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Die mit der Öffnung der Arbeitsmärkte in Europa und zusätzlich in der Folge der poli­tisch-ökonomischen Umbrüche in Mittel- und Osteuropa entstandene Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte hat der sowieso seit ihrer Krise in den achtziger Jahren in Folge des sich etablierenden Verdrängungswettbewerbs immer stärker über den Preis kon­kurrierenden Baubranche die Möglichkeit gegeben, das bis dahin fraglos zumindest dem Anspruch244 nach bestehende "Lohnkartell" zu brechen und die bisher nicht im Wettbewerb stehenden Löhne in den zwischenbetrieblichen Konkurrenzkampf zu re­integrieren (Baumann u.a. 1997b; Schnepf u.a. 1998). Unabhängig davon, in wel­chem Maße dies bisher tatsächlich geschehen ist, ist so doch über den Verlust der normativen Kraft von tariflichen Vereinbarungen, insbesondere von quantitativen Re­gelungen wie der Höhe des zu zahlenden Lohns, die Gefahr einer kosteninduzierten reduktiven Spirale gegeben. Syben (1998, 21) verwendet dafür das Argument der Rekursivität nach Ortmann (1995): "Als rekursiv bezeichnet man Prozesse, bei denen eine Operation gewissermaßen in einem zweiten Durchgang erneut auf das Resultat angewendet wird, das sie im ersten Durchgang hatte." Das bedeutet, dass eine ne­gative Vorgabe zu einer negativen Entwicklung führt, die womöglich die Überwin­dung der Vorgabe zum Ziel hat, sie tatsächlich aber bestätigt und verschärft. In Be­zug auf die Löhne als Moment des Wettbewerbs im Bausektor hieße das, dass sie ge­senkt werden würden, um die Wettbewerbsposition zu verbessern. Die Folge wäre ei­ne sich verschlechternde Qualifikationsstruktur der Belegschaften. Je schlechter aber die Qualifikation als zunächst nicht-preislichem Aspekt von Wettbewerb, desto stär­ker muss die preisliche, also Kostenseite des Wettbewerbs in den Vordergrund tre­ten. Diese niedriger qualifizierten Belegschaften müssen also Lohnreduzierungen in Kauf nehmen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen (ebd.). Damit ist die erste Schleife der reduktiven Spirale vollendet; die zweite kann beginnen. Dasselbe Argu­ment findet sich in Bezug auf staatliche Politik unter den Vorzeichen zunehmender Internationalisierung auch bei Scharpf (1997), wo es "downward spiral of competitive deregulation" heißt.
Noch zu Beginn der neunziger Jahre herrschte in der westdeutschen Bauwirtschaft ein Mangel an qualifizierten Beschäftigten, der sich durch fortbestehenden Nach­wuchsmangel zu verschärfen drohte (Clauß 1993). Dies war keine neue Situation, vielmehr drückte sich darin der fortschreitende Attraktivitätsverlust der Baubranche gegenüber anderen Wirtschaftssektoren außerhalb der witterungsabhängigen, un­steten und körperlich anstrengenden Bauarbeit und außerhalb der industriellen Fer­tigungsberufe aus, die gerade von den Schulabgängern (im Vergleich zur schon er­werbstätigen Bevölkerung mit tradierteren Biografieentwürfen) eher als attraktive Arbeitsplätze gesehen wurden. Die Baubranche war schon damals häufiger mit der Situation konfrontiert, nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen zu können (Pahl, Syben 1995, 12f). Verstärkt wurde (und wird) dieses Rekrutierungsproblem noch durch den säkularen Bildungswandel, in dessen Folge die Hauptschulen, die traditionell als Lieferanten von Bauarbeitern fungierten, gegenüber weiterführenden Schulen an Bedeutung verloren. Die Bauwirtschaft wurde so immer stärker auf eine "Restbevölkerung" (Lutz 1990) verwiesen, die sich aus den am "wenigsten entwick­lungsfähigen Jugendlichen" (Pahl, Syben 1995, 10) zusammensetzt.

