Revolution für die Freiheit



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Exodus


Unsere Absicht, an der Cite Universitaire einen Zug der Metrolinie St. Remy zu nehmen, erwies sich als gut. Es stand ein Zug da. Mit unseren Rucksäcken zwängten wir uns in den mit verängstigten Menschen vollgestopften Zug. Doch er fuhr nicht weg. Die Bahnangestellten berichteten, der Strom sei unterbrochen, wahrscheinlich sei Paris schon besetzt. Während viele Leute die Geduld verloren, den Zug wieder verließen und ihre Flucht zu Fuß fortsetzen wollten, warteten wir. Nach einer guten Stunde setzte sich der Zug doch in Bewegung und fuhr ab. Mit einem etwa gleichaltrigen französischen Ehepaar, das mit uns im Abteil stand, machten wir Bekanntschaft. Da auch sie Richtung Bordeaux wollten, beschlossen wir, die Reise gemeinsam zu unternehmen. Der Mann hatte es irgendwie fertig gebracht, sein Fahrrad in den Wagen zu pressen von dem er sich nicht trennen wollte.

Als wir an der Endstation St. Remy ankamen, empfing uns die Dunkelheit. Sofort gerieten wir in einen wilden Strudel von Menschen, Fuhrwerken, Autos und Lastwagen, leichte Tanks, schleppten sich langsam in der Menge dahin. Soldaten, Offiziere, Franzosen, Belgier, einige Engländer drängten sich im Meer der Zivilisten. Zum erstenmal erhielten wir den Eindruck eines nicht mehr zu stoppenden Zusammenbruchs. Hinter uns stand über Paris ein roter Flammenschein, die Benzinlager brannten. Wir marschierten im Menschenstrom mit bis nach Limour, wo wir am Straßenrand etwas Schlaf suchten. In der Ferne donnerten Kanonen. Im Morgengrauen schlossen wir uns wieder der unendlichen Schlange an, die sich langsam im Staub, Lärm und Geschrei, dem Geheul der Autohupen dahinwälzte. Die aufgehende Sonne beschien eine babylonische Völkerwanderung. Neben alten, runzligen Mütterchen, die ihre Katze auf dem Arm mitschleppten, schoben Mann und Frau den Kinderwagen mit den Kleinen, die mit erstaunten Augen zwischen Säcken, Töpfen und Kisten herausblickten. Frauen quälten sich mit Vogelkäfigen ab, hatten auf dem Rücken Kochtöpfe und Wäscheballen festgebunden, die Männer schleppten schwere Koffer. Alles, was Räder besaß, rollte. Die mit Möbeln, Koffern, Matratzen und anderem Hausgerät überladenen Autos kamen in der kompakten Masse der Fußgänger und Karrenschieber nur langsam vorwärts; viele erlitten bald eine Panne, weil sie zu schwer beladen waren oder das Benzin ausging. Je weiter wir uns von Paris entfernten, desto mehr alte und vornehme Personenwagen standen verlassen am Straßenrand oder waren in den Ackerboden geschoben worden. Die Bagage lag wild zerstreut um die Wagen herum: offene Koffer mit Bettwäsche, dicke Pelzmäntel, Damenschuhe, Matratzen,, Kochgeschirr. In der brütenden Hitze hatten sich die durstigen, hungrigen übermüdeten Menschen aller unnützen Habseligkeiten entledigt. Langsam fuhren Pariser Autobusse dahin, vollbeladen mit den Familien der Wagenlenker. Schwarze Leichenwagen, teils mit Pferdegespann, teils mit Motor zogen gemächlich dahin, ihre lebende Fracht in Sicherheit bringend. Breite Müllabfuhrwagen, mit Matratzen und Decken ausgepolstert und bis zu letzten Plätzchen besetzt, rollten neben Feuerwehrwagen dahin, auf deren ausgezogener Leiter sich junge Burschen festhielten. Am Nachmittag kamen die ersten Flieger. Sie schossen erbarmungslos in das Menschengewühl. Wir warfen uns in den wenig Schutz bietenden Straßengraben, getreten und gepufft von schreienden und zitternden Menschen. Es gab Tote und Verletzte, die auf eine wie ein Wunder aufgetauchte Militärambulanz aufgeladen wurden. In der Menge entstand eine hitzige Diskussion, ob es deutsche oder italienische Flugzeuge waren, einige Hitzköpfe balgten sich ernsthaft um das akademische Problem. Essen, vor allem aber Trinken wurde schon am zweiten Tag für die Masse der Flüchtlinge zum vitalen Problem. Die Dörfer und kleinen Städte, die der Flüchtlingsstrom durchzog, lagen wie ausgestorben da, Türen und Fenster sorgfältig abgeriegelt. Ob dahinter Bewohner der seltsamen und bedrohlichen Völkerwanderung zusahen? Oder waren auch diese Häuser leer, die Menschen schon auf der großen Wanderung? Die Plünderungen begannen rasch. In jedem Ort, auf Bauernhöfen, brachen Flüchtlinge Türen und Fenster auf, durchsuchten die Räume nach Trink- und Esswaren; es gab dabei Zusammenstöße mit Bauern, die ihr Eigentum verteidigten.

