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Abb. 4.1 Die Ausbreitung des Y-Chromosoms und vorherrschende Makrohaplogruppen. (Mauricio Lucioni: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Migraciones_humanas_en_haplogrupos_ mitocondriales.PNG)

auf dem Gendrift der mitochondrialen DNA beruhen und der Genpool der Chromosomen unberücksichtigt bleibt. Somit können wir nicht nur auf eine, sondern vielleicht auf 1.000 oder auch 10.000Mütter zurückblicken. Dennoch sind die Befunde interessant, weil sie zumindest für einen Genausschnitt die Reduktion auf eine Vorfahrin nachgewiesen haben (für einen Überblick zur mitochondrialen Eva siehe Oppenheimer, 2004).

Es gibt auch den „Adam des Y-Chromosoms“. Wie bei der mitochondrialen DNA nur dieweiblicheAbstammungverfolgtwerdenkann, soliefertdieAnalysedesY-Chromosoms nur die männlichen Ahnen. Wichtig sind sogenannte genetische Marker, nämlich DNAAbschnitte, die als Varianten einzelne Abstammungslinien kennzeichnen und damit auch die Verbreitungswege des modernen Menschen erkennen lassen. Aus der Analyse von YDNA-Haplogruppen kann man die Ausbreitung und das Alter der jeweiligen Population auf der Erde schätzen (neuere Ergebnisse von Cruciani et al., 2011). In Abb. 4.1 sind die Ausbreitung des Y-Chromosoms und die geschätzte Zeiten des Auftretens in einzelnen Erdregionen angegeben.

Noch bedeutsamer ist die Analyse großer Nukleodit-Sequenzen in den Genen oder des gesamten Genpools an heute lebenden Menschen (Stix 2009). Wie schon dargestellt, belegen die Berechnungen eine Abnahme der Genvielfalt mit zunehmender Entfernung von Afrika, während in Afrika die größte genetischer Diversität existiert. Dies ist wohl der entscheidende Beleg für die Out-of-Africa-Theorie (s. auch Hopkin 2005). Es gibt aus heutiger Sicht daher auch keine menschlichen Rassen. Dazu ist die Genvariation zu gering.

Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist die geringe Genvielfalt im restlichen Teil der Welt äußerst bedenklich, da wir im Falle von gesundheitlichem Stress wenig widerstandsfähig sind und als Population eigentlich schon ausgestorben sein müssten. Dass dies nicht der



Abb. 4.2 Ausbreitung von Homo sapiens, Neandertaler und Homo erectus. (http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Spreading_homo_sapiens.jpg)

Fall ist und wir im Gegenteil einen gewaltigen Siegeszug der Verbreitung über die Erde angetreten haben, verdanken wir gewiss nicht unserer mageren biologischen Ausstattung, sondern spezifischen Fähigkeiten und der Kultur. Zudem zeigen die menschlichen Populationen außerhalb Afrikas Genveränderungen, die als Anpassung an die neue Umgebung gewertet werden können.

Da man inzwischen davon ausgeht, dass der Homo sapiens im Nahen Osten bereits vor 80–100.000 Jahren Fuß gefasst hat, muss die Auswanderung aus Afrika spätestens um diese Zeit eingesetzt haben, also früher als die Schätzung der Y-Chromosomen-Ausbreitung. Abbildung 4.2 stellt die Ausbreitung des Homo sapiens des Neandertalers und der früheren Hominiden (Homo erectus) gegenüber. Aus der Abbildung geht auch hervor, dass Südostasien und Australien früher besiedelt wurden als das nördliche Asien und natürlich als Amerika.

Klein et al. (1994) nutzen zum Vergleich das äußerst vielfältige Erbmaterial für bestimmte Moleküle des Immunsystems, die MHC-Proteine (Abkürzung für Major HistocompatibilityComplex). DieseProteinesindsospezifisch, dasseskaumzweiMenschenmit identischem MHC gibt (hoher Polymorphismus). Diese außerordentliche Vielfalt ist nur möglich, wenn die Gründerpopulation groß war. Die Autoren schätzen sie auf mindestens 500, wahrscheinlich aber 10.000 sich fortpflanzende Individuen.