Insbesondere die deutsche Vereinigung führte dann schnell zu einem auch in seiner Dimension außergewöhnlichen Sonderboom. Die Anzahl der Baubetriebe erhöhte sich in der Folge von 1989 bis 1995 um annähernd neun Prozent im Westen Deutsch­lands; in den neuen Ländern erhöhte sich die Zahl der Baubetriebe in nur vier Jahren von 1991 bis 1995 auf mehr als das Doppelte (+126,6 vH). Erst 1996 drückte sich das Ende der vereinigungsbedingten Sonderkonjunktur in einem Rückgang der Zahl der Baubetriebe um mehr als 11 Prozent bundesweit aus. Wenigstens bis 1998 stieg die Zahl der Baubetriebe allerdings wieder kontinuierlich an.


Mit diesem Sonderboom ging ein besonders hoher Bedarf an Arbeitskräften einher, der mit dem Angebot auf dem einheimischen Arbeitsmarkt kurzfristig nicht gedeckt werden konnte. Wäre es früher, das heißt vor dem historisch erreichten Stand der westeuropäischen Integration und vor der Öffnung der Grenzen zu Mittel- und Osteu­ropa, zu dieser Verknappung gekommen, so hätten die Unternehmen wahrscheinlich mit den üblichen Mitteln der Arbeitskräfteallokation, der forcierten Rationalisierung und der Weitergabe sich erhöhender Preise an die Nachfrager etc. reagiert. In der neuen Situation jedoch konnten die Unternehmen einerseits nur noch bedingt auf dieses tradierte Maßnahmenbündel zurückgreifen. Vor allem der gesättigte Markt mit den damit verbundenen Überkapazitäten trug dazu bei, dass nicht ohne weiteres auf gewohnte Mittel zurückgegriffen werden konnte. Insbesondere Kostensteigerungen, die über höhere Löhne als Mittel der Anwerbung von Beschäftigten entstanden wä­ren, hätten kaum an die Nachfrager weiter gegeben werden können. Aber auch die geringe Zahl hinreichend qualifizierter Bauarbeiter beschränkte diesen Rückgriff. An­dererseits bestand auch gar nicht die Notwendigkeit dazu. Denn die gesamteuropäi­sche Integration führte zu einem plötzlichen Angebot an einsetzbaren Arbeitskräften, mit dem nicht nur der akute Bedarf gedeckt werden konnte. Diese neuen Arbeitskräf­te waren darüber hinaus noch erheblich billiger als die einheimischen, für die zu die­sem Zeitpunkt tarifliche Bezahlung noch normal war (Schnepf u.a. 1998). Nicht nur Arbeitskräfte, auch Unternehmen aus den "neu erschlossenen" Gebieten Europas tra­ten damals erstmalig auf dem deutschen Markt auf – ebenfalls aufgrund der sich ver­ändernden Nachfragestruktur der einheimischen Unternehmen, die nicht nur auslän­dische Arbeitskräfte gezielt anwarben, sondern auch ausländische Anbieter. Diese neue Tendenz vollzog sich im Rahmen einer sich sowieso entwickelnden Arbeitstei­lung zwischen den Unternehmen (siehe dazu die verschiedenen Beiträge zum Kom­plex "Vom Bereitsteller zum Dienstleister")245. Die Möglichkeit, über nach Deutsch­land entsandte ausländische Arbeitnehmer Produktionskosten zu reduzieren, fiel also zusammen mit dem sowieso sich etablierenden generellen Trend der Auslagerung einzelner Produktionsschritte bzw. -abschnitte (Hunger 2000a, 36). Wichtig dabei ist die Reihenfolge der Neustrukturierungsmaßnahmen: Nicht die Internationalisierung des Baumarktes oder des Bauarbeitsmarktes hat zu der Neuformierung der Produk­tion geführt, sondern die Bestrebungen der Bauunternehmen, die Produktion in ei­nem schärfer werdenden Wettbewerb effektiver zu gestalten, führten zur Etablierung einer neuen internationalen Arbeitsteilung, die allerdings unterstützt wurde durch die Politik der damaligen Bundesregierung. Da in den anderen Ländern Westeuropas frü­her als in Deutschland die Baukrise einsetzte und früher nationale Entsendegesetze eingeführt wurden, wurde Deutschland zum wichtigsten Zielland internationaler Wan­derungsströme. Diese Verbindung verschiedener Aspekte führte Anfang der neunzi­ger Jahre zur radikalen Umstrukturierung des deutschen Baumarktes.