Unsere neuen französischen Bekannten hielten sich eng an uns. Der Mann schob sein unnützes Fahrrad mühevoll neben sich her und mußte dafür oft Flüche und Pfiffe von Weggefährten einstecken, die er mit seinem Rad behinderte. Gegen Abend - wenige Kilometer hinter Etampes - fuhr für einige Minuten ein Öltankwagen (leer) neben uns her. Unsere französischen Bekannte entdeckte im Chauffeur einen Verwandten. Sie verhandelte mit ihm, um auf der Seitenrampe des Tankers noch einen Platz zu kriegen. Der Chauffeur war einverstanden, aber allein wollte die Frau nicht fahren. Sie überredete Clara, mit ihr zusammen den Wagen zu besteigen, die Männer könnten besser zu Fuß gehen. Obschon wir wenig Lust hatten, uns zu trennen, einigten wir uns: die Frauen sollten mitfahren und am Bahnhof in Orleans auf uns warten. Diese Stadt an der Loire mußten wir auf jeden Fall passieren. Ich übergab Clara den schweren Rucksack mit der Schreibmaschine und nahm den ihren dafür in Empfang. Noch lange fuhr der Wagen neben uns her, bis er eine Lücke im Menschenstrom fand und rascher vorwärts kam.



An diesem Tage wurden wir noch zweimal von Fliegern im Sturzflug angegriffen, deutsche Stukas, wie ich sie aus Spanien kannte. Mit anderen Flüchtlingen zusammen übernachteten wir in einem Heuschober. Im Heu freundete sich mein Reisebegleiter mit einem Landsmann an, der verzweifelt nach jemand Ausschau hielt, der seinen Wagen mit Familie chauffieren würde. Seit zwei Tagen und Nächten am Steuerrad, war der Mann am Ende seiner Kraft. Das Angebot, sein Fahrrad auf den Wagen zu binden und sich ans Steuer zu setzen, verlockte meinen Reisegefährten sichtlich. Ich überredete ihn, den Vorschlag anzunehmen, da ich die restlichen 50 km. bis Orleans auch allein schaffen würde. So band er am Morgen sein Rad auf den Wagen und fuhr mit seinem neuen Gefährten los.

