Frankreichs Zusammenbruch
Am 10. Mai begann die deutsche Offensive mit dem Einfall in Belgien und Holland. Die französischen und englischen Truppen rückten in Belgien ein. Für Frankreich begann der Krieg. Sofort nach Beginn der deutschen Offensive ließ die französische Regierung alle deutschen Frauen internieren. Im Verlauf von zwei Tagen mußten sich tausende von Frauen jüdischer und politischer Emigranten im Velodrome d'Hiver stellen, von dort wurden sie in Lager abtransportiert. Es gab einen tollen Wirbel. Wir halfen vielen Bekannten packen und die Koffer zum Sammelplatz schleppen.
Antonia Stern, eine deutsch-jüdische Emigrantin, hatte ein besonderes Anliegen an uns. Wenige Wochen nach unserer Rückkehraus Spanien hatte sie uns aufgesucht. Mit dem deutschen Kommunisten Hans Beimler, der sich in die Schweiz geflüchtet hatte, lebte sie in Zürich zusammen. Beimler war 1936 nach Spanien gegangen, die Umstände seines Todes blieben ungeklärt. Antonia unternahm auf eigene Rechnung Nachforschungen in Spanien. Sie kam zur festen Überzeugung, ihr Freund sei von den eigenen Leuten umgebracht worden. Sie vertrat ihre Ansicht in einem längeren Schriftstück, das sie zu publizieren versuchte. Von uns wollte sie eine Bestätigung der Ermordung Beimler's durch den kommunistischen Parteiapparat. Da wir beim Tode Beimler's nicht mehr in Madrid weilten, konnten wir darüber nichts aussagen. Antonia, von Haus aus begütert, besuchte uns öfters. Jetzt vor der Internierung sollten wir ihre Schmucksachen zu uns nehmen. Sie übergab mir ebenfalls eine Vollmacht für ihr Banksafe und den dazu gehörigen Schlüssel. Auf meine Frage, was denn im Banksafe verschlossen sei, erwiderte sie, es handle sich um literarische Versuche, Gedichte und verschiedene Manuskripte. Wir nahmen Vollmacht, Schlüssel und Juwelen in Empfang und geleiteten sie zum Velodrome d'Hiver.
Bei ihren Versuchen, ihren Schriftsatz über Beimler's Tod unterzubringen, kam Antonia Stern in Verbindung mit Ruth Fischer und Arkadi Maslow.
Die einstigen ultra-linken Führer der kommunistischen deutschen Partei unterhielten in Paris eine kleine Gruppe ihrer Anhänger. Arkadi Maslow, eine kraftvolle Hünengestalt, russischer Herkunft, war ein hoch talentierter Mensch. Er verständigte sich fließend in 7 Sprachen, war ein begabter Mathematiker und begnadeter Pianist. In der Politik hatte er weniger Erfolg, obwohl er ein hinreissender Redner sein konnte. Sein eigentlicher Wesenszug war ein nihilistischer Zynismus, den er gar nicht zu verbergen suchte. Maslow anzuhören war immer ein Vergnügen, mit ihm zusammen zu arbeiten immer eine Gefahr. Man konnte nur ahnen, nie wissen, welche geheimen Kräfte hinter dem Mann standen. Ruth Fischer, seine politische Weggefährtin und Bettgenossin, war aus ähnlichem Holz geschnitzt. Weniger begabt, dafür raffinierter, in allen Sätteln bereit zu reiten, korruptionsfähig ohne Grenzen, besaß die rundliche, vollbusige Österreicherin viel Witz, Ironie und Wissen. Wie in allen Emigrantengruppen in Paris berichtete ich auch in der Maslowgruppe über Spanien. Daraus entstand ein loser Kontakt, der sich im gelegentlichen Besuch der Gruppenabende erschöpfte. Die Fischer-Maslow wollten in Paris eine eigene Revue herausgeben und befanden sich auf der Suche nach einem Geldgeber. Sie fanden Antonia Stern. Es war für die zwei politischen Schlauköpfe ein Kinderspiel, Antonia einzuseifen. Es genügte, ihr zu versichern, in der Revue werde ihre Arbeit über Beimler's Tod erscheinen, und schon war sie bereit, das Geld zu geben. Doch waren die beiden nie zufrieden, ihre Forderungen wurden frecher und hemmungsloser. Von der geplanten Revue erschien eine einzige Nummer, Antonias Beitrag war nicht drin. Bei einem gelegentlichen Besuch in unserer Einzimmerwohnung erzählte sie uns von dieser Geschichte, von der niemand in der Gruppe Maslow's eine Ahnung hatte. Ich brachte