM fliegt weiter durch die Nacht

wohl über Wald und Lichtung.

Doch, ach, er fliegt umsonst! Das macht,

er fliegt in falscher Richtung.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 20.)
CH. M.
Ist von einigen politisch interpretiert worden: Sie sehen in Bim den Fürsten Bülow, im Bam den Liberalismus und in Bum das Zentrum.
In römischer Kirchentracht: nach dieser Deutung nur symbolisch zu verstehen: Der Liberalismus sucht Bülown gegenüber die Rolle zu spielen, die vordem das Zentrum inne hatte. Aber ach, selbst dies hilft nichts.
Gegen diese Deutung ist nur einzuwenden, dass sie sich auf das Jahr 1908 bezieht (in Zeile 8 liegt geradezu die Geschichte des 10. Januar), während das Poem schon 1898 existiert haben dürfte. Trotzdem ist sie nicht schlechterdings abzulehnen. Dichter pflegen ihrer Zeit um 50 Jahre voraus zu sein. Gibt man dies zu, so steht man nicht nur vor keiner Antizipation, sondern umgekehrt vor einem Rückblick um vier Jahrzehnte.12
BIM, BAM, BUM
Der Gedichtsname ist eine Alliteration (am Anfang jedes Wortes ist der gleiche Buchstabe), die die Interjektionen, die den Glockenton nachbilden.

Es ist ein episches Gedicht: die Töne Bim, Bam, Bum sind personifiziert, sie werden mit dem Schicksal dreier Menschen verglichen. Es ist eine Parodie auf die unglückliche Liebe und auf die Untreue: Bam liebt Bim, aber Bim betrügt ihn mit Bum. Hier gibt es eine schöne Metapher auf die Liebe: Bim und Bum bilden jetzt einen Einklang und Bam klingt anders, er ist dissonant zu ihnen. Die ganze Geschichte spielt sich bei Dämmerung ab wie jede große Liebesgeschichte.



16. DIE MITTERNACHTSMAUS
Wenn´s mitternächtigt und nicht Mond

Noch Stern das Himmelshaus bewohnt,

läuft zwölfmal durch das Himmelshaus

die Mitternachtsmaus.
Sie pfeift auf ihrem kleinen Maul,

im Traume brüllt der Höllengaul…

Doch ruhig läuft ihr pensum aus

die Mitternachtsmaus.
Ihr Herr, der große weiße Geist,

ist nämlich solche Nacht verreist.

Wohl ihm! Es hütet ihm sein Haus

die Mitternachtsmaus.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 19.)
CH. M.

Ist die sittliche Weltordnung. 13



DIE MITTERNACHTSMAUS

Dieses Gedicht hat nicht so viel Episches. Eigentlich ist nur eine Maus durch die Nacht gelaufen, sonst ist nichts passiert. Man erfährt auch, dass sie einen Herren hat, der grade nicht zu Hause ist und sie das Haus bewachen soll. Aber alles ist so schnell und unklar abgebildet, dass man ein Gefühl hat, dass man wirklich alles mit Eile passiert.

Im Gedicht ist eine Vorstellung irgendeiner geheimnisvollen Nacht hervorgerufen („im Traume brüllt der Höllengaul…“), die mit der Existenz des Herren, des „grossen weissen Geistes“ zusammenhängt.

Es ist aber klar, dass es sich um keine Geistergeschichte handelt. Morgenstern wollte nur diese Atmosphäre hervorrufen und ohne weitere verhüllte Bedeutung des Textes über eine Maus und ihren Herrn schreiben.




17. DER LATTENZAUN

Es war einmal ein Lattenzaun,

mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.
Ein Architekt, der dieses sah,

stand eines Abends plötzlich da –
und nahm den Zwischenraum heraus

und baute draus ein großes Haus.
Der Zaun indessen stand ganz dumm,

mit Latten ohne was herum.
Ein Anblick grässlich und gemein

Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh

Nach Afri- od- Ameriko.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 53.)

CH. M.

Zeile 10: „der Senat“ deutet auf – Hamburg? Auch die Flucht über See, die Hals über Kopf (siehe die völlige Ratlosigkeit und Verwirrung der Schlusszeile!) angetreten wird, lässt auf eine Hafenstadt schließen.14



DER LATTENZAUN

Hier ist wieder schön zu sehen, wie man aus ganz gewöhnlichen Dingen (siehe z.B. Die Trichter) ein Gedicht bilden kann. In diesem Gedicht genügt nur der Zaun und der Zwischenraum und dann ein kluger Architekt.

In der Schlusszeile gibt es ein Wortspiel - Nach Afri- od- Ameriko – das kann anzeichnen, dass er wirklich weit entfloh, wo er sich verstecken kann und ruhig leben kann, weil dieser Staat noch nicht bekannt ist, aber jeder kennt den Staat und Amerika und Afrika und Christian Morgenstern hat daraus einen Neologismus gemacht.

18. DER WÜRFEL

Ein Würfel sprach zu sich: „Ich bin

Mir selbst nicht völlig zum Gewinn!
Denn meines Wesens sechste Seite

Und sei es auch Ein Auge bloß,

sieht immerdar, statt in die Weite,

der Erde ewig dunklen Schoss.“
Als dies die Erde, drauf er ruhte,

vernommen, ward ihr schlimm zumute.
Du Esel, “ sprach sie, „ich bin dunkel,

weil dein Gesäß mich just bedeckt!

Ich bin so licht wie ein Karfunkel,

sobald du dich hinweggefleckt.“
Der Würfel, innerlichst beleidigt,

hat sich nicht weiter drauf verteidigt.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 61.)


CH. M.

Beide übertreiben den Tatbestand oder nehmen ihn doch jedenfalls zu tragisch; der Würfel jedoch wie ein zwar weltfremder und vergrübelter, aber dabei doch durchaus feingebildeter Geist, während die Erde wie ein Waschweib schimpft. Ein leider auch im bürgerlichen Leben häufig wiederkehrender Vorgang.15


DER WÜRFEL
Hier geht um einen „wirklichen“ Streit, wer auf der Welt wichtiger ist und wer mehr zu sehen sein sollte. Auf kleinem Raum ist schnell ein kurzes Gespräch (oder Streit) abgebildet, das nachzudenken ist. Das ist auch eine von Morgensterns Künsten, das auf kleinem Raum gleich eine kleine Geschichte zu spielen beginnt, die schnell mit überraschender Pointe schließt: Der Würfel, innerlichst beleidigt,

hat sich nicht weiter drauf verteidigt.


19. DIE LUFT

Die Luft war einst dem sterben nah.
Hilf mir, mein himmlischer Papa, „

so rief sie mit sehr trübem Blick,

ich werde dumm, ich werde dick;



du weißt ja sonst für alles Rat –

schick mich auf Reisen, in ein Bad,

auch saure Milch wird gern empfohlen; -

wenn nicht – lass ich den Teufel holen!“
Der Herr, sich scheuend vor Blamage,

erfand für sie die - Tonmassage
Es gibt seitdem die Welt, die – schreit.

Wobei die Luft famos gedeiht.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 82.)

CH. M.