4.2 Was ist neu am Homo sapiens?

4.2 Was ist neu am Homo sapiens?

Wie wir schon gezeigt haben, ist eine Reihe von Merkmalen des Homo sapiens auch bei anderen Homoarten vorhanden. Dazu gehören der Werkzeuggebrauch, die wachsende Zeittiefe, Planungsleistungen und Sozialverhalten. Alle diese Merkmale lassen sich beim Menschen als ein Mehr bezeichnen, ein Mehr an Werkzeugentwicklung, an wachsender Zeittiefe und damit an Planungsleistung sowie ein Mehr an sozialer Kompetenz. Über diese eher kontinuierliche Entwicklung hinaus aber dürfte es auch qualitative Unterschiede geben. Zu den neuen Merkmalen kann man die Sprache, die Theory of Mind und die Fähigkeit zu symbolisch-abstraktem Denken rechnen.



Sprache

Von der Sprache war bereits in Kap. 2 die Rede, sodass hier nur nochmals die zwei Komponenten der Nutzung von Sprache diskutiert werden sollen. Die eine Funktion besteht darin, dass man Wörtern Begriffe, d.h. Klassen von Gegenständen oder einem bestimmten abstraktes Merkmalsmuster zuordnen kann. Die zweite Funktion beinhaltet die Nutzung der Sprache als Mittel zur Kommunikation.

Forschungen haben gezeigt, dass Schimpansen sehr wohl die begriffliche Seite der Sprache verstehen. Abbildung 4.3 zeigt eine Liste von Begriffen, die Schimpansen zur Zielerreichung nutzen können. Sie verstehen und nutzen sowohl symbolisierte Substantiva wie Rucksack, Nudel oder Namen (z. B Kanzi für einen der menschlichen Partner), als auch Verben (kommen, fühlen) und Adjektiva (gut). Schimpansen haben also eine Art begrifflichen Denkens. Da sie aber nicht über Sprechwerkzeuge verfügen, hat sich bei ihnen die Sprache nicht als Kommunikationsmittel entwickeln können. Während der Neandertaler vermutlich schon das Broca’sche und Wernicke’sche Sprachzentrum besaß, sind diese beiden Zentren beim Schimpansen noch nicht ausgebildet.

Theory of Mind

Dieser nur schwer übersetzbare Fachausdruck (Theorie des Verstandes) bezieht sich auf die Erkenntnis, dass andere Personen wie wir selbst ein Wissen über Sachverhalte habe, dass sie Gefühle und Motive besitzen. Wichtig dabei aber ist die Einsicht, dass andere ein unterschiedliches Wissen über ein und denselben Sachverhalt besitzen und dass sie in der gleichen Situation andere Gefühle und Motive haben können als man selbst. In der menschlichen Entwicklung taucht die Theory of Mind mit etwa vier Jahren auf (s. Kap. 9). Bis jetzt nimmt man an, dass Tiere nicht die Theory of Mind besitzen, da alle Versuche eines Nachweises bislang fehlgeschlagen sind. Freilich wissen wir auch nicht, ob frühere Hominiden schon über die Theory of Mind verfügten. Wie auch immer, diese Fähigkeit erweitert die Möglichkeiten der Verständigung und der Kooperation in der





Abb. 4.3 Symboltafel im Great-Ape-Trust-Sprachprojekt. Schimpansen können mit Symbolen, die Begriffe repräsentieren, kommunikativ umgehen. (Henschel 2007, GEOWISSEN Nr. 40, S. 97). (mit freundlicher Genehmigung von Picture Press GmbH Hamburg)
Gruppe gewaltig. Die Weitergabe einer Information ist effektiver, wenn der Sender weiß (odereine„Theorie“darüberhat), welchenKenntnisstandderEmpfängerbesitzt. Konflikte lassen sich besser bearbeiten, wenn man den emotionalen Zustand des anderen einschätzen kann.

