Thesenfabrikanten
Schon in den ersten Monaten des Jahres 1942 unternahmen die französischen Trotzkisten Versuche, mit uns wieder Verbindung aufzunehmen. Sie kannten unsere unversöhnliche Meinung gegenüber Stalins Blutregime, die jeden Kompromiß ausschloß. Trotzdem sandten sie Marcel Hic zu mir. Wir kannten uns gut. Hic, ein noch junger Mensch, ehemaliger Lehrer, war fanatischer Trotzkist reinster Prägung. Mit ihm hatten wir seinerzeit die heftigsten Zusammenstöße, und der Bruch mit ihrer Organisation wurde durch seine Borniertheit beschleunigt. Hic kam mit einem besonderen Anliegen. Er erzählte mir, sie seien im Begriff das internationale Sekretariat der IV. Internationale neu zu organisieren. Trotz der Differenzen bat er mich, in dieses Sekretariat einzutreten. Unumwunden erwiderte ich: “Ich gehöre einer Gruppe an, die völlig andere Auffassungen vertritt, sie hat darüber zu entscheiden, ob ich der Einladung Folge leisten kann. Zudem, wen soll ich in diesem Sekretariat vertreten”?
“Du vertrittst den deutschen Sprachbereich”, erwiderte er ernsthaft, ohne sich durch mein Lächeln beirren zu lassen. Er nannte mir Tag und Ort der “konstituierenden” Sitzung. Nach Rücksprache mit den Kameraden wurde entschieden, ich sollte zur Sitzung gehen, um zu sehen, was da gespielt werde. In einem Hinterzimmer in der rue St. Andre-des-Arts trafen wir uns. Anwesend war außer Hic nur Daniel Guerin, der sich als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte. Ich erkannte ihn sofort, und er war etwas verdattert, als ich seinen Namen nannte. “Nenn bitte meinen Namen nicht, ich bin von der französischen und deutschen Polizei gesucht”, bat er mich dringend. Guerin hatte zur P.S.O.P. gehört, war ein enger Freund von Marceau Pivert, dem Führer dieser sozialistischen Linkspartei. In den Volksfronttagen spielte er eine gewisse Rolle und wanderte langsam zur IV. Internationale hinüber. Wir drei sollten das internationale Sekretariat bilden. Hic legte uns ein Manuskript von 80 Seiten vor, das die Theorie der nationalen Frage nach allen Seiten abwandelte. Das Elaborat sollten wir stante pede lesen und annehmen, nachher wäre es als Produkt gemeinsamer Hirnarbeit veröffentlicht worden. Ich lachte Hic einfach aus, bezeichnete das Ganze als eine Verrücktheit, heute sei doch keine Zeit zu Thesen, Manifesten und Resolutionen, das sei alles dumme Spielerei. Auch Guerin, der im Prinzip keine Einwendungen erhob, weigerte sich, etwas zu unterschreiben, was er kaum überflogen habe. Damit war die “konstituierende Sitzung” zum großen Verdruß von Hic beendet. Aufgrund dieser Fühlungnahme machten sich Mitglieder einer Trotzki-Minderheit an mich heran. Sie wünschten in ihrem Fraktionskampf gegen die Mehrheit meine Unterstützung. In dieser Form lehnte ich das Begehren rundweg ab, schlug ihnen aber vor, zur Schulung ihrer jungen Mitglieder Kurse zu organisieren. Gemeinsam legten wir einen Plan fest, der eine Einführung in die Arbeiterbewegung unter besonderer Berücksichtigung der russichen und deutschen Revolution sowie des spanischen Bürgerkrieges vorsah. Am Kurs nahm ein gutes Dutzend junger Burschen und Mädchen teil. Jeden Sonntag trafen wir uns in der Umgebung von Paris, als Naturfreunde getarnt. Im Wald von Chevreuse oder weiter entfernt auf dem Plateau von Villetertre kampierten wir und diskutierten hitzig. Durch diese Tätigkeit kam ich mehr als mir lieb war in Verbindung mit der trotzkistischen Organisation. Meine Auffassung, Rußland sei eine staatskapitalistische Gesellschaft, regiert von einer korrupten Bürokraten, löste in der trotzkistischen Bude stürmische Debatten aus. Die Minderheit