„Wir befinden uns in vorgeschichtlicher Zeit. Die Luft ist (vornehmlich infolge Mangels an Bewegung) sterbensunglücklich – und der Mensch noch nicht erschaffen. Aber er wird es: und zwar eben für die Luft. Und siehe da: sein alsbald anhebendes und orkanartig anschwellendes Geschwätz und Geschrei massiert sie förderlichster Weise, so dass sie seitdem das angenehmste und gesündeste Leben führt.“

(Aus einem populären Vortrag der „Urania“ über naturwissenschaftliche Lyrik des Verfassers – mit Lichtbildern)16
DIE LUFT

Es handelt sich wieder um eine Personifikation (siehe oben), die Luft braucht Luft und bei Mangel braucht sie auch ein Erholungsheim wie ein Mensch. Das kann auch eine Warnung sein, dass wir zur Natur nicht rücksichtslos sein sollen, dass wir nicht die Luft schädigen sollen und auch bewusst werden, dass wir ohne das wirklich ganz machtlos sind. Man kann auch so darüber nachdenken, aber eigentlich soll dieses Gedicht als ein kleiner Scherz und lustige Vorstellung genommen werden.


20. UNTER ZEITEN
Das Perfekt und das Imperfekt

tranken Sekt.

Sie stießen aufs Futurum an

(was man wohl gelten lassen kann).
Plusquamperfekt und Exaktfutur

blinzten nur.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 36.)
CH. M. Zeile 5 und 6: „Fin de siecle."17

UNTER ZEITEN
Bei diesem Gedicht ist es sehr wichtig, die deutsche Grammatik zu kennen; sonst wäre es kein Spaß es zu lesen. Das Perfekt ist die Äußerung der einfachen Vergangenheit – z.B. ich habe gekauft. Das Imperfekt ist die Zeitform, die das beendete Ereignis oder vergangene Beschreibung zum Ausdruck bringt. Das Futurum äußert die Zukunft, z. B. ich werde schreiben. Und das Plusquamperfekt bezeichnet die Vorzeitigkeit des Ereignisses vor einem anderen Ereignis in der Vergangenheit, (z. B. Bevor er das Frühstück machte, hatte er sich rasiert). Der Satz – hatte er sich rasiert - ist im Plusquamperfekt geäußert.

Er macht sich lustig über die Linguisten (genauso wie er sich über die Literartheoretiker lustig macht – siehe oben), er benutzt ihre Terminologie, aber er personifiziert diese abstrakten Begriffe.

Schon vom Namen des Gedichts – Unter Zeiten – erwarten wir ein philosophisches Gedicht, ein Gedicht voll von Epitheta (Dichterattribut), aber der Autor möchte uns nur erheitern.
21. MÖWENLIED

Die Möwen sehen alle aus,

als ob sie Emma hießen.

Sie tragen einen weisen Flaus

Und sind mit Schrot zu schießen.

Ich schieße keine Möwe tot,

ich lass sie lieber leben –

und füttre sie mit Roggenbrot

und rötlichen Zibeben.
O Mensch, du wirst nie nebenbei

der Möwe Flug erreichen.

Wofern du Emma heißest, sei

zufrieden, ihr zu gleichen.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 79.)
CH. M. Zeile 9 und 10 werde hier um Himmels willen nicht das Luftschiff ein. .höchstens den – Engel.18

MÖWENLIED
Dieses Gedicht ist nicht mehr nur zum Lächeln und Vergnügen geschrieben. Das hat schon etwas Philosophie drin (vgl. oben „Über den Dichter Christian Morgenstern von Dieter Zimmer“). Die Vögel sind arm, weil sie von den Menschen geschossen werden, sie können sich nur so wehren, dass sie höher fliegen, sie können nur solche Mittel zur eigenen Rettung benutzen. Dieser Fall kann auch mit manchen Geschichten unter Menschengruppen verglichen werden. Es ist immer eine Menschengruppe erschienen, die die nächste unterdrücken wollte und ihnen nur arme Mittel zur Rettung gelassen hat.

Die zweite Strophe kann auch so interpretiert werden, dass nicht alle Menschen übel tun, es gibt zum Glück immer jemand, der das nicht macht und für die anderen Hoffnung bringen kann.

Die ersten zwei Verse: „Die Möwen sehen alle aus,

als ob sie Emma hießen“

bringen eine schöne Imagination. Man sagt sich dann: Und warum eigentlich nicht? Warum könnten sie nicht alle Emma heißen. Man sieht dann den Himmel und dort fliegen gleich viele Emmas. So entzündet Christian Morgenstern unsere Phantasie.

22. DER WALFAFISCH

oder

DAS ÜBERWASSER
Das Wasser rinnt, das Wasser spinnt,

bis es die ganze Welt gewinnt.

Das Dorf ersäuft,

die Eule läuft,

und auf der Eiche sitzt ein Kind.
Dem Kind sind schon die Beinchen nass,

es ruft: das Wass, das Wass, das Wass!

Der Walfisch weint

und sagt, mir scheint,

es regnet ohne Unterlass.
Das Wasser rann mit zasch und zisch,

die Erde ward zum Wassertisch.

Und Kind und Eul´,

o greul, o greul –

sie frissifrass der Walfafisch.
(MORGENSTERN, Christian. Alle Galgenlieder. Ausgewählt von Horst Hussel. Wien: 1994. S. 85.)

CH. M.

Bemüht sich, in biederer Holzschnittmanier die in den Mythologien aller Völker vorkommende große Flut in ländliche deutsche Verhältnisse zu übertragen. Wir finden ein Dorf, eine Eule, eine Eiche, ein Kind, alles Gegenstände einer sichern und vertrauten Heimatkunst. Auch der Walfisch, welcher auftritt, ist durchaus deutsch. Er könnte vorher vor dem Gehäus des Heiligen Hieronymus gelegen haben. Dass er das Kind sowie die Eule am Schluss „frisst“, nachdem er anfangs – aus Mitleid mit dem Kinde – geweint hat, widerspricht dem nicht. Erstens sind Kind und Eule ja doch verloren, und dann macht sich z. B. das Deutsche Reich von heute ja auch nichts daraus, zu fressen, wo es eben etwas zu fressen gibt, auch wenn es noch so oft vorher den Tod des Stifters der christlichen Religion beklagt und sich vor ihm das Versprechen gegeben hat, sein Aug` aufs Ewige und nicht auf Perser oder Hottentotten zu richten. 19



DER WALFAFISCH oder DAS ÜBERWASSER
Dieses Gedicht klingt ein bisschen drastisch im Vergleich zu anderen Gedichten, die immer sehr spielerisch und lächelnd sind. Schon die Vorstellung des Hochwassers ist sehr realistisch beschrieben, überall ist viel Wasser, das immer steigt, und für die Lebewesen gibt es hier fast keine Möglichkeit sich zu retten. Sie können immer nur einen höheren Platz finden, wohin das Wasser noch nicht reicht. Dann kommt endlich eine Rettung – Der Walfafisch, das denkt man aber nur im ersten Augenblick. Gleich stellt man fest, das Walfafisch ist der, der das Zerstörungswerk beendet – er frisst alle, die vor einer Weile noch eine Hoffnung hatten, dass sie gerettet werden. Das einzige, was die Geschichte leichter machen kann, ist, dass der Fresser Walfafisch ist, also ein Tier, das in Wirklichkeit nicht existiert, das kann jeden Leser gleich beruhigen. Hier benutzt Morgenstern auch ein Wortspiel, normalerweise heißt das Tier Walfisch, aber er hat davon Walfafisch gemacht (Vgl. Das Gedicht „Hemmed“ die Neubildung von Hemd)

2. Überblick über den Dadaismus
2.1 Was ist Dadaismus?
Der Dadaismus ist trotz seiner kunstgeschichtlichen Bedeutung nach wie vor eine Marginalie der Forschung, zugleich aber auch immer noch ein Faszinosum. Beides, sowohl seine Anziehungskraft einerseits als auch sein Randdasein anderseits, schuldet er wohl unter anderem Widerständigkeit bzw. Unzugänglichkeit seiner Manifestationen. Eine Lösung dieses Interpretationsproblems wird häufig über die Frage versucht, was an einem bestimmten Werk dadaistisch sei bzw. in welcher Form es den Dadaismus umsetze. Diese Strategie ist durchaus erkenntnisfördernd und vielleicht oft auch der einzige Weg, dem singulären Kunstobjekt etwas mehr abzugewinnen als befremdetes Stauen. Trotzdem ist sie in ihren Voraussetzungen in zweifacher Hinsicht problematisch.