Dass die deutschen Bauunternehmen trotz der juristisch längst bestehenden Möglich­keit vor der politischen Zeitenwende nicht auf Arbeitskräfte aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zurückgriffen (vgl. Sandbrink 1998), lag in erster Li­nie an der nicht bestehenden Notwendigkeit und noch davor an den in traditionellen Mustern verharrenden Arbeitskräfteeinsatzstrategien. Überhaupt war nicht nur die deutsche, sondern die westeuropäische Bauwirtschaft insgesamt bis in die achtziger Jahre hinein wenig betroffen von den in anderen Wirtschaftszweigen zunehmenden Europäisierungstendenzen. Erst mit dem Vereinigungsboom und den neuen Möglich­keiten nach dem Ende der Blockkonfrontation änderte sich das. In den neunziger Jahren ist aus der "integrationsresistenten" Bauwirtschaft die Branche mit den meis­ten grenzüberschreitenden Beteiligungen geworden. Fast ein Zehntel aller registrier­ten Zusammenschlüsse entfielen 1995 auf die Bauwirtschaft (Schnepf u.a. 1998, 10). Parallel dazu (bzw. unterhalb der in den Konzentrationsstatistiken erfassten grenz­überschreitenden Beteiligungen und Übernahmen) gewann die Beschäftigung von Arbeitnehmern aus den mittel- und osteuropäischen Staaten und schließlich aus dem EU-Ausland massiv an Bedeutung.
Jedoch kehrten die Unternehmen nach dem Ende des Sonderbooms nicht zu den frü­heren Formen des Arbeitskräfteeinsatzes zurück. Vielmehr lässt sich die Anfang der neunziger Jahre eingetretene strategische Neuausrichtung als Initiierung für die seit­dem bekannte bewusste Einbeziehung von Anbietern aus dem europäischen Ausland verstehen. Das Verhalten der Unternehmen hat sich also aufgrund der sich Anfang der neunziger Jahre ergebenen Situation dauerhaft verändert. Zunächst lässt sich dies an der Ersetzung inländischer durch ausländische Arbeitskräfte erkennen. Damit geht jedoch eine weitere Verschiebung in der Wettbewerbsposition der Betriebe ein­her, so dass sich diese Arbeitskräfteeinsatzstrategie keineswegs auf sich selbst be­schränkt, sondern zu vielfältigen weiteren strukturellen Änderungen führt. "Für die an sich überwiegend auf den inländischen Markt ausgerichtete Bauwirtschaft hat trotzdem die zunehmende europäische Arbeitsteilung bereits zu einer nachhaltigen Veränderung der Angebotsbedingungen geführt. So hat der Wettbewerb mit auslän­dischen Subunternehmen generell und insbesondere mit Bauunternehmen, die aus­schließlich so genannte Billigarbeitskräfte beschäftigen, bereits so stark zugenom­men, dass immer mehr inländische Baukapazitäten vom Markt verschwunden sind. Schätzungen zufolge liegt der Anteil dieser Niedriglohnbeschäftigten an der Gesamt­zahl der gewerblichen Arbeitnehmer im Bauhauptgewerbe inzwischen bei knapp ei­nem Fünftel. Dieser strukturelle Anpassungsprozeß in der Bauwirtschaft in einem zu­sammenwachsenden Europa ist noch keineswegs abgeschlossen und dürfte sich auch in konjunkturell wieder besseren Zeiten fortsetzen" (Zentralverband ... b 1998, 39).