das an einem Gruppenabend unverblümt zur Sprache und kritisierte das Verhalten als eine unanständige Handlungsweise. Das zog mir einen hysterischen Wutanfall Ruth Fischer's zu, die mich als idiotischen Trotzkisten beschimpfte, der hier bei wirklich anständigen Emigranten nichts zu suchen habe, in seine kleine Schweiz zurückkehren solle. Maslow schwieg den ganzen Abend. Alles endete mit einem schönen Krach; unsere losen Beziehungen zur Gruppe waren damit gelöst. Die Nachrichten von der Front lauteten denkbar schlecht. Die deutschen Truppen rückten unaufhaltsam vor. Paul Reynaud wurde französischer Ministerpräsident, da man in ihm den „starken Mann” sah. Mit der holländischen und belgischen Kapitulation nahm der Kriegsverlauf dramatische Formen an. Paris spürte bereits in den ersten Junitagen den Vormarsch des Feindes. Durch die Straßen der Hauptstadt zogen lange Kolonnen von Fuhrwerken: Autos, Pferdewagen und Handkarren, hoch mit allerlei Hausrat, Kindern und Frauen beladen, Flüchtlinge aus Belgien und Nordfrankreich, die sich aus den bedrohten Gebieten retteten. Erstaunt, verwundert, bestürzt und beunruhigt sahen die Pariser diesen Flüchtlingsstrom durch die Straßen ziehen. Das Drama von Dünkirchen öffnete den Franzosen die Augen über die drohende Katastrophe, die sich zusammenballte. Langsam, wie eine schleichende Epidemie verbreitete sich die Panik. Die tollsten Gerüchte wurden herumgeboten: Amerika habe sofortige Unterstützung zugesagt, Stalin Hitler den Krieg erklärt, die Rote Armee sei schon in Ostpreußen einmarschiert. Was den Tatsachen entsprach, war die italienische Kriegserklärung. Trotz aller Versicherungen der Regierung, sie werde Paris nicht verlassen, war es ein offenes Geheimnis, daß alle wichtigen Amtsstellen die Abreise vorbereiteten. In den Höfen der Ministerien wurde Aktenmaterial verbrannt, wertvollere Dokumente auf Lastwagen verladen, die sich dem Süden zu davon machten. Wird Paris verteidigt werden? Wird sich das Wunder der Marne von 1914 wiederholen? Die Presse verlangte es, die Regierung versicherte es, niemand glaubte es. Tatsächlich verzog sich die Regierung nach Bordeaux, in der Hoffnung, den Krieg hinter der Loire fortzusetzen.
Die offene Panik brach aus. Paris wurde zur offenen Stadt erklärt Auf den Straßen und in den Gaststätten, in der Fabrik und im Büro fragten sich die Menschen: Was nun? Nicht die geringste leitende oder beratende Autorität war verblieben, um auf die zahlreichen Fragen Antwort zu geben. Dem nicht versiegenden Flüchtlingstrek aus dem Norden schlossen sich täglich mehr und mehr Bewohner aus der Pariser Umgebung an, bald wirkte das tägliche Bild auch auf die Pariser selbst ansteckend. Wie ein endloser Lindwurm wälzte sich der Zug der Flüchtlinge durch die südlichen Ausfallstraßen der Stadt und übte magnetisch Anziehungskraft auf die Zurückbleibenden und die bereits Schwankenden aus. Das Land war ohne Regierung, in voller Auflösung, sich selbst überlassen.
Vor jedem Einzelnen stand die Frage: Was tun? Sie wurde je nach Temperament und der persönlichen Situation eines Jeden beantwortet. Tausende hofften immer noch, hinter der Loire werde die französische Armee den Krieg fortsetzen, sie wollten unter französischer Obhut und nicht unter feindlicher Autorität bleiben. Viele waren überzeugt, Hitler werde sofort alle wehrfähigen Männer zum Kriegsdienst einziehen, aus den Schulkindern eine Hitlerjugend organisieren, die Frauen, na ja, was denen passieren würde, darüber gab es nur eine Meinung. Die Mehrheit besaß überhaupt keine Vorstellung, saß jedem Gerücht auf, wollte das Beispiel der Regierung nachahmen und sich vor den Eindringlingen in Sicherheit bringen. Vor den Bahnhöfen drängten sich erregte Menschenmengen, die noch die letzten Züge erwischen wollten, da bereits Gerüchte wissen wollten, deutsche Vortruppen seien schon in den Pariser Vorstädten.