  1. Sie geht davon aus oder legt zumindest nahe, dass sich sein Gehalt darin erschöpfe, Dada zu illustrieren.

  2. Sie macht glauben, Dada wäre als problematische Grundlage der künstlerischen Produktion dieser Unzugänglichkeit enthoben.

Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Konzeption und praktischer Umsetzung im vorliegenden Fall nie ganz eindeutig und der Dadaismus als Programm keine fix gegebene Größe. Die Interpretationsarbeit beginnt also genaugenommen bei der Frage, was Dadaismus eigentlich sei. Bis dato fehlt dazu allerdings eine sachliche adäquate Definition, zumindest in dem Sinn, den der Begriff „Definition“ suggeriert.

Dass eine gleichermaßen einfache und klare Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage immer noch nicht gegeben werden kann, liegt weniger an Versäumnissen der Forschung, als vielmehr in der Sache selbst begründet. Nach allgemeinem und ungefährem Verständnis ist der Dadaismus eine bestimmte historische Kunstbewegung. Obwohl diese grobe Lokalisierung des Gegenstands kaum eine inhaltliche Spezifikation enthält, steht sie in vier Punkten im Widerspruch zu den zahlreichen Erklärungen seiner Manifestanten: Demnach sei der Dadaismus nämlich



  1. durchaus nicht „bestimmt“, sondern im Gegenteil programmatisch unspezifisch,

  2. keineswegs historisch fixierbar,

  3. mitnichten eine Bewegung und

  4. schon gar keine ästhetische, jedenfalls nicht nur und allenfalls nur zufälligerweise:

Dada bedeutet nichts. (Tzara)

Bevor Dada da war, war Dada da. (Arp)

Das Manifest ist als Textsorte nicht nur eine bevorzugte literarische Ausdrucksform im Dadaismus, sondern hat selbst in der Gesamtheit dadaistischer Kunstproduktion paradigmatische Bedeutung. In auffälliger Diskrepanz zu seinem Status hat sich das Interesse der Forschung bislang überwiegend anthologisch, kaum analytisch geäußert. Dieser Befund ist einerseits Teil und Folge eines Desiderats, das dadaistische Literatur insgesamt betrifft, hat aber zusätzlich wohl noch spezifische Gründe. 20

2.1.1 Dadaistisches Manifest
Die Kunst ist in ihrer Ausführung und Richtung von der Zeit abhängig, in der sie lebt, und die Künstler sind Kreaturen ihrer Epoche. Die höchste Kunst wird diejenige sein, die in ihren Bewusstseininhalten die tausendfachen Probleme der Zeit präsentiert, der man anmerkt, dass sie sich von den Explosionen der letzten Woche werfen ließ, die ihre Glieder immer wieder unter dem Stoß des letzten Tages zusammensucht. Die besten und unerhörtesten Künstler werden diejenigen sein, die stündlich die Fetzen ihres Leibes aus dem Wirrsal der Lebenskatarakte zusammenreißen, verbissen in den Intellekt der Zeit, blutend an Händen und Herzen.

Hat der Expressionismus unsere Erwartungen auf solche Kunst erfüllt, die eine Ballotage unserer vitalsten Angelegenheiten ist?

Nein! Nein! Nein!

Haben die Expressionisten unsere Erwartungen auf eine Kunst erfüllt, die uns die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt?

Nein! Nein! Nein!

Unter dem Vorwand der Verinnerlichung haben sich die Expressionisten in der Literatur und in der Malerei zu einer Generation zusammengeschlossen, die heute schon sehnsüchtig ihre literatur- und kunsthistorische Würdigung erwartet und für eine ehrenvolle Bürger-Anerkennung kandidiert. Unter dem Vorwand, die Seele zu propagieren, haben sie sich im Kampfe gegen den Naturalismus zu den abstrakt-pathetischen Gesten zurückgefunden, die ein inhaltloses´, bequemes und unbewegtes Leben zur Voraussetzung haben. Die Bühnen füllen sich mit Königen, Dichtern und faustischen Naturen jeder Art, die Theorien einer melioristischen Weltauffasung, deren kindliche, psychologisch-naivste Manier für eine kritische Ergänzung des Expressionismus signifikant bleiben muss, durchgeistert die tatenlosen Köpfe. Der Hass gegen die Presse, der Hass gegen die Reklame, der Hass gegen die Sensation spricht für die Menschen, denen ihr Sessel wichtiger als der Lärm der Straße und die sich einen Vorzug daraus machen, von jedem Winkelschieber übertölpelt zu werden. Jener sentimentale Widerstand gegen die Zeit, die nicht besser und nicht schlechter, nicht reaktionärer als alle anderen Zeiten ist, jene matte Opposition, die nach Gebeten und Weihrauch schielt, wenn sie es nicht vorzieht, aus attischen Jamben ihre Pappgeschosse zu machen – sie sind Eigenschaften einer Jugend, die es niemals verstanden hat, jung zu sein. Der Expressionismus, der im Ausland gefunden, in Deutschland nach beliebter Manier eine fette Idylle und Erwartung guter Pension geworden ist, hat mit Streben tätiger Menschen nichts mehr zu tun. Die Unterzeichner dieses Manifests haben sich unter dem Streitruf

DADA!!!!

zur Propaganda einer Kunst gesammelt, von der sie die Verwirklichung neuer Ideale erwarten. Was ist nun der DADAISMUS?

Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhytmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. Hier ist der scharf markierte Scheideweg, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem von dem FUTURISMUS trennt, den kürzlich Schwachköpfe als eine neue Auflage impressionistischer Realisierung aufgefasst haben. Der Dadaismus steht zum ersten Mal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.

Das BRUITISTISCHE Gedicht

schildert eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen.

Das SIMULTANISTISCHE Gedicht

lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.

Das STATISCHE Gedicht

macht die Worte zu Individuen, aus den drei Buchstaben Wald, tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus, vielleicht Bellevue oder Bella vista. Der Dadaismus führt zu unerhörten neuen Möglichkeiten und Ausdrucksformen aller Künste. Er hat den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht, er hat die BRUITISTISCHE Musik der Futuristen (deren rein italienische Angelegenheit er nicht verallgemeinern will) in allen Ländern Europas propagiert. Das Wort Dada weist zugleich auf die Internationalität der Bewegung, die keine Grenzen, Religionen oder Berufe gebunden ist. Dada ist der internationale Ausdruck dieser Zeit, die große Fronde der Kunstbewegung, der künstlerische Reflex aller dieser Offensiven, Friedenkongresse, Balgereien am Gemüsemarkt, Soupers im Esplanade etc. etc. Dada will die Benutzung des

NEUEN MATERIALS IN DER MALEREI.