organisierte eine Konferenz, auf der ich meine Meinung darlegte. Nach stundenlangen Auseinandersetzungen ergab sich eine Mehrheit für meine Ideen. Nun stand diese Opposition vor der heiklen Frage, die Konsequenzen aus ihrer Handlung zu ziehen. Zum entscheidenden Bruch mit der Organisation fehlte ihr der intellektuelle Mut und die taktische Gerissenheit. Nach wenigen Wochen kapitulierte die Mehrheit der Opposition vor der Leitung, der kleinere Teil trennte sich und bildete eine eigene Gruppe. Mein Wirken bei den jungen Leuten konnte die trotzkistische Leitung nicht mehr dulden. Sie lud mich zu einer Besprechung in einem Pariser Restaurant ein. Zwei ihrer Leute, die ich nicht kannte, erschienen und erklärten mir kühl, sie könnten meine Arbeit nicht mehr gestatten. Entweder sei ich bereit, unter der strengsten Kontrolle ihrer Leitung zu arbeiten, die einen Kursplan festlege und deren Durchführung kontrolliere, oder ich hätte meine Tätigkeit einzustellen. Kurz und bündig erwiderte ich ihnen: Nie im Leben hätte ich mich Kommissarallüren gebeugt, ihre inneren Schwierigkeiten interessierten mich nicht, ich sei geholt worden, um meine Meinung zu sagen.
Wir trennten uns ohne Wärme.
Marcel Hic fand einen frühen Tod. Unsere eiserne Reserve, jener Hundertfrankenschein, den wir in den Papieren von Antonia Stern entdeckt hatten, wollten wir wechseln, da wieder einmal unsere Mittel erschöpft waren. Hic, der auf der Agentur Havas arbeitete, hatte uns versichert, er könne den Schein zu einem günstigen Kurs umwechseln. Er nahm ihn mit. Doch hörten wir wochenlang nichts mehr von Hic. Ich rief ihn telefonisch an und er versprach, die Sache schleunigst zu regeln und mir das Geld am nächsten Samstag zu bringen. Hic kam nicht. Dafür erhielten wir am Montag darauf die Nachricht, er sei verhaftet und irgendwo von der Gestapo eingelocht worden. In der Folge stellte sich heraus, daß Hic im Zusammenhang mit antimilitaristischer Arbeit unter den deutschen Truppen in Brest erwischt worden war. Hic wurde geschlagen und gefoltert und später ins Lager von Buchenwald deportiert, wo er kurz vor der Befreiung an Tuberkulose starb.
Koschka
Koschka, ein betagter russischer Jude, besuchte uns mit der Bitte, die Wohnung des bekannten deutschen Historikers Paul Frölich zu räumen. Ich kannte Frölich gut. Als einstiges Mitglied des Spartakusbundes kam er von der Bremer Arbeiterlinken her und gehörte zu den Veteranen der kommunistischen Bewegung. 1928 hatte er sich von der kommunistischen Partei Deutschlands getrennt und zusammen mit Heinrich Brandler, August Thalheimer, Jakob Walcher, Leo Borochowitsch und vielen anderen die kommunistische Opposition gegründet. Noch vor Hitler's Machtantritt spaltete sich die kommunistische Opposition, zusammen mit Walcher und dem linken Flügel der sozialdemokratischen Partei bildeten sie die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Frölich war ein ausgezeichneter Historiker, Schüler und Bewunderer von Rosa Luxemburg. Der großen Sozialistin widmete er eine Biographie, die ihre menschlichen und politischen Elemente würdigten. In seiner Pariser Exilwohnung hatte ich ihn öfter besucht und in seiner umfangreichen Sammlung über die französische Revolution herumgeschmökert. Frölich war im Begriff, eine Studie über das Problem der Demokratie in der französischen Revolution zu schreiben. Hitler's Krieg ließ die Arbeit unvollendet bleiben. Frölich wurde im Lager von Verney interniert, es gelang aber einflußreichen Freunden in Amerika, ihm einen Gefahrenpaß zu erwirken, mit dem er sich, noch vor dem Einmarsch der deutschen Truppen nach Amerika, retten konnte.