Ein neuer, heißer Tag brach an. Die glühende Junisonne, der dicke Staub, den die dahin ziehenden Menschen aufwirbelten, trocknete die Kehle aus. Waren in den ersten zwei Tagen der Flucht bei der Mehrheit der Flüchtlinge noch Hemmungen vorhanden, so waren sie nun dahingeschwunden. In jedem Dorf wurde rücksichtslos jedes Haus aufgesprengt und nach etwas Trinkbaren durchsucht. Ich schloß mich einem Trupp Männer an, die in einem kühlen Weinkeller Fässer und Flaschen aufgespürt hatten und sich jetzt ausgiebig an Wein, Most und verschiedenen Likören labten. Ich erwischte eine bauchige Flasche und setzte zum Trunk an, um sofort auszuspucken: es war unverfälschter, hochprozen tiger Branntwein, der mir die Kehle verbrannte. Schon wollte ich die Flasche stehen lassen, da bot mir im Austausch ein Flüchtling ein Flasche Milch an. Ich tauschte mit Freuden. Die Flugzeuge kamen an diesem Tage häufiger. Sie flogen niedrig und schossen in die Menschen hinein. Das unheimliche Sirenengeheul der Apparate löste jedesmal eine wilde Panik aus. Vor einer solchen Beschießung rettete ich mich in ein Haus und kam gerade zurecht, um mit einem anderen Flüchtling einen Topf noch war me Milch zu genießen; die Hausbewohner mußten sich vor wenigen Minuten irgendwo verkrochen haben. Es war unmöglich, an diesem Tag mehr als 20 km. vorwärts zu kommen. Nach einer unruhigen Nacht am Straßenrand kam endlich am Nachmittag Orleans in Sicht. Vor der Stadt war zum erstenmal eine militärische Organisation zu spüren. Offiziere standen an den Wegkreuzungen, pickten sorgfältig alle Militärpersonen aus dem Flüchtlingsstrom und dirigierten sie zu einem Sammelplatz. Die Masse der Zivilisten wurde über die drei Loirebrücken geschleust. Es gab auf den Brücken eine tolle Drängerei, im Nu waren sie mit Autos, Fuhrwerken und Menschen verstopft. Im wilden Trubel, der mich vorwärts stieß und riß, bemerkte ich zu spät, daß wir um die Stadt herumgeleitet wurden. Doch ich wollte ja an den Bahnhof, mußte in die Stadt hinein, Clara erwartete mich dort. Wild kämpfte ich gegen den Strom an, erhielt Püffe und Fußtritte, niemand begriff, daß da einer zurück wollte. Mit unendlicher Mühe gelang es mir die Brücke wieder zu überqueren. An der Treppe, die an das Flußufer hinunter rührte, stand eine Wache. Der Soldat verbot mir den Eintritt in die Stadt. Meine Erklärungen und Bitten nützten nichts, die Wache hatte ihren Befehl und hielt sich daran. Mißtrauisch musterte mich der junge Soldat hinter seinen Brillengläsern, mein französisch war ihm nicht stubenrein genug. Noch während wir uns herumzankten, kamen die Flieger. Da an den Brückenköpfen des anderen Ufers M.-G.-Nester postiert waren, die als Flugabwehr in Aktion traten, richteten sich die Angriffe vorerst gegen die Brückenköpfe. Im Handumdrehen war meine Wache verschwunden. Ich raste die Treppe hinunter, preßte mich dicht hinter den ersten dicken Baum. Bomben fielen ins Wasser,warfen hohe Garben empor, ein unheimlicher Luftdruck umbrauste mich. Hinter mir stießen längs der Häuserzeilen züngelnde Flammen zischend zum Himmel Das Getöse zerriß mir beinahe das Trommelfell. Auf den zwei Brücken, die für mich sichtbar blieben, herrschte Schrecken und Entsetzen. Die Menschen zertrampelten sich gegenseitig, viele hingen am Brückengeländer, stürzten schreiend in den Fluß. Endlich kehrten die Flugzeuge um. Die dicht am Ufer liegenden Häuser brannten, dichte Rauchwolken stiegen zum Himmel. Es blieb mir keine Wahl, ich mußte durch. Durch eine enge Gasse, links und rechts knisterte es in den Gebäuden, Rauch stieg empor ohne daß Flammen zu sehen waren, verirrte ich mich in den engen, zahllosen Gassen, ohne eine Ahnung zu haben, wo sich der Bahnhof befand. Hier herrschte Totenstille, es schien, der Krieg sei nicht bis hierher gekommen. Hier brannte kein Haus mehr, kein Mensch war zu sehen, der Boden war mit Glasscherben bedeckt. Plötzlich, in einer schmalen Gasse, öffnete sich langsam eine Haustür, zwei alte Weiblein, es mochten Schwestern sein, guckten vorsichtig heraus und fragten mich ängstlich: „C'est fini, Monsieur?” Ich beruhigte sie, erkundigte mich nach dem Bahnhof. Endlich gelangte ich auf den großen Platz vor der Kathedrale, wo mir ein Schild den Weg zum Bahnhof wies. Der Bahnhof war noch heil, es gab keine Fensterscheiben mehr, Koffer, Körbe, Autos, Fahrräder standen verlassen umher. Aufgeregt und verängstigt schweiften ein Dutzend Männer und Frauen herum. Die Menschen hatten sich unterwegs verloren oder sich - wie wir - getrennt und hier Rendez-vous gegeben; sie warteten nun auf ihre Angehörigen. Von Clara keine Spur. Wo mochte sie sein? Nach einiger Zeit entdeckte ich, daß die Mauern des Bahnhofes dicht mit Namen, Inschriften und Wegzeichen beschrieben waren. Hunderte von Menschen hatten hier für ihre verlorenen Angehörigen Nachricht hinterlassen. Mit Kreide, Tinte oder Bleistift gaben sie ihre Wegrichtung an, versicherten, daß sie noch unversehrt am Leben seien.