Dada ist ein CLUB, der in Berlin gegründet worden ist, in den man eintreten kann, ohne Verbindlichkeiten zu übernehmen. Hier ist jeder Vorsitzender und jeder kann sein Wort abgeben, wo es sich um künstlerische Dinge handelt. Dada ist nicht ein Vorwand für den Ehrgeiz einiger Literaten (wie unsere Feinde glauben machen möchten) Dada ist eine Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann, sodass man sagen muss: dieser ist ein DADAIST – jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New-Orleans und Meseritz. Dadaist sein kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein – Dadaist sein, heißt, sich von den Dingen werfen lassen, gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl setzen, heißt, das Leben in Gefahr gebracht haben (Mr. Wengs zog schon den Revolver aus der Hosentasche). Ein Gewebe zerreißt sich unter der Hand, man sagt ja zu einem Leben, das durch Verneigung höher will. Ja-sagen - Nein-sagen: das gewaltige Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des echten Dadaisten – so liegt er, so jagt er, so radelt er – halb Pantagruel, halb Franziskus und lacht und lacht. Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbesserenden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus im Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!
Tristan Tzara. Franz Jung. George Grosz. Marcel Janco.

Gerhard Preiß. Raoul Hausmann. O. Lüthy.

Fréderic Glauser. Hugo Ball. Pierre Albert Birot.

Maria d´Arezzo Gino Cantarelli. Prampolini. R. van Rees. Madame van Rees.

Hans Arp. G. Thäuber. Andrée Morosini. Francois Mombello-Pasquati.21


2.2 Das Cabaret Voltaire und der Dadaismus
Das Definitionsproblem, vor das einen die Frage stellt, was Dadaismus sei, Hat eine historische Dimension. Der Dadaismus wird in seiner Geschichte allerdings nicht eindeutig erkennbar, sondern nur in einer fortlaufenden Weiterntwicklung bzw. Umbildung. Sein historischer Wandel lässt in keiner Phase etwas hervortreten, was sachlich begründet als eigentlicher Dadaismus gelten kann. Es ist genau genommen nicht einmal möglich, seine Geschichte zu begrenzen.

Als zeitliche Markierung für den Ursprung des Dadaismus werden in den Rekonstruktionsversuchen seiner historischen Entwicklung unterschiedliche Daten genannt. Herausragende Bedeutung kommt dabei aber zu



  1. der Gründung bzw. Eröffnung des Cabaret Voltaire und

  2. der ersten Nennung von „Dada.“

Beide Marken sollten im folgenden exemplarisch auf ihre Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des Dadaismus überprüft werden.
Das Cabaret Voltaire wurde am 5. Februar 1916 eröffnet in einem leerstehenden Saal einer im Züricher Vergnügungsviertel Niederdorf gelegenen Weinstube in der Spiegelgasse 1. Treibende Kraft hinter dieser Gründung war Hugo Ball, dessen Pläne sich anhand von brieflichen Äußerungen bis 1915 zurückverfolgen lassen:

„ (…) wir (…) werden in einer entzückenden kleinen Weinstube ein literarisches Kabarett aufmachen, bei dem uns hiesige und ausländische Freunde mit Energie und Beiträgen unterstützen. Eine lebendige Zeitschrift gewissermaßen“ (H. Ball);

„ (…) nun eröffnen wir – am 5. Februar – eine Künstlerkneipe: im Simplizissimus-Stil, aber künstlerisch und mit mehr Absicht“ (H. Ball).

Beide Stellen enthalten keinen hinreichend klaren Beleg dafür, dass den Plänen Balls zu dieser Zeit (Jahrwechsel 1915/1916) bereits eine spezifische programmatische Absicht zugrunde liegt. Der Hinweis im zweiten Zitat bleibt unausgeführt und ist jedenfalls nicht präzisiert im Hinblick auf die Ziele, auf Balls Absichten konkret gerichtet sind. Allerdings weist die kurze Charakteristik, die er von seinem Vorhaben gibt, bereits voraus auf die dadaistische und im Dadaismus radikalisierte Praxis, Literatur unter Umgehung von Druckmedien in mündlichem Vortrag und öffentlich zu präsentieren. Dass die Wahl dieser medialen Form des künstlerischen Ausdrucks nicht zufällig, sondern bewusst getroffen ist, zeigen parallele Stellen aus dem Aufsatz Die junge Literatur in Deutschland, den Ball im August 1915 veröffentlicht hat:

„(Es) hat (…) bis jetzt für die junge deutsche Literatur so etwas wie ein öffentliches Leben noch nicht gegeben. Es sind noch keine 10 Jahre her, dass in Berlin eine gewisse Propaganda des öffentlichen Ausdrucks einsetzte (…). Wichtiger als „Literatur“ sei das Eingreifen, das Sich-Beteiligen an der Öffentlichkeit. Wichtiger als Verse, Aufsätze, Dramen irgendwelcher Art sei das Ausprägen etwelcher Gedanken coram publico, sei es im Vortragssaal, mit der Reitpeitsche oder in der Debatte. Man dachte an Manifeste, wo man früher Gedichtbände und Romane veröffentlichte. Man veranstaltete jetzt Abende auf eigene Faust unter Umgehung der Zeitschriften.“ (H. Ball)

Der Nachweis, dass im Cabaret Voltaire eine Idee verwirklicht werden sollte, die später für die Intentionen des Dadaismus zentrale Bedeutung gewinnt, ist allerdings für die Datierung seines Ursprungs noch keineswegs signifikant. Erstens ist der Dadaismus nicht allein auf diesen Aspekt reduzierbar; zweitens weisen Balls Pläne nicht nur voraus, sondern gleichermaßen auch zurück auf die Theaterkonzeption des italienischen Futurismus und im besonderen Fall vor allem auch auf Anregung durch Kandinsky Konzept des Gesamtkunstwerk; schließlich sind die Absichten, die Balls Plänen für ein literarisches Kabarett zugrunde liegen, bereits bestimmend für die Aktivitäten, die er gemeinsam mit Huelsenbeck 1915 noch in Berlin gesetzt hat. Auch wenn sich darin in Ansätzen schon vieles von dem zeigt, was später weiterentwickelt wird und programmatische Eigenart gewinnt, hat sich der Dadaismus in seinem spezifischen Charakter darin noch nicht ausgebildet.

Dass Huesenbeck seine Entstehung darauf vordatiert, ist weniger in der Sache als vielmehr in seinem Eigeninteresse an der Urheberschaft begründet. Aus der Vermischung von sachlich-historischem und persönlichem Interesse erklären sich wohl auch die offenbaren Widersprüche:

„Ball und ich ahnten etwas von Dadaismus, als wir 1915 den Expressionistenabend in Berlin organisierten, aber wir verstanden es zuerst und wir erlebten es zuerst in der Emigration.“ (Huelsenbeck)

„Ich war der älteste Freund Balls und hob den Dadaismus mit ihm schon in Deutschland aus der Taufe, als er sich dort aus einem Widerstand gegen die „Verinnerlichung“ des Expressionismus entwickelte.“ (Huelsenbeck)

Ein eigener Name existierte als Erkennungszeichen damals noch nicht und auch nicht zum Zeitpunkt der Gründung des Cabaret Voltaire. Gegen die Annahme, der Dadaismus könnte bereits vor seiner Taufe im Bewusstsein der Eigenart der Aktivitäten seiner späteren Wortführer gegenüber bestehenden Bewegung bestanden haben, sprechen deutlich die Beschreibungen, mit denen das Cabaret beworben und zur Mitarbeit eingeladen wurde. Eine Pressenotiz vom 2. Februar, die Ball initiiert und später in sein Tagebuch aufgenommen hat, lautet dazu wie folgt:

„Cabaret Voltaire. Unter diesem Namen hat sich eine Gesellschaft junger Künstler und Literaten etabliert, deren Ziel ist, einen Mittelpunkt für die künstlerische Unterhaltung zu schaffen. (…) Es ergeht an die junge Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden.“ (H. Ball)

Entsprechend dazu enthält auch das Plakat zur Eröffnung keine konkreten Informationen zur inhaltlichen Ausrichtung der Neugründung:

Künstlerkneipe Voltaire / Allabendlich (mit Ausnahme von Freitag) / Musik-Vorträge und Rezitationen.