4.3 Kunst und Religion als Kriterien des modernen Menschen

Wenn Homo sapiens schon 200.000 Jahre existiert, erhebt sich die Frage, wann, zu welchem Zeitpunkt er geistige Fähigkeiten erworben hat, die sich nicht mehr von denen des modernen Menschen unterscheiden. Dazu kann man zwei Annahmen treffen: Die eine unterstellt, dass Homo sapiens schon von Anfang seines Bestehens die gleichen intellektuellen Voraussetzungen besaß wie wir, sie aber nicht nutzte. Er würde dann einem modernen Menschen gleichen, der aufgrund seiner Lebensgeschichte (geringe oder keine Bildung, extreme Umweltdeprivation) seine Fähigkeiten nicht nutzt und als geistig zurückgeblieben eingestuft wird. Die andere Annahme postuliert eine evolutionäre und kulturelle Entwicklung, die das intellektuelle Niveau des Menschen sukzessive verändert. Bei der Festlegung auf einen ungefähren Zeitpunkt für das Niveau des modernen Menschen verlässt sie sich nur auf Funde, die den Beweis liefern, wann Homo sapiens unser heutiges intellektuelles Niveau erreicht hat.



Kulturelle Revolution im Aurignacien?

Beginnen wir mit der Fundlage. Welche Kennzeichen gibt es dafür, ab wann Homo sapiens der Altsteinzeit sich mental nicht mehr vom modernen Menschen unterschied? Da wäre zunächst als erstes die Sprache zu nennen. Hätten wir Beweise, dass Menschen vor 40.000 Jahren ein den unsrigen Sprachen ähnliches Kommunikationswerkzeug besessen und genutzt haben, so wäre dies ein hartes Kriterium. Wir können vermuten, dass Sprache noch älter als der Homo sapiens ist und dass der Mensch auch schon vor 200.000 Jahren der Sprache mächtig war. Aber wir können nichts über die Struktur dieser etwaigen Sprachen sagen. Ein zweites Kriterium wäre die Komplexität des Werkzeugbaus. Hier finden wir in der Tat eine deutliche Verbesserung, wie wir bereits an der Lavalois-Technik zeigen konnten (s. Abb. 3.4 in Kap. 3). Vor ungefähr 35.000 Jahren tauchen bis dahin unbekannte Werkzeugtypen und Geräte aus Stein, Knochen und Geweihen auf.

Doch ist kaum nachzuweisen, dass solche Leistungen relativ plötzlich auftraten. Auch lässt sich nicht sagen, warum ein bestimmtes Komplexitätsniveau des Werkzeugbaus dem intellektuellen Niveau des modernen Menschen entspräche. Die Größe des Gehirns als Indikator für intelligente Leistungen kann ebenfalls nicht herangezogen werden, denn das Gehirn hat sich in den letzten 200.000 Jahren nicht so abrupt verändert, dass man auf einen geistigen Sprung in der Entwicklung schließen könnte. So müssen wir nach anderen

Abb. 4.4 Die schwäbische

Venus, 35.000–40.000 Jahre alt (Hohle Fels-Höhle in der Schwäbischen Alb). (http://commons.wikimedia. org/wiki/File%

3AVenusHohlefels2.jpg. By

Ramessos (Own work)

[CC-BY-SA-3.0

(http://creativecommons.org/

licenses/by-sa/3.0)], via

Wikimedia Commons)