„Achtung, Anna Mercier, habe die Richtung Vierzon eingeschlagen, warte dort auf der Post. Marcel.” Es wimmelte von derartigen Kurzmeldungen und Botschaften, oft mit einem Messer eingraviert. Einige Stunden verbrachte ich damit, die Innen- und Außenwände der Bahnhofsgebäudes abzuwandern, um vielleicht unter all den Kratzeleien eine Botschaft von Clara zu entdecken. Ich fand nichts. Von Zeit zu Zeit kamen Gendarmen auf Rädern und forderten alle Anwesenden auf, das Bahnhofareal zu verlassen. Die deutschen Truppen seien im Anzug, bald würden die Loirebrücken gesprengt werden. Es gelang ihnen jedesmal, einige Flüchtlinge zum Überqueren der Brücken zu bewegen und ihre Flucht fortzusetzen. Kaum waren die Gendarmen weg, kamen schon wieder Neuankömmlinge, die ihrerseits begannen, die beschrifteten Mauern abzulesen.

Mein Suchen nach einer Botschaft blieb ohne Resultat. Irgendetwas mußte Clara am Treff verhindert haben. Hatte es einen Sinn zu warten? Sie war doch gewiß vor mir in der Stadt eingetroffen. Da es ein Zurück nicht gab, mußte ich vorwärts über eine der Brücken. Schon längst waren mir die Zigaretten ausgegangen, als eiserne Reserve hatte ich mir einen Brotrest und ein Stück Schokolade aufbewahrt. Vielleicht gab es noch Zigaretten in den Tabakläden der Stadt? Ich erlebte eine Enttäuschung, sie waren alle leer, entweder von den Besitzern ausgeräumt oder von den Flüchtlingen geplündert. In der Hauptstraße, die zur Kathedrale führte, saßen im zerstörten Schaufenster eines Schuhladens zwei junge Burschen, die Schuhe anprobierten. Hinter der Kathedrale hervor kam im Gänsemarsch ein Trupp Senegalesen angetrabt, die letzte Nachhut der französischen Truppen. Flugzeuggebrumm zerstreute die ganze Schar in die verschiedenen Torbogen, wo auch ich Zuflucht fand. Die Schwarzen beachteten mich nicht, hinter ihnen her zog ich entmutigt zu den Brücken hinunter. Auf der mittleren Brücke sah es schaurig aus. Brennende Autos versperrten den Übergang, Tote lagen umher, Verletzte stöhnten und baten flehentlich um Hilfe. In fiebernder Hast, nur auf sich selbst bedacht drängten die Menschen ans andere Ufer. Am Brückenkopf drüben, dicht am Rande eines Bombenkraters, stand ein Militärcamion in hellen Flammen, am Steuer, verkrampft, mit verglasten Augen, klebte der Negerchauffeur. Erst auf der Landstraße, die Brücke hinter mir, löste sich der Krampf, der mich durch diesen Schrecken blindlings vorwärts getrieben hatte. Glücklicherweise befand sich in Clara's Rucksack eine Landkarte, mit der ich mich über die Richtung nach Bordeaux orientieren konnte. Das war unser ursprüngliches Ziel, Clara hatte sicher die Richtung eingehalten. Allein, verloren in der Masse Menschen, marschierte ich weiter.

Bei einbrechender Dunkelheit verzog ich mich in einen Heuhaufen auf freiem Felde. Lange blieb ich nicht allein, andere Flüchtlinge nisteten sich ein, auch in den umliegenden Heuhaufen gab es Schlafgänger. Von Schlafen war keine Rede; aus dem Walde vor uns feuerte schwere französische Artillerie, von Orleans her antworteten deutsche Geschütze. Wir lagen hübsch in der Mitte. Schon vor Tagesanbruch zogen wir ab.