Die weitergehende inhaltliche Neutralität setzt sich fort in der relativen Offenheit der Programmgestaltung. Der Dadaismus ist in den Aktivitäten des Cabaret Voltaire nicht eindeutig fassbar, weil sie in ihrer Ausrichtung zu vielgestaltig waren. Döhl führt für diesen Befund drei Gründe an:



  1. die Heterogenität des Programms ist Ausdruck programmatischer Orientierungslosigkeit;

  2. erklärt sich aus den organisatorischen Gegebenheiten des Cabarets, die zu einem häufigen Programmwechsel zwangen;

  3. liegt begründet in der Verschiedenartigkeit der Voraussetzungen und Interessen der Beteiligten.

In Eigenbeschreibungen greift man in dieser Phase meistens zurück auf die Namen bereits etablierter Bewegungen. Das spezifische bestand wohl vorerst auch in der Mischung von Kubismus, Expressionismus und Futurismus. Auch wenn die künstlerische Tätigkeit der am Geschehen im Cabaret hauptsächlich Beteligen immer mehr an Kontur gewann und sich gegenüber diesen Bewegungen immer klarer abgrenzen ließ, ist die Frage, ob sich der Dadaismus darin bereits ausgebildet habe, im Sinn eines Ja oder Nein nicht zu beantworten.
2.2.1 Erste Nennung von Dada
Die Geschichte von „Dada“, die parallel zu den Entwicklungen im Cabaret Voltaire verläuft, bietet dabei keine Entscheidungshilfe. Wenn man das Vorkommen in dem oben zitieren, unter der Co-Autorschaft Balls entstandenen Gedicht, das sich der Verdopplung des Lokaladverbs „da“ verdankt, nicht wertet, ist sein erstes bekanntes Erscheinung datierbar auf den 29. Februar oder März 1916. Der Kontext, in dem es steht, als dem Namen Balls vorangestellte Briefunterschrift, erlaubt keine Aussage, die darüber hinaus für die Entwicklungsgeschichte des Dadaismus von Erkenntniswert wäre, sondern allenfalls Spekulation über den Hintergrund dieser Anspielung. In Beziehung zu den Aktivitäten im Cabaret steht die Verwendung von „Dada“ das erste Mal in einem Tagebucheintrag Balls vom 18. April 1916:

„Tzara quält wegen der Zeitschrift. Mein Vorschlag, sie Dada zu nennen, wird angenommen.“ (H. Ball)

Dem Zitat folgt eine nationalsprachliche Erläuterung von „Dada“, die aber keine eindeutige programmatische Interpretation hält. Genau in diesem Sinn erscheint es schließlich in der von Ball verfassten Einleitung zur Sammelschrift des Cabaret Voltaire als Ankündigung einer eigenen Zeitschrift. Beide Nennungen sind im Hinblick auf, ob damit der Beginn des Dadaismus begründet ist, nicht signifikant. Es ist aber aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen zur organisatorischen Ausrichten der gemeinsamen Aktivitäten sehr wahrscheinlich, dass „Dada“ speziell für Tzara schon zu diesem Zeitpunkt programmatische Bedeutung hatte. Für Ball lässt sich jedenfalls spätestens für den 4. Juli nachweisen in einem Brief an Tzara, in dem sich allerdings schon die Distanz ausspricht, die schließlich in der Absage gipfelt, als die er sein Eröffnungs-Manifest zum 14. Juni verstanden wissen wollte:

Momentan bin ich dem Dadaismus fern – bedenken Sie, ich bin leidenschaftlicher Anleger. Aber ich habe doch Lust, auch zu brüllen – später. (H. Ball)

Der historische Ursprung des Dadaismus ist auf der Grundlage der referierten Daten nicht eindeutig lokalisierbar. Weder die Entwicklung, die sich in den Aktivitäten des Cabaret Voltaire vollzieht, noch die Geschichte von „Dada“ liefern ausreichend klare Belege. Das liegt nicht etwa an der Lückenhaftigkeit der Dokumentation, sondern daran, dass die Problemstellung dem Gegenstand nicht angemessen ist. Die Chronologie seiner Entwicklung könnte weiterverfolgt werden, ohne dass sich definitiv sagen ließe, mit welchem Zeitpunkt bzw. Ereignis oder Dokument sich vorbereitende Tendenzen zum ersten Mal eindeutig als Dadaismus konstituieren. Es würden darin nur Dadaismen verschiedener Phasen erkennbar, die in ihrer Ausprägung immer schon Vorwegnahmen der weiteren Entwicklung enthalten.

Das Problem, das sich hinter der Frage der historischen Begrenzung des Dadaismus verbirgt, ist ein Steinproblem, wenn damit die Erwartung verbunden ist, dass die gesuchten Markierungen eindeutig datiert werden können. Es gibt kein Datum bzw. kein datierbares Dokument, das sinnvollerweise als definitiver Ausgangspunkt des Dadaismus gelten kann. Jeder Versuch, einen zeitlichen Rahmen in diesem Sinn zu definieren, vermittelt eine falsche Vorstellung von der historischen Gestalt des Dadaismus. Der Dadaismus hat sich nicht konstituiert mit einer den programmatischen Willen einer Gruppe darstellenden Gründungserklärung. Er hat sich vielmehr im zeitlichen Verlauf schrittweise herausgebildet aus einem Komplex diverser Faktoren, die in ihrem Zusammentreffen auf die Aktivitäten einzelner Künstler und deren Ausrichtung prägend und verstärkend wirkten.

In analoger Weise ist auch das Ende des Dadaismus nicht mit einem einzigen intentionalen Akt beschlossen, sondern Endresultat einer Entwicklung, die von unterschiedlichsten Auflösungserscheinungen begleitet war. Die Frage, wann bzw. worin der Dadaismus seinen zeitlichen Ursprung und sein Ende hat, ist nur dann gegenstandsadäquat zu beantworten, wenn sie nicht als punktuelle Markierungen, sondern als Übergangsstadien beschrieben werden, in denen sich Vorwegnahmen und Rückbezüge in einer komplexen Entwicklungsgeschichte vermischen.

Die historische Charakteristik, die sich aus den vorliegenden Daten ergibt, erfordert zugleich eine Korrektur der Vorstellung, es sei möglich, in einer bestimmten Phase dieses Entwicklungsprozesses einen „reinen Dadaismus“ zu identifizieren. Die mit Zeit und Ort wechselnden Umstände und die sich parallel dazu verändernden Zielsetzungen seiner Wortführer, die in wechselnden Gruppenkonstellationen in unterschiedlichem Grad bestimmend waren, führten zu einer fortlaufenden Umbildung und Differenzierung des Dadaismus. Es gibt keine sinnvolle Begründung dafür, den Begriff „Dadaismus“ für eine dieser Ausprägungen und zuungunsten aller anderen zu reservieren. Diese prinzipielle Gleichwertigkeit gilt selbstverständlich für seine lokalen Varianten. 22


Der Ursprung des Wortes „Dada“ bleibt aber sowieso bis heute unklar und es existieren mehrere Theorien für Herkunft dieses Wortes:

  1. Es handelt sich ums Wort ohne irgendwelche Bedeutung, das sie einfach ausgedacht haben.

  2. Das Wort kommt von rumänischen Künstlern (T. Tzara und M. Janco), die sehr oft die Wörter „da, da“, bedeutend „ja, ja“, benutzt haben.