Weiterhin geht mit dieser veränderten Arbeitskräfteeinsatzstrategie auch ein sich ver­änderndes Verständnis des bis dahin weitgehend außerhalb der Diskussion stehen­den und seit den fünfziger und sechziger Jahren praktizierten korporatistisch gepräg­ten betriebsübergreifend und branchenweit angewendeten Regulierungsmusters ein­her. Zu diesem für die Bauwirtschaft typischen Regulierungsmuster zählen in erster Linie die Sozialkassen mit allen damit verbundenen weiteren Regelungen und Anwen­dungen. Die Sozialkassen als Ausdruck einer betriebsübergreifenden, branchenweiten Regulierung des Bauarbeitsmarktes und das damit eng verknüpfte System der Flä­chentarifverträge brauchten erstens starke Tarifparteien, die über ihre Normset­zungsmacht die Vereinbarungen durchsetzen konnten, und zweitens die Bereitschaft der Betriebe, sich einer gemeinsamen Branchenlogik unterzuordnen. Dies war ge­währleistet, solange tatsächlich Lohn- und Arbeitsfragen außerhalb des Wettbewerbs standen und Trittbrettfahren wenn schon nicht immer verhindert werden konnte, doch keine Chancen auf eine dauerhafte Etablierung am Markt in Aussicht stellte. Je­doch hat sich dies über die auseinander laufenden Interessen der Betriebe und der zunehmenden Möglichkeit, über Außenseiterkonkurrenz Nachteile zu erleiden, inzwi­schen sehr geändert. Weder die Sozialkassen, noch das System der "kollektiven Ra­tionalität" (Streeck 1983) noch die Verhandlungsmacht der Tarifparteien genießen Bestandsschutz. Zwar kann ein enormes Beharrungsvermögen nicht übersehen wer­den, doch bedeutet dies längst keine Überlebensgarantie: In der von Unternehmen zu einem guten Teil selbst geschaffenen neuen Situation wird es betriebswirtschaft­lich zunehmend rational, sich nicht mehr in ein gemeinsames Brancheninteresse ein­zuordnen, sondern dieses gerade zu ignorieren und entschieden betriebspartikulare Strategien zu verfolgen (Bosch, Zühlke-Robinet 2000, 118ff). Der Austritt einzelner Landesverbände der Arbeitgeber aus dem gemeinsamen Bundesverband (der als Verbandsverband aufgebaut ist) ist dafür beredtes Beispiel. Die erstmalige Kündi­gung von Tarifverträgen im Osten Deutschlands 1996 durch den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (und dann auch des Zentralverbands des Deutschen Bauge­werbes) mit der Begründung der desolaten Wirtschaftslage in den neuen Ländern be­legt die verschobenen Blickweisen246. Die Bundesvereinigung Mittelständischer Bau­unternehmen schließlich forderte bereits die ersatzlose Abschaffung der Sozialkassen des Baugewerbes (Hunger 2000a, 74). "Durch die veränderte Wettbewerbssituation wurde ihre Legitimation (also die der Sozialkassen; S.H.) ... immer mehr infrage ge­stellt. Zum einen empfanden viele Unternehmen das System angesichts der verän­derten Rahmenbedingungen zunehmend als zu teuer, zum anderen wurde ihm durch die systematische Beschäftigung von aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmern, die nicht zur Abgabe von Sozialbeiträgen in Deutschland verpflichtet waren, sukzes­sive die finanzielle Grundlage entzogen" (ebd.).
Es darf jedoch sehr daran gezweifelt werden, ob diese sich selbst isolierende Strate­gie dauerhaft erfolgreich sein wird. Immerhin gibt es ja noch den als Strukturwandel bezeichneten Wechsel "vom Bereitstellungsgewerbe zum Dienstleister", der die über­betriebliche Koordination und auch Kooperation zentral und geradezu systematisch braucht. Es kann also eine Umstrukturierung der Baubranche konstatiert werden, die einerseits Betriebe zusammenführt, andererseits aber Betriebe atomisiert. Die neue Rationalität übersteigt den einzelbetrieblichen Rahmen, indem über die verlängerte Wertschöpfungskette ganz unbestreitbar der Zwang wächst, in größeren Maßstäben zu denken und zu handeln, als es der einzelne Betrieb ermöglicht. Gleichzeitig aber wirft genau dieselbe neue Rationalität jeden und insbesondere die vielen kleinen und kleinsten Betriebe der Branche über den sich verschärfenden Wettbewerb und die prekärer gewordene Notwendigkeit, rentabel zu produzieren, aber auch über die teil­weise zerstörerischen Abhängigkeiten auf sich selbst zurück.