Koschka war ein kleines, ausgedörrtes Männchen von 70 Jahren. 1905 floh er aus dem zaristischen Rußland. Koschka liebte das Militär nicht, und obwohl er bei einem Dragoner-Musikerkorps diente, desertierte er. Als Tabakarbeiter verdiente er zuerst sein Brot in der Schweiz, später in Deutschland, wo er es zu einem gewissen Wohlstand brachte. Die Hitlerei vertrieb den russischen Juden nach Paris. Hier fristete er sein bescheidenes Leben schlecht und recht mit dem Verkauf von allerlei Kleinkram, den er vor allem in den Kreisen der deutschen Emigration absetzte.
Koschka hatte den Schlüssel zu Frölichs Wohnung in Verwahrung. Er wagte sich als Jude mit dem Judenstern nicht in die Wohnung, seine schwachen Kräfte hätten auch wenig Hilfe geboten. Frölich's wertvolle Bibliothek zu retten, lohnte sich. Wir verabredeten eine Besichtigung der Wohnung ohne die Hausschließerin zu informieren, da Koschka ihr nicht traute. Als wir eines Nachmittags vor der Wohnungstür standen, war sie vom deutschen Sicherheitsdienst versiegelt. Was tun? Kurz entschlossen entfernte ich das Siegel und wir traten ein. Ein Bild vanda-lischer Zerstörung bot sich unseren Augen: der Fußboden war bedeckt mit zerrissenen und zerfetzten Büchern. Die Gestapo hatte ihr Fest gefeiert, und alle Bücher in deutsche Sprache, politische und literarische Werke, deutsche Klassiker, marxistische Literatur und Bücher “entarteter” Schriftsteller vernichtet. Bei genauerer Durchsicht stellte sich heraus, daß die gesamte Sammlung über die französische Revolution beinahe intakt geblieben war. Die politischen Literaturschnüffler hatten einfach französisch geschriebene Werke stehen lassen. Diese Bücher stellten wir zusammen, verpackten sie, stopften in die zwei mitgebrachten Koffer, was wir tragen konnten: aus dem Haufen zerrissener Bücher lasen wir sorgfältig heraus, was noch brauchbar war, und legten alles für eine zweite Visite bereit. Einige Tagen später begleitete uns auch Clara, die beim Einpakken von Büchern und einigen Küchenutensilien behilflich sein konnte. Wir verstauten die Sachen auf einem Handkarren, den wir in einiger Entfernung parkiert hatten.
Beim drittenmal wäre es beinahe schiefgegangen. Mit Koschka hatte ich ein Rendezvous ohne Judenstern verabredet. Wider Erwarten kam der pünktliche Koschka nicht zur Zeit. Beim Hin- und Herschlendern vor dem Wohnblock fiel mir eine schwarze Limousine auf, die vor dem Hofeingang stand. Ich besah mir den Wagen näher und siehe da, es war ein deutscher Wagen. Im Block mußte etwas los sein; ungeduldig wartete ich auf Koschka. Endlich kam er und am Straßenrand warteten wir ab, was geschehen werde. Nach einer halben Stunde marschierten drei höhere deutsche Offiziere durch den Hof und traten in die Loge der Concierge ein. Wenige Minuten später fuhren sie weg. Diesmal gingen wir zur Concierge um uns zu erkundigen. Die verängstigte Frau weinte, befand sich noch in allen Ängsten und erzählte uns, die Offiziere seien gekommen, um Quartier zu suchen. Dabei hätten sie festgestellt, eine vom Sicherheitsdienst versiegelte Wohnung sei aufgebrochen worden. Sie sei mit Repressalien bedroht worden, falls sich das wiederhole. Nach dieser Auskunft beschlossen wir, keine weitere Visite in der Wohnung zu unternehmen: wir begnügten uns damit, aus dem Keller das Frölich gehörende Fahrrad, das wir uns bis zuletzt aufgespart hatten, zu retten.