  3. Bei der Entstehung der Bewegung haben sie nachgedacht, wie sie diese Bewegung nennen sollen, sie haben zufällig die Nadel ins französisch – deutsche Wörterbuch gestochen und das Wort „Dada“ gefunden. „Dada“ heißt in der französischen Kindersprache „Schaukelpferd“. Im Französischen existiert auch der umgangssprachliche Ausdruck „cést mon dada“ bedeutend „das ist meine Vorliebe.“



2.3 Entwicklung des Dadaismus
Was Dada ist, wissen nicht einmal die Dadaisten, sondern nur der Oberdada, und der sagt es niemand.“

Johannes Baader

Wo und wann das ominöse Wort erfunden wurde und wer sein Urheber war, ist mittlerweile ohne Belang. Und dass es mehr bedeutet als möglicherweise die Imitation eines ersten Kinderlauts, ist runde achtzig Jahre nach seiner Geburt sogar außerhalb der Kunstwelt geläufig. Dada verkörpert mit dem Futurismus und dem Kubismus die Avantgarde der Moderne und war von diesen Aufbruchbewegung nach dem Ende des sogenannt „bürgerlichen Zeitalters“ sicher die internationalste, mit Bestimmtheit die aggressivste, lärmigste, vielleicht sogar die innovativste. Natürlich hat man sich angewöhnt, den Königsweg der Moderne von Cézanne zum Kubismus abzuschreiten und hat Picasso, Kandinsky, Klee und Mondrian als die Gralshüter des Fortschritts inthronisiert, und sicherlich ist der „Kunstwerk“ einzelner Dada-Werke meinst als entsprechend geringer zu verschlagen. Doch als Bewegung setzte sie bis zu Surrealismus, Pop-Art, Nouveau Réalisme und Konzept-Kunst in Typografie, Fotoexperiment oder Objektgestaltung mehr an Kreativität frei, als die akademische Kunstgeschichte bisher zu erkennen vermochte. Gar nicht zu reden von den kühnen Vorstößen im Reich der spekulativen Philosophie, der Sprache oder der Sexualität.

Als Hugo Ball und Emmy Hennings, Hans Arp, Marcel Janco und Tristan Tzara am 5. Februar 1916 im Restaurant „Meierei“, Spiegelgasse 1, Zürich, das „Cabaret Voltaire“ eröffneten und damit Zürcher Dada-Saison eintrommelten, dachten sie weder an Nachruhm noch an das „Kunstwerk“. Abscheu vor einem sinnlosen Krieg hatte die Flüchtlinge, Deserteure, Pazifisten hier versammelt, und ihr Protest richtete sich zuallererst gegen den Bankrott der Politik. Dass damit auch mit der bürgerlichen Kultur „tabula rasa“ gemacht wurde, verstand sich von selbst, und Abstraktion bedeutete nicht eine formale Erfindung, sondern die radikale Ablehnung der bisherigen Sprache. Eine Stadt mit einer langen und befruchtenden Emigranten-Tradition hatte vorübergehend eine verzweifelte Avantgarde aufgenommen, deren Waffe gegen den Krieg „Dada“ hieß. Oder wie es der Korrespondent der „Züricher Post“ nach dem Genuss des ersten Voltaire-Programms formulierte: „…da hängen gemalte Trompetenstöße und Festreden von Pariser, Berliner und Wiener Künstlern; da hängen auch die furiosen Manuskripte futuristischer Zeitungsartikel, wahrhafte Skizzen zu Feldbefestigungen aus bewaffneten Worten…“

Mit dem Ende des Krieges, den niedergeschlagenen Aufständen der Räterepubliken und der einsetzenden „Prothesenwirtschaft“ (Grosz) strömten sie als „Mouvement Dada“ 1918/19 aus in alle Welt. Aus der Zertrümmerung des Alten war unter schwierigsten äußeren Bedingungen phönixartig der quicklebendige Dada-Geist erwacht, gleichzeitig mit Zürich auch in New York (Duchamp, Man Ray) und bald in Berlin (Huelsenbeck, W. Herzfelde, J. Heartfield, GeorgeGrosz, Raoul Hausmann, Walter Mehring und Johannes Baader) Paris (Picabia, Tzara, Breton), Köln (Max Ernst, Johannes Baargeld und Hans Arp) Hanover (Kurt Schwitters) bis er sich zur „Weltzentrale“ ausbreitete. Er entzündete sich aus einer neuen Verschmelzung der Künste, der Literatur und bildenden Kunst vor allem, des Cabarets und Tanzes, der Zeitschriften und Flugblätter, der Aktionen und Kongresse, der handfesten Skandale und wundersamen Fiktionen. Die dadaistische Revolte wurde zur künstlerischen Revolution und hat als solche Literatur- wie Kunstgeschichte herausgefordert, „denn Dada ist eine Mélange aus beidem, Wort und Bild, oder besser eine Mésalliance, denn es hat sowohl die Literatur wie die bildende Kunst bastardisiert.“ Die dadaistischen Erfindungen gelten denn auch nicht primär formalen Innovationen, sondern haben die Grenzen der eingespielten Verhaltensmuster und Traditionen gesprengt. Dass Dada stilistische Filiationen mit dem Expressionismus hatte, wie vor allem in Zürich und naturgemäß in Deutschland – trotz der Abneigung gegen Herwarth Waldens „Sturm“ – oder mit dem Kubismus in Paris, dass Dada Methoden des Futurismus übernahm, ein Bindeglied zwischen Suprematismus und Konstruktivismus wurde, selbst zum Verismus und zur Neuen Sachlichkeit steuerte und selbstredend den Surrealismus vorbereitete, verunklärt die Tatsache nicht, dass Dada nie ein stilistisch homogener –Ismus war, sondern eine geistige Haltung. Dadaistische Essenz sind die Ready-mades von Duchamp, die Zufallsästhetik von Arp, Schads und Man Rays Neuerfindung des Fotogramms, die Verwendung vorgefundenen „Materials“ durch Hausmann oder Schwitters oder Max Ernst, sind die Lautgedichte, die bruitistische Musik, die Zertrümmerung des Wortes, die neue Typografie des Buchstabens, der Aktionismus eines Jacques Vaché, das Versteckspiel Serners, die Mehrsprachigkeit, die Internationalität, der „Présentismus“ oder „die Proktatur des Diletariats“ (Hausmann). 23




2.4 Reaktionen der Kritik auf die Dada - Kunst

Berliner Tageblatt, 14. April 1918

Weder der Schrei einer Autohuppe, noch das Knattern eines Maschienengewehrs ist Dada. Nicht das Stammeln eines Kindes, noch das Klappern einer Negertrommel oder der melancholische Schnabelschlag des Spechtes, der mit ekstatischem Eifer die Borke des Baumes spellt. Dada ist nichts anderes als das Symbol des primitivsten Verhältnisses zur Wirklichkeit. Dada ist eine Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann, so dass man mitten in der harmlosesten Unterhaltung, plötzlich begreifend inne wird: „Dieser ist, aha, komplett dada…“