Ein weiteres Ergebnis dieser neuen Strategien ist die sich entwickelnde Prekarisie­rung der kleinen Betriebe. Zwar kann gesagt werden, dass die vielen Klein- und Kleinstbetriebe, die das Baugewerbe ja im Wesentlichen ausmachen, schon immer am unteren Ende der Entscheidungshierarchie standen (immerhin ist diese nicht oder kaum vorhandene Entscheidungskompetenz das zentrale Merkmal des Bereitstel­lungsgewerbes, als das die Baubranche noch immer verstanden wird). Doch hat sich diese Position über die Neuformierung der Branche noch verstärkt. Das stärkste für diese Behauptung ins Feld zu führende Indiz ist die besondere Krisenbetroffenheit der Kleinbetriebe. Je kleiner ein Betrieb, desto größer ist die Gefahr, in Konkurs zu gehen oder sonstwie vom Markt zu verschwinden (Hochstadt u.a. 1999, 120). Damit einher geht auch die Umsatzkonzentration auf die wenigen großen Betriebe und Un­ternehmen der Branche bei gleichzeitiger Beschäftigungskonzentration auf die klei­nen Betriebe (Schütt 1996, 12; Rußig u.a. 1996).
Über die sich Anfang der neunziger Jahre ergebene besondere Situation des Arbeits­kräftemangels auf der einen und des plötzlichen zusätzlichen Arbeitskräfteangebots auf der anderen Seite hat sich die Arbeitskräfteeinsatzstrategie der Bauunternehmen also dauerhaft verändert. Im Zuge dieser Veränderung treten inländische in direkte Konkurrenz mit ausländischen Arbeitskräften. Über diese Konkurrenz geraten ehe­dem konsensuelle Regulierungsmodi in die Kritik, weil sich die Betriebe entlang ihrer Position im Wettbewerb und ihrer Fähigkeit, sich in der neuen Situation zurechtzu­finden, auseinander entwickeln.

7.3 De-Regulierung oder Re-Regulierung


Tatsächlich lässt sich in der deutschen Bauwirtschaft derzeit eine widersprüchliche Entwicklung feststellen: Einerseits kann behauptet werden, dass staatlicherseits eher eine Regulierung oder sogar Re-Regulierung stattfindet (modifizierte Wiedereinfüh­rung des Schlechtwettergeldes, Inkrafttretung der EU-Entsenderichtlinie, Fortführung des Entsendegesetzes, Verschärfung der Kontrollen, Re-Etablierung des Kündigungs­schutzgesetzes, Einführung einer erweiterten Generalunternehmer- bzw. Kettenhaf­tung, Neuordnung der Berufsausbildung), andererseits ist in der Baupraxis eher eine Deregulierung im Gange, die sich festmachen lässt an der noch immer andauernden Verbands- und Tarifflucht vieler Unternehmen und der zunehmenden Verbetriebli­chung der tariflichen Strukturen mit wachsendem Entscheidungsspielraum für die be­trieblichen Akteure. Die Schwächung der zentralen Interessenvertretungsebene, die so zumindest ermöglicht wird, führt gemeinsam mit dem wachsenden Druck, der, verursacht durch einen enormen Preiswettbewerb, auf die betrieblichen Interessen­vertreter ausgeübt wird, zu der Gefahr der Absenkung eines erreichten Niveaus der sozialen Sicherheit (Schütt 2000 – siehe auch: Deppe, Wendl 1999, 155). Forciert wird diese Entwicklung durch die sich etablierende Branchenstruktur mit einer ausge­prägten vertikalen Integration. Allgemein wird die aktuelle Situation als durch die po­litischen Umbrüche im Europa der achtziger und neunziger Jahre und der anhalten­den konjunkturellen und strukturellen Krise der deutschen Bauwirtschaft verursacht gesehen. Auch die Beobachtung, dass die Zahlen der temporär auf dem deutschen Bauarbeitsmarkt beschäftigten EU- oder MOE-Arbeitnehmer seit einiger Zeit zumin­dest nicht mehr steigen, vielleicht sogar zurückgehen (vgl. Bosch, Zühlke-Robinet 2000 und Zühlke-Robinet 1998), ändert daran nichts. Dies deutet nochmals darauf hin, dass mit den Veränderungen im ersten Jahrfünft der neunziger Jahre ein Prozess initialisiert wurde, der sich inzwischen selbst trägt, d.h. der Preis- und Verdrängungs­wettbewerb ist noch immer enorm und die Bereitschaft der Bauunternehmen, sich aus dem traditionellen Konsens der Branche zu verabschieden, nimmt eher zu als ab (Schütt 1998)247.