Artefakten Ausschau halten, die ein sicherer Beleg für die „Modernität“ des frühen Homo sapiens sind. Die Forscher sehen diesen Beleg in Gegenständen, die auf Kunst und religiöses Denken hinweisen. Das Jahr 2009 war diesbezüglich ein Glücksjahr. Man fand in der Höhle Hohle Fels in der Schwäbischen Alb eine kleine Figur mit ausgeprägten weiblichen Merkmalen (s. Abb. 4.4), die als Venus bezeichnet wird und offenbar Fruchtbarkeit symbolisiert. Sie mag als Gottheit oder magischer Gegenstand gedient haben. In der Nähe hatte man schon zuvor das Mammut vom Vogelherd gefunden (Abb. 4.5). Beide Fundstücke sind 35 bis 40.000 Jahre alt. Im ehemaligen Donautal bei Geißenklösterle fanden sich erste Musikinstrumente, nämlich Reste von Knochenflöten aus Mammutknochen, die nach neuer Datierung 43.000 Jahre alt sind (Journal of Human Evolution online 2012).

Kunst, Musik und Religion sind Belege für „modernes“ Denken. Warum? Symbolisches Denken meint, dass der Mensch Vorstellungen besitzt und dass er diese symbolisch



Abb. 4.5 Mammut vom

Vogelherd: 35000 Jahre alt (Schwäbische Alb). (http://commons.wikimedia. org/wiki/File:Vogelherd_ Mammut_2006.jpg.

Attribution: Thilo Parg

[CC-BY-SA-3.0

(http://creativecommons. org/licenses/by-sa/3.0)], via

Wikimedia Commons) in Gegenständen manifestiert. Diese Gegenstände meinen etwas, dass über sie hinausweist. Sie stehen für etwas anderes: eine Idee, eine Vorstellung, eine Reflexion über die eigene Existenz. Das Vorhandensein von Musikinstrumenten belegt natürlich musikalische Praxis, eine kulturelle Praxis, die jenseits von der Beschaffung von Nahrung, Kleidung und Wohnung ästhetischen, emotionalen und wohl auch religiösen Ausdruck menschlicher

Daseinserfahrung beinhaltet. Die Funde aus der Schwäbischen Alb beweisen, dass der Mensch damals bereits symbolisches Denken besaß und anwandte.

Da nun diese Funde auf die Zeit vor 35–40.000 datiert werden können, nehmen viele Paläontologen an, dass es damals einen geistigen Big Bang gegeben habe. Andere wiederum gehen von der Hypothese einer kontinuierlichen geistig-intellektuellen Entwicklung aus. Der Kulturanthropologe Randall White gehört zur ersteren Gruppe. Er spricht von einer kulturellen Evolution im Aurignacien, das ist die Epoche zwischen 40-30.000 Jahre vor unserer Zeit. White (1994) zeigt, dass die Verzierung von Gebrauchsgegenständen, mehr noch aber die Herstellung und das Tragen von Schmuck, die These von der relativ plötzlichen kulturellen Veränderung in Europa unterstützt. Das fast explosionsartige Auftreten von Schmuck deutet seiner Meinung nach darauf hin, dass Schmuck als Körperzier auch eine gesellschaftlich-soziale Funktion gehabt haben muss. So wie wir heute Schmuck und Körperbemalung bei manchen Völkern als Ausdruck von sozialem Status beobachten, so könnte Schmuck auch damals mit gesellschaftlichen Rollen, wie Alter, Ansehen, Geschlecht verbunden gewesen sein. In jedem Falle aber symbolisiert Körperschmuck etwas, das über den anschaulichen Charakter von Kette, Anhänger, Körperfarbe hinaus symbolische Bedeutung besitzt.