Das ist übrigens keine phantastische Erfindung, keine Lautmalerei, kein Schall ohne Sinn und Bedeutung. Dada ist, was die Dadaisten vielleicht selbst nicht ahnen, ein längst geprägter fester Begriff, ein beinahe klassisches Wort, wenn auch nicht im Griechischen oder Lateinischen, oder gar im Sanskrit, sondern in der melodisch-schnalzenden Sprache der Kruneger. Das Wort „dada“ nämlich weckt in jedem Krunegerhirn sofort höchst ehrwürdig pendelnd bewegte Vorstellungen, die sich für europäische Gehirne und Nasen mit einem milden, warmen Stallgeruch verbinden würden, denn es bedeutet, Scherz und Ironie beiseite, „heiliger Kuhschwanz.“

Ob man eine tiefere mystische Beziehung waltet zwischen dem heiligen Kuhschwanz der Kruneger und jener neuen Geistesbewegung, die ihre Entstehung einigen vom Krieg nach Zürich verschlagenen, ausnahmsweise beschäftigungslosen Internationalisten verdankt, wage ich um es weder mit den Krunegern, noch mit Dadaisten zu verderben, nicht zu entscheiden. Vielleicht ist eine solche Beziehung dadaistisch überhaupt nicht denkbar, denn der Dadaist behauptet ja, dass er dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenübertrete, sondern alle Schlagworte von Ethik, Kultur, Innerlichkeit und Mystik, die nur Mäntel für schwache Muskeln seien, in ihre Bestandteile zermürben und zerreißen werde. Der Dadaist will die Luft, die ihn von den Dingen trennt, die Haut, die zwischen ihm und dem berührten Gegenstand haftet, überhaupt alles Körperliche und Geistige, was sich, den Blutstrom unterbrechend und Wirklichkeit zu Abstraktionen höhlend, zwischen Subjekt und Objekt drängt, wie ein trügerisches Gewebe zerreißen. Vor allem aber – natürlich – will der Dadaismus etwas anderes sein wie der Expressionismus, der Kubismus und der Futurismus, und das einzige, was ihn mit diesen anderen Ismen zusammenhält, ist eben das Andersseinwollen und jenes von keiner lastenden Bescheidenheit beschwerte Gefühl der eigenen epochalen Wichtigkeit. Aber während den übrigen Ismen dieses Andersseinwollen zugleich die Grenze gegen die übrige Welt bedeutet, ist es dem Dadaismus seine stärkste Werbekraft. Denn, wie im Dadaistenaufruf steht: „Gegen das dadaistische Manifest sein, heißt Dadaist sein!“

Ich glaube, dass es demnach sehr viele Dadaisten gibt. Auch die Ahnungslosen, die am Kurfürstendamm, in der Sezession, Tristan Tzaras bruistisches Gedicht „Retraite,“ das unter Aschantitrommel– und Kinderratschenbegleitung die Seelen aufwirbelt, mit Hausschlüsselpfiffen, Stuhlrücken und wilden Phuirufen überhagelten – auch diese Ahnungslosen wird der Klub Dada in seine Mitgliederlisten schreiben. Ja, da die Welt in Zukunft zweifellos sich nur Pro- und Kontradadaisten teilen wird (was zugleich die einfachste Lösung der europäischen Problems wäre), taucht nun die Frage auf: welches eigentlich die richtigen Dadaisten sind. Verschwört man sich gegen den Dadaismus oder tritt man, um dem Dadaismus sicher zu entgehen, in den Klub Dada ein? Und gegen wen schwingt man die Aschantitrimmel und die Ratsche, wenn man nun wirklich Dadaist und alle Welt schon ganz verdadadätelt ist?

Heiliger Kuhschwanz…24



Wochenbeilage zur Berliner Volks-Zeitung, 28. April 1918
Neues vom Dadaismus

Nach der dadaistischen These: Jeder ist Dadaist! Haben sich jetzt auch die Insassen der Irrenanstalt Wittenau bei Berlin, früher Dalldorf, zu einer dadaistischen Vereinigung zusammengeschlossen. In der Gründungsversammlung wurde beschlossen, die Vereinigung nach dem früheren Ortsnamen „Gruppe Dada – alldorf“ zu bennen.

Meine Jüngste ist schon längst zu den Dadaisten übergegangen. Als sie neulich einen Topf mit frischer Marmelade stehen sah, stammelte sie in seliger Verzückung:

„Da – da – is – mus!“25



Berliner Lokal-Anzeiger / Der Tag, 14. April 1918
„Dadaismus“ nennt sich die jüngst Kunstrichtung, mit der die Öffentlichkeit unter großem Spektakel im dichtgefüllten Saal der Berliner Sezession bekanntmachen wurde. Der Dadaismus lehnt sämtliche neueren Kunstbewegungen ab; er will alle Lebenserscheinungen, das vielfache Durcheinander von Geräuschen, Farben, Bewegungen in starken, einfachen Worten wiedergeben. Das Wort „Dada“ soll die Internationalität der Richtung andeuten. Im Publikum war wenig Neigung für die neue Kunst zu spüren, man nahm das Ganze als eine lächerliche Angelegenheit auf. Herr Richard Huelsenbeck, der mutig den Uneingeweihten das dadaistische Prinzip auseinandersetzte, konnte sich nur mit Mühe Gehör verschaffen. Es war ein Lärmen und Lachen ohne Ende. Später wurden von dem begabten George Grotz Gedichte vorgetragen. Else Hadwiger las Verse, die den meisten unverständlich blieben; die „Beschießung“ von Marinetti begleitete Herr Huelsenbeck mit Knarr- und Trommelgeräuschen – das ging dann auch den Geduldigsten auf die Nerven. Der Widerspruch machte sich, ganz im Stil des Abends, in kräftigen Naturlauten geltend, und der letzte Vortragende konnte nicht mehr zum Wort kommen.26

B. Z. am Mittag, 13. April 1918
In dem über – und überfüllten Sezessionssaal wurde gestern von Herrn Richard Huelsenbeck der Dadaismus 1 ½ Stunden lang erläutert. Diese allerjüngste Richtung literarischer Mauldrescherei ist im militärsicheren Cabaret Voltaire in Zürich entstanden. Daraus leitet der Dadaismus sich das Recht ab, Maschinengewehrfeuer im Vortragsaal durch eine Kinderratsche zu imitieren. Er ist aber auch geistige Drückebergerei, entlehnte Theorie – Dadaismus gibt vor, Urform der künstlerischen Lebensempfindung zu sein; Dada (Kinderlallen) ist das Urwort des ersten Lebensbewusstsein – und so ganz ohne jede Produktion, dass er sich schon die veralteten Futuristischen - Gstanzeln und den Kabaret – Whitman George Groß – der ulkiger wäre, wenn er nicht an Koprolalie litte – zum Vortrag ausleihen musste.

Dadaismus ist die Überhebung des Cabaret Voltaire über das Café des Westerns, das Café Stefanie, das Café Museum, das Café du Dome. Er ist, als echter Kunstfaulenzertum, am meisten gekennzeichnet durch ein gewaltiges Maß von Neid und Gehässigkeit gegen jede andere ruhige Moderne. Er spielt Revolution gegen die unerträgliche Verzopftheit der Expressionisten, Melioristen, Aktivisten, Aeternisten, denen er die Schlagworte geklaut hat, um sich jetzt zu beschuldigen, den Kampf gegen den Bourgeois erfolgsjägerisch verraten zu haben. Veranstaltet aber selbst schon öffentliche Werbeabende. Er wäre, mit ein bisschen mehr Witz, eine ganz nette Parodie des allerneusten Kunstgeschwätzes, wenn er sich nicht selbst ernst nähme. Am besten ist er durch die Geschichte von den beiden Metzeles zu charakterisieren.