Der Flüchtlingsstrom hatte sich hinter Orleans gelichtet. Wohl zogen noch Tausende müde und resigniert auf der Landstraße dahin, jetzt gruppenweise, es gab kein Gedränge und Geschiebe mehr, der große Treck hatte sich in verschiedene Richtungen zerstreut. Im Gehen verzehrte ich mein letztes Stück Brot. Am Waldrand saß eine ganze Familie ruhig und friedlich beim Frühstück. Sie luden mich ein, mitzuhalten. Ich setzte mich zu ihnen und gegenseitig erzählten wir unser Leid. Die Gesellschaft bestand aus einer Frau in den vierziger Jahren, ihrem 17jährigen lungenkranken Sohn und dessen um einige Jahre älteren Freund. Ein frischer und lustiger Bäckergeselle, etwa 25 Jahre alt, hatte sich ihnen angeschlossen. Wir setzten die Reise ins ungewisse gemeinsam fort. In Vierzon sollte es nach Gerüchten eine Feldbäckerei der Armee geben, da wollten wir natürlich wie alle anderen Brot beziehen. Vor der Stadt, in einer kleinen Kneipe am Wegrand, quartierten wir uns ein; mit dem Bäcker zusammen ging ich auf die Suche nach der Feldbäckerei in der Stadt. Rasch fanden wir die Brotausgabe und stellten uns in der langen Schlange an. Pro Kopf gab es ein großes, rundes Soldatenbrot. In der Reihe stehend sah ich plötzlich auf der einige Meter weit entfernten Landstraße Fahrzeuge mit Soldaten besetzt vorbeisausen, deren Uniform mir nicht geheuer vorkam. Keine Täuschung, deutsche Truppen, feldgrau. Sie waren also da, hatten uns eingeholt. Die Franzosen hatten ebenso schnell begriffen. „Oh, la, la c'est fini, les boches sont la”, tönte es aus der Reihe. „Dafür sind wir Esel davon gelaufen, damit sie uns hier erwischen”, bemerkte einer der Flüchtlinge.

„Na, nach diesen Ferien kehren wir wieder nach Paris zurück”, klügelte ein anderer.

Mit unseren Broten beladen, trollten wir uns in die Kneipe zurück. Sie war jetzt vollgestopft mit Flüchtlingen und deutschen Soldaten, die, ohne sich um die Zivilisten zu kümmern, ein und aus gingen. Zum erstenmal, nach langen Tagen, schlürften wir warmen Kaffee und aßen uns satt.

Sehr rasch sprach es sich herum, daß niemand mehr in der Richtung Süden weiterziehen durfte. Die großen Verkehrsstraßen mußten freigehalten werden, die Flüchtlinge bleiben, wo sie waren. Da meine Begleiter wußten, daß ich deutsch sprach, baten sie mich, bei den deutschen Soldaten alle möglichen Auskünfte einzuholen. Besonders die Frau hatte große Sorgen um ihren Jungen, dessen einer Lungenflügel aus einem Pneumorax bestand, der aufgepumpt werden mußte. Ich sprach einen deutschen Soldaten an und unterhielt mich mit ihm. Ein kräftiger, etwa 28 jähriger Mann aus München, war vollgeladen mit Führerstolz.

„Ah, Sie sind aus der Schweiz. Wir sind Gebirgsjäger, das ist genau das Gebiet für uns. Wenn wir mit den Franzosen fertig sind, dann kommen die Engländer dran”. „Wie wollen Sie denn dahin kommen, über den Kanal”? fragte ich ihn harmlos.

„Keine Bange, unsere blauen Jungens und Adolf werden es schon schaffen, unsere Stukas werden ein paar Eier über London ablegen, dann haben die die Nase voll”. Ich erzählte ihm von dem Jungen und fragte, ob nicht ein Arzt bei der Truppe wäre.

Er meinte, ja ein Stabsarzt treibe sich herum, er werde versuchen ihn aufzutreiben, ich soll hier in der Kneipe bleiben. Nach kaum einer halben Stunde kam ein Auto angeprescht, dem ein Offizier entstieg.

„Wo ist der Kranke?” fragte er barsch. Ich erklärte ihm den Fall. „Wieso sprechen Sie so gut deutsch?”

„Ich bin Schweizer”.

„Woher sind Sie denn?” „Aus Basel”.

„Ach Basel, kenne ich sehr gut, hab' da studiert, nette Stadt. Na, wo ist der Junge?”.