Damit wächst der von den Unternehmen selbst ausgeübte Druck zur Auflösung von angeblich den Markt und den Wettbewerb behindernden Regelungen. Dazu gehört nicht nur der Widerstand der Arbeitgeber und ihrer Verbände gegen die Wiederein­führung des Schlechtwettergeldes, sondern auch das beständige Kratzen an der Handwerksordnung und dem Berufsbildungssystem (Zühlke-Robinet 1999a). Selbst die Sozialkassen sind nicht mehr davor gefeit, auf ihre Existenznotwendigkeit hin be­fragt zu werden (Hunger 2000a; Schütt 2000). So ist ständig die Möglichkeit gege­ben, dass auch die Ruhe an der staatlichen Deregulierungsfront zu Ende geht.
Entgegen der Aussagen in neoliberalen Lehrbüchern trägt die Reduzierung der Rege­lungsdichte, häufig im Verbund mit einer stärkeren Lohndifferenzierung (vor allem zu Lasten der unteren Einkommensschichten), keineswegs zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze bei, schon gar nicht sozusagen naturwüchsig. Auch ist damit nicht die Entdiskriminierung niedrig Qualifizierter zu erreichen. Das Gegenteil trifft zu, wie Bosch (1999a) am Beispiel der US-Bauwirtschaft zeigt. Bei zurückgehenden Einkom­men wächst weder die Bereitschaft der Unternehmen, in die davon betroffenen Be­schäftigtengruppen (also die niedrig Qualifizierten) zu investieren, noch nimmt die Produktivität dieser Beschäftigten zu (ebd.; siehe auch Bosch 1998 und 1999b). Em­pirische Beobachtungen legen den Schluss nahe, die Umsetzung neoliberaler Deregu­lierungsstrategien führe in mittlerer Frist zu einer Unterversorgung der Bauunterneh­men mit qualifizierten Beschäftigten, die im Zeitverlauf sogar an Schärfe gewinnt. In den USA z.B. wurden in einigen Staaten die früher verbindlichen Mindestlöhne abge­schafft, die Gewerkschaftsbindung der Betriebe aufgebrochen und die für die Ausbil­dung praktizierte Umlagefinanzierung beendet. In der Folge kam es mit einer Verzö­gerung von einiger Zeit zu einem Abbau von Ausbildungsplätzen. Dieser Abbau war um so stärker, je mehr Deregulierungsmaßnahmen parallel durchgeführt wurden. Da es sich dabei um einen sich verallgemeinernden Trend handelte, wurden alsbald Kla­gen über einen eklatanten Fachkräftemangel geführt (Bosch 1999a). Die Betriebe waren in die "Qualifikationsfalle" getappt: Je mehr sie sich aus der Ausbildung zu­rückzogen, desto größer wurden ihre Probleme, qualifizierte Fachkräfte zu finden.