Die Brüder Metzeles waren beide Herrenschneider in einer Oststadt. Der eine, Richard, hatte sein Geschäft am Markplatz, der andere, Otto, in der Rathausstraße. Einmal kam ein Prinz, sagen wir ein Prinz Publikum, für kurze Zeit in diese Stadt. Der Prinz brauchte einen Rock und bestellte ihn aufs Geratewohl bei Otto Metzeles. Das erfuhr Richard, wurde wütend, zog sich feierlich an, ging zum Prinzen, wurde angemeldet und vorgelassen. Da machte er einen tiefen Kratzfuss und hielt folgende Rede: „Durchlaut, mein Name ist Richard Metzeles. Durchlaut haben einen Rock bei Otto Metzeles bestellt. Ich wollte nur ergebenst mitteilen – der richtige Metzeles bin ich.“ Der richtige Bourgeois – Metzeles ist also der Dadaismus. Man könnte auch ungehalten tun, weil solche Späße nicht in die Zeit passen. Aber ein Publikum, das in Scharen sein Geld selbst dorthin trägt, wo sich die Albernheit schon im Titel ankündigt, wird doch nicht hinterdrein ein Recht auf Entrüstung geltend machen wollen.27

2.5 Analyse der dadaistischen Gedichte
2.5.1 Tristan Tzara – Um ein dadaistisches Gedicht zu machen

Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren. Wählt in dieser Zeitung einen Artikel von der

Länge aus, die Ihr Eurem Gedicht zu geben beabsichtigt. Schneidet den Artikel aus.

Schneidet dann sorgfältig jedes Wort dieses Artikels aus und gebt sie in eine Tüte.

Schüttelt leicht. Nehmt dann einen Schnipsel nach dem anderen heraus. Schreibt

gewissenhaft ab in der Reihenfolge, in der sie aus der Tüte gekommen sind. Das Gedicht

wird Euch ähneln. Und damit seid Ihr ein unendlich origineller Schriftsteller mit einer

charmanten, wenn auch von den Leuten unverstandenen Sensibilität.28


Diesen bekannten Vorgang, den im Jahre 1920 erschienendem Manifest Um ein dadaistisches Gedicht zu machen einer der Begründer vom Dadaismus, Tristan Tzara, beschrieben hat, zeigt eines der wichtigsten Prinzipe der dadaistischen Schaffung. Außer der Dekonstruktion von Sätzen und Wörtern, Schaffung von Collagen und Montagen kommt eine wichtige Neuerung, die bei der Literaturproduktion eingesetzt wurde, und die Neuerung heißt Zufallsprinzip. Dieses Prinzip war so wichtig, weil es bei der Rezeption zahlreiche Assoziationsmöglichkeiten geöffnet hat.

Mit der Entdeckung von dem künstlerischen Schaffensprozess der dadaistischen Dichter wurde auch gezeigt, dass der Dichter sich von anderen keineswegs unterscheidet, sondern dass jeder Mensch ein Kunstwerk schaffen kann.



TRISTAN TZARA

RETRAITE
Vögel Kindheit Karren schnell Herbergen

Pyramidenschlacht

18 brumaire

Die Katz die Katz ist gerettet

Eingang

weint

Valmy

Hurra hurra rot

Thränen

Im Loch Trompeten langsam Schellen

weint

rissige Hände Bäume Ordnung

weint

er

Posten

Zum Weißen hin, zu den Vögeln

wir weinen

ihr weint

gleitet
Auf deine Narben sind Mondsprüche aufgenagelt

gegerbter Mond entspannt dein Zwerchfell überm Horizont

In klebrig schwarzer Flüssigkeit gegerbtes Auge Mond

Schwingungen Taubheit

Gewichtige Tiere fliehn in angegrenzten Kreisen

Muskeln Teer Hitze
Die Rohre biegen sich verflechten

die Eingeweide

blau
(Goergen, J.: Urlaute dadaistischer Poesie, S. 44.)

Das ist der typische Ausschnitt aus der frei-assoziativen Gedichtkunst von Tristan Tzara.




HUGO BALL

KARAWANE
jolifanto bambla o falli bambla

großiga m'pfa habla horem

egiga goramen

higo bloiko russula huju

hollaka hollala

anlogo bung

blago bung

blago bung

bosso fataka

ü üü ü

schampa wulla wussa olobo

hej tatta gorem

eschige zunbada

wulubu ssubudu uluw ssubudu

tumba ba- umf

kusagauma

ba - umf
(BALL, H. Gesammelte Gedichte. Zürich: 1963. S. 28.)
Die Laut- und Buchstabengedichte gehören zu den bekanntesten und typischsten Werken der dadaistischen Schaffung. Das Ausgangsmaterial für Lautgedichte sind Wörter, die dekonstruiert und zerstört werden, bis nur einzelne Laute übrig bleiben. Es entstehen neue oder weitgehend neue Lautverbindungen ohne konventionelle Wortbedeutung oder bestehend aus stimmlichen oder stimm-ähnlichen Geräuschen. Der Schwerpunkt der Lautgedichte ist die Akustik. Diese Weise von künstlerischer Produktion steht an den Grenzen von Dichtung, oder diese Grenzen sind schon hin zur Musik bereits weit überschritten.

Die wichtigsten Lautgedichte stammen von Hugo Ball. Bei dem Lesen können wir uns die Karawane auf der Wüste vorstellen, wie sie sich durch die Wüste bewegt, wir können Geschrei von Kamel hören und das ist der nächste Hauptpunkt von dadaistischen Werken, sie wollen den Leser die freien Assoziationen hervorrufen.

Wenn wir das Gedicht Karawane mit dem Morgensterns Gedicht das große Lalulá vergleichen, sehen wir die Ähnlichkeit in der Schaffung von beiden Dichtern.

HANS ARP

KASPAR IST TOT
kaspar ist tot

weh unser guter kaspar ist tot
wer trägt nun die brennende fahne im wolkenzopf verborgen täglich zum schwarzen schnippchen schlagen
wer dreht nun die kaffeemühle im urfass
wer lockt nun das idyllische reh aus der versteinerten tüte
wer verwirrt nun auf dem meere die schiffe mit der anrede parapluie und die winde mit dem zuruf bienenvater ozonspindel euer hochwohlgeboren
weh weh weh unser guter kaspar ist tot. heiliger bimbam kaspar ist tot.
die heufische klappern herzzerreissend vor leid in den glockenscheunen wenn man seinen vornamen ausspricht. darum seufze ich weiter seinen familiennamen kaspar kaspar kaspar.
warum hast du uns verlassen. in welche gestalt ist nun deine schöne grosse seele gewandert. bis du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heissen wirbelwind oder ein euter aus schwarzem licht oder ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden trommel des felsigen wesens.
jetzt vertrocknen unsere scheitel und sohlen und die feen liegen halbverkohlt auf dem scheiterhaufen.
jetzt donnert hinter der sonne die schwarze kegelbahn und keiner zieht mehr die kompasse und die räder der schiebkarren auf.
wer isst nun mit der phosphoreszierenden ratte am einsamen barfüssigen tisch.
wer verjagt nun den sirokkoko teufel wenn er die pferde verführen will.
wer erklärt uns die monogramme in den sternen
seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren doch das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopf.


weggis 1912
([cit. 6. 3. 2007]. Dostupné z URL:


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