Der Stabsarzt, so hatte er sich vorgestellt, untersuchte flüchtig den Jungen, verlud ihn sofort in seinen Wagen und fuhr mit ihm ins Spital in Vierzon. Einige Stunden später kam der Junge zurück, mit aufgepumpter Lunge. Seine Mutter war begeistert über diese Deutschen, die so prompt reagiert hatten. „Uns hat man gesagt, das sind alles Barbaren, ausgemergelte Kannibalen, nun seht euch diese kräftigen, vollgefressenen Burschen an, nein, so was, wir wurden ja schön beschwindelt.” Ernsthaft berieten wir über unsere Lage. Einstimmig herrschte die Meinung, es käme nur ein Zurück nach Paris in Frage. Als einziger äußerte ich Bedenken, in der Hoffnung, Clara doch noch zu finden. Gutmütig suchten sie mich zu überzeugen, meine Frau sei doch schon längst in Bordeaux in Sicherheit. Es blieb mir nichts übrig als ihrem Ratschlag zu folgen, vorwärts konnte man sowieso nicht mehr, rückwärts ebenso wenig. Denn das Zurück nach Paris erwies sich als ein verdammt verzwicktes Problem. Die Bahn funktionierte bereits unter deutscher Obhut, es wurden nur wenige offene Güterwagen für den Flüchtlingstransport zur Verfügung gestellt. Teilweise waren Bahnanlagen zerstört und außer Betrieb, mußten erst repariert werden, weite Umleitungen waren notwendig. Der Rücktransport der Flüchtlinge hatte schon begonnen, doch vollzog er sich unendlich langsam, in Etappen. Unsere Gesellschaft beschloß darum, in der Nähe von Vierzon zu bleiben, wo wenigstens der Bahnhof noch im Betrieb war und abzuwarten. Der Bäckergeselle, der am ganzen Betrieb Gefallen fand, machte sich auf die Suche nach einem Bauernhof; er fand rasch eine große typisch französische „Ferme”, wo wir uns einnisten konnten. Andere Flüchtlinge hatten sich bei den Bauersleuten bereits in Sicherheit gebracht, auch wir wurden gegen wenig Entgelt noch aufgenommen und konnten in einem großen Heuschober schlafen. Bei den Bauersleuten konnten wir billig Gemüse, Eier, Butter und Käse einkaufen, oft kauften wir einen Hasen oder ein Huhn. Brot besorgten wir uns in der Stadt. Wein gab es in Mengen, der Bauer stellte zudem einen herrlichen Most her. Im großen Hof hinter dem Bauernhaus bauten wir uns eine Feuerstelle und kochten. Geld hatten wir für einige Wochen. Es waren wunderbare Sommertage, wir hatten nichts zu tun, lungerten wie im Sonnenbad herum, ließen uns von der Sonne rösten. Hunderte von Flüchtlingsgruppen hatten sich so in der Nähe der Stadt auf Bauernhöfen auf gut Glück eingerichtet, um das weitere Geschehen abzuwarten. Der Kriegslärm war verschwunden, selten überflog ein Flugzeug die Gegend, Truppen sahen wir überhaupt nicht. Obschon es keine Zeitungen gab, blieben wir durch andere Flüchtlinge dauernd auf dem laufenden, wussten was geschah oder glaubten es zu wissen; wie alle anderen saßen wir den zahllosen Gerüchten auf, die herumschwirrten. Wäre nicht die nagende Sorge um Clara gewesen, das Abenteuer hätte zum Verwechseln einem Aufenthalt in der Sommerfrische geglichen.

Mit meiner Wäsche sah es bös' aus. Meine Leibwäsche befand sich im Rucksack von Clara, mir blieb nur ein Hemd und ein paar Socken und Clara's Unterwäsche, mit der ich wirklich nichts anzufangen wußte. Vierzehn Tage blieben wir gemütlich in unserer Sommerfrische liegen, dann entschieden wir uns, die Rückreise zu wagen. Wir zogen nach Vierzon und mußten dort auf dem Bahnhofplatz mit vielen hunderten von Heimkehrern zwei Tage und Nächte biwakieren, bis die Reihe an uns kam. Die Rückfahrt dauerte einen Tag und eine Nacht, bis wir im Bahnhof Austerlitz in Paris eintrafen. Zum erstenmal seit der Flucht konnte ich eine Zeitung kaufen. Eine Schlagzeile in dem lausigen Blättchen sprang mir in die Augen: Marschall Petain hatte für Frankreich ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet.


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