Zu unserem Bekanntenkreis gehörten viele Juden, Polen,Russen, Rumänen. Sie alle fühlten sich bedroht, wollten rasch weg. Wo wir konnten, halfen wir. Bunja Sundelewitsch war in wilder Aufregung. Wir halfen ihr beim Packen, und sie bat uns, doch ihren Hund zu uns zu nehmen. Vor dem Fahrstuhl, der uns nach unten bringen sollte, mußten wir warten, eine ganze Bande russischer Sozialdemokraten, unter ihnen Dan, Abramowitsch, Nikolajewski hatten sich offenbar im Haus versammelt, um gemeinsam die Flucht anzutreten. Wir brachten Bunja an die Bahn, sie ließ uns Micky, einen kleinen, kläffenden Köter zurück. Mit diesem unerwünschten Zuwachs an der Leine durchirrten wir planlos die Stadt. Da auch vor uns die Frage stand „Was tun?”, konnten wir uns unmöglich mit dem Hund belasten. Ihn zu töten hatten wir weder den Mut noch die Mittel. In der Rue Lecourbe massierten sich gerade vor dem Kommissariat Polizisten, die schon ihre Waffen abliefern mußten. Wir wollten eine höhere Autorität über Mickys Schicksal entscheiden lassen. Auf unsere Frage lachten uns einige der Polizisten höhnisch aus: „Schmeißt ihn in die Seine, wir haben andere Sorgen, als Köter zu betreuen”. Wir zottelten mit Micky ab, ohne einen Mörder gefunden zu haben. Endlich entschlossen wir und, ihn leicht an die Gitterstäbe der Metrostation Vaurigard zu binden, und machten uns schuldbewußt aus dem Staub. Monate später erfuhren wir, daß sich Micky losgerissen, in seine frühere Wohnung zurückgefunden hatte und dort von einem Hausbewohner aufgenommen worden war. Uns fehlte jedes Vertrauen in Hitler's neues Europa. Da wir vermuteten, unser spanisches Abenteuer könnte uns Ungelegenheiten einbrocken, auch etwas Abenteuerlust spielte mit, entschlossen wir uns, Paris ebenfalls zu verlassen. Vorher besuchten wir unseren Freund Charles Wolf. Bei ihm war alles in völliger Auflösung. Wolf hatte wenige Wochen vor Kriegsausbruch seine Frau verloren, seither litt er unter starken Depressionen. Er war im Begriff nach Bordeaux zu fliehen, wo sich die Regierung niederlassen wollte. Er war überzeugt, die deutschen Truppen seien bereits in Paris einmarschiert, in einigen Quartieren hätte man Barrikaden errichtet. In diesen schweren Stunden war mit ihm einfach nichts Vernünftiges zu reden, wir verließen ihn, ohne zu ahnen, daß wir ihn nie mehr sehen würden.
Auf dem Rückweg in unsere Wohnung trafen wir mit Leo Borochowitsch zusammen. Leo war neben Brandler und Thalheimer einer der fuhrenden Köpfe der rechts-kommunistischen Opposition gewesen. Er war niedergeschlagen und suchte nach Mitteln und Wegen, Paris zu verlassen.
„Wenn es mir nicht gelingt, lebendig werden mich die Schufte nicht kriegen”, sagte er uns, auf eine kleine Büchse mit Giftpillen weisend. Stumm trennten wir uns.
Zuhause stopften wir die notwendigen Wäsche in unsere Rucksäcke, meine kleine, neue Hermesbaby wanderte auch hinein und dann zogen wir los, um Proviant einzukaufen. Da schon eine Menge Geschäfte geschlossen waren, gerieten wir auf der Suche nach einem Laden auf den Platz Maubert. Da war ein Lebensmittelgeschäft, in welchem Leute noch einkauften, alle wollten sie auf die „Reise”. Es gab kein Personal mehr, die Kasse war geschlossen. Mit den vollen Einkaufskörben standen die Leute vor der Kasse, um zu bezahlen; da niemand kam, zogen die Mutigsten einfach los, bald gefolgt von allen anderen. Zu viel wurde nicht mitgenommen, niemand wollte sich zu sehr belasten.
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