Der alte Koschka bewohnte dicht hinter der Place du Chatelet ein kleines Zimmer bei der Witwe eines deutschen Emigranten und ihrer 17 jährigen Tochter. Sein Kleinkramhandel florierte seit dem Krieg nicht mehr, Koschka betrieb etwas Schwarzmarkthandel mit Tabak und Cigaretten, um leben zu können. Seine Vermieterin, eine deutsche Jüdin, lebte in dauernder Angst um ihre hübsche Tochter.
“Sollen sie mich holen, ich bin sowieso schwer krank, doch rettet mir meine Rachel, die sollen sie nicht haben”, bat sie uns oft. Wir boten ihr an, sie im Falle der Gefahr bei uns aufzunehmen. Als die großen Judenverhaftungen einsetzten, kam die Polizei in den frühen Morgenstunden in die Wohnung, um den Mann abzuholen, der vor zwei Jahren gestorben war. Die Mutter Rachel's lag im Bett, sie hatte vor einigen Wochen eine Krebsoperation überstanden. Koschka öffnete der Polizei. Sie beachteten ihn nicht, verlangten den Mann, Frau und Kind. Koschka hatte Rachel schnell vorher unter einem Haufen schmutziger Wäsche in der Badewanne versteckt. Der die Durchsuchung leitende Brigadier verzichtete auf die Verhaftung der Mutter, verlangte nach der Tochter. Mutter und Koschka versicherten, sie sei schon lange abgereist. Nach dem Abzug der Polizisten kam Koschka sofort mit Rachel zu uns, wo wir sie einquartierten. Koschka kam nun beinahe täglich zu uns, um Rachel über den Zustand ihrer Mutter zu informieren. Etwas später hatte sich die Frau soweit erholt, daß sie in Begleitung Koschka's mit der U-Bahn zu uns fahren konnte. Sie war überglücklich, ihre Tochter zu sehen. Wir bemerkten ihre große Schwäche und versuchten sie zu überreden, wenigstens diese Nacht bei uns zu verbringen. Sie wollte nichts davon wissen und kehrte wieder mit Koschka in ihre Wohnung zurück.
Am Morgen darauf telefonierte uns ein Verwandter der Familie, die Mutter Rachel's sei in der Nacht gestorben. Die traurige Nachricht brachte uns zuerst Erleichterung; was hätten wir mit einer Leiche in unserer mit Juden voll besetzten Wohnung getan?
Rachel war untröstlich. Sie wollte unter allen Umständen ihre tote Mutter sehen. Wir mußten es ihr kategorisch ausreden, es war zu befürchten, daß die Wohnung unter Bewachung stand. Mit Koschka ging ich später zur Beerdigung, an der nur ein paar Leute teilnahmen. Wie erwartet trieben sich auf dem Friedhof einige verdächtige Gestalten wie Aasgeier herum. Zwei Monate danach konnten wir Rachel falsche Papiere beschaffen und sie in die unbesetzte Zone abschieben, wo sie von einem Onkel übernommen wurde.
Bedrückt und resigniert trug Koschka seinen Judenstern, allein in der verlassenen Wohnung. Immer wieder hatten wir ihm nahegelegt, sich bei uns zu verbergen, immer hatte er abgelehnt mit der Begründung: “Es ist besser, ihr versteckt junge Leute, ich bin schon zu alt. Mit meinem chronischen Husten würde ich euch nur Schwierigkeiten bereiten”.
Bisher waren Juden, die das 65. Altersjahr überschritten hatten, in Ruhe gelassen, d.h. nicht deportiert worden. Außerdem gab es Ausnahmen: jüdische Schneider, Pelzmacher, selbst Schuster mußten für die Wehrmacht arbeiten, der russische Feldzug verlangte warme Mäntel und Stiefel. Sie wurden dafür nach tariflichen Bestimmungen bezahlt, doch galten die Judengesetze auch für sie. In einer vom Judenkomitee mit Bewilligung der Besatzungstruppen eingerichteten Speiseküche konnten sich täglich einige hundert Juden, meist ältere Frauen und Männer verköstigen. Dort aß auch Koschka jeden Tag. Die Küche funktionierte ohne Zwischenfall bis in den September 1943. Eines Abends rasten drei mit deutschen Soldaten besetzte Lastautos vor, alle in der Küche anwesenden Personen sowie die Angestellten wurden aufgeladen und verschleppt. Koschka war unter ihnen.
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