Die Absenkung der tariflichen Regelung auf die betriebliche Ebene mit dem vorrangi­gen Ziel, Arbeitskosten zu senken, führt zu einer sich selbst bestärkenden Dynamik, die über die Fokussierung auf den Preiswettbewerb die Erosion des Flächentarifver­trages vorantreibt (Deppe, Wendl 1999). Gerade das Beispiel der US-Bauwirtschaft zeigt darüber hinaus, wie einfach es ist, einen irrationalen Prozess zu beginnen. Die Betriebe haben über betriebswirtschaftlich zunächst rationales Handeln einen volks­wirtschaftlich und als Konsequenz eben doch auch betriebswirtschaftlich irrationalen Wettlauf mit kontraproduktivem Ergebnis initiiert. Dieser Befund bestätigt das Kon­zept der reduktiven Spirale oder Rekursivität. Dieser Prozess ist aufzuhalten, wenn er rechtzeitig erkannt wird. Jedoch handelt es sich beim amerikanischen Markt weitge­hend um einen geschlossenen Raum, der sich aus Binnenangebot und Binnennach­frage speist. Beim deutschen Baumarkt sieht die Sache inzwischen anders aus. Die offenen Grenzen könnten dazu führen, sich sehr lange über die tatsächliche Situation hinwegzutäuschen und so eine Qualifikationsfalle hervorzurufen, aus der nicht mehr ohne weiteres ausgebrochen werden kann. Mit der Erosion allgemeiner Standards wie dem Flächentarifvertragssystem wird der Erosion der qualifikatorischen Grundla­gen Vorschub geleistet, wie sie durch die überbetrieblichen Regulierungen im Bauge­werbe geschaffen wurden (Schütt 2000).

7.4 Der Bau als anormale Branche


Trotz zuletzt zurückgehender Bedeutung spielt die Fluktuation in der Baubranche noch immer eine bei weitem größere Rolle als im Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes und auch als im Gesamtdurchschnitt über alle Branchen hinweg. Häufig wird sie als wichtiges Indiz für die Besonderheit des Bausektors interpretiert (siehe dazu z.B.: Voswinkel 1999 und Bosch, Zühlke-Robinet 2000). Zwar gibt es wider­sprüchliche Angaben über die Dimension der Fluktuationsquote im Baugewerbe248, doch gibt es in der Bewertung der Daten kaum Differenzen249. Tatsächlich werden im Baugewerbe vor allem aufgrund der Witterungsabhängigkeit sehr viel mehr Beschäf­tigungsverhältnisse saisonal begründet und beendet als dies in der stationären In­dustrie der Fall ist. Doch sind die Beschäftigungsverhältnisse oft erstaunlich stabil (Hochstadt, Janssen 1998; Hochstadt 2000b). Häufig sind Bauarbeiter etliche Jahre und sogar Jahrzehnte im selben Unternehmen beschäftigt. Und doch fallen sie unter die eben referierte und allgemein übliche "Fluktuationsdefinition", weil sie in ihrem Berufsleben häufig mit saisonal begründeter Arbeitslosigkeit konfrontiert sind. Inso­fern sind solche Fluktuationskonzepte sehr oberflächlich, doch sind sie allemal geeig­net, einen ersten Eindruck von den allgemeinen Beschäftigungsbedingungen zu ver­mitteln250. Unabhängig davon gibt es keine Indizien für eine sich (auf dieser Ebene der Betrachtung) erhöhende Fluktuation, eher schon für eine uneinheitliche Entwick­lung, die vor allem abhängt von der Witterung und natürlich der Konjunkturlage251. Dennoch kann sicher davon ausgegangen werden, dass die Fluktuation am Bau hö­her ist als anderswo. Dies kann neben der dargestellten produktionsseitigen Begrün­dung vor allem auch als Hinweis auf die prinzipielle Unattraktivität der Arbeit am Bau verstanden werden. Daraus folgt eine besondere Anfälligkeit für sich verschiebende berufsbiografische Zielsetzungen, wie sie sich beispielsweise in der Wegorientierung von handwerklichen Berufen allgemein ausdrücken. Besonders die Baubranche ist davon betroffen, woraus wiederum eine besondere Attraktivität für solche Bevölke­rungsgruppen ableitbar ist, die ansonsten kaum Chancen haben, eine Arbeit zu fin­den252. Dazu zählen Menschen mit niedrigen formalen Schulabschlüssen und Immi­granten.

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