Inzwischen wurde die These von der plötzlichen kulturellen Evolution oder Revolution durch neue Funde aus dem Süden Afrikas in Frage gestellt. Jacobs und Roberts (2009) behaupten, dass Menschen, die vor über 70.000 Jahren in der Blombos-Höhle an der südafrikanischen Küste lebten, schon einen Verstand wie wir besaßen. Das würden symbolische Gegenstände beweisen, die von diesen Menschen angefertigt worden waren. Sie gravierten Ritzmuster auf Ockerbarren ein, fertigten feingearbeitete Spitzen und durchbohrten winzige Schneckenhäuser, die vermutlich zu Ketten aufgezogen wurden. Diese sogenannte Stillbay-Kultur fand sich an drei Stellen in Südafrika, aber sie dauerte nur kurze Zeit. Alle Funde konzentrieren sich nach heutigen, schon recht präzisen Altersschätzungen auf nur 1000 Jahre (vor 72–71.000 Jahren).

Eine zweite frühe Kultur mit ähnlichen Hochleistungen ist die Howleson’s-PoortKultur. Von ihr existieren immerhin acht Fundorte. Die Funde datieren allesamt zwischen ca. 65.000 und 60.000 Jahren. Interessanterweise ist der Zeitraum beider Kulturen an den verschiedenen Fundstellen gleich. Die Kulturen entstanden relativ plötzlich und verschwanden nach kurzer Zeit auch wieder vollständig. Als Hauptgrund für den Untergang der Kulturen nehmen Jacobs und Roberts (2009) eine relativ geringe Populationsgröße an, weil Krankheiten oder Katastrophen kleine Populationen leicht zum Aussterben verurteilen können.



Die Höhlenmalerei, ein neuer Entwicklungsschritt?

Dennoch sind die Leistungen dieser Kulturen nicht mit den künstlerischen und symbolträchtigen Leistungen des Aurignac zu vergleichen. Bezieht man die Höhlenmalereien mit ein, so wird der kulturelle Sprung noch deutlicher. Sie stellen wesentlich größere Anforderung an die geistige Kapazität des Künstlers als Kleinplastiken. Hinzu kommen die Schwierigkeiten der Anfertigung solcher Gemälde unter extremen Bedingungen. Eine Vielfalt von Wissen über die Herstellung von Farbe und im Anbringen an den Wänden war nötig, um die Bilder fertigzustellen.

So wäre zu erwarten, dass die Höhlenmalerei deutlich später auftritt als die Fertigung von Kleinpastiken. Bis vor kurzem schien die Fundlage diese Annahme zu bestätigen. Die ältesten (einfarbigen) Höhlenmalereien stammten aus der Zeit vor 22.000 bis 24.000 Jahren (Südfrankreich: Rouffignac). Die ältesten mehrfarbigen Bilder waren 18.000 Jahre alt (aus der Höhle Les Trois Freres, Südfrankreich). In jüngerer Zeit hat sich die Situation grundlegend geändert. In der Grotte Le Chauvet in Südfrankreich fand man eine Fülle von reichhaltigen bunten Malereien, die den späteren berühmten Höhlenzeichnungen von Lascaux und Altamira in nichts nachstehen, aber wesentlich älter sind (bis 32.000 Jahre). Sie sind in dem Dokumentarfilm „Cave of Forgotten Dreams“ in phantastischer Weise festgehalten und können dort in allen Details betrachtet werden. Schließlich fanden Forscher in der eingestürzten Höhle Abri Castanet in Südfrankreich Gravuren und ockerfarbene Zeichnungen von Tieren und geometrischen Formen, die möglicherweise noch älter sind als die von Le Chauvet (PNAS Media Summaries for May 14–May 18, 2012).

Marc Azéma (2013) glaubt belegen zu können, dass die Menschen jener Zeit auch schon versucht haben, Bewegungsabläufe filmartig darzustellen. Zum einen gibt es Bilder von Tieren, die mit mehr als vier Beinen dargestellt sind, um das Springen zu veranschaulichen. Im flackernden Feuer, bei dem die Beleuchtung hin und her schwankt, kann der Eindruck des Laufens oder Springens entstehen. So ist in der Chauvet-Höhle ein Wisent mit acht Beinen abgebildet. Die Herbeiführung einer Bewegungsillusion geht aber noch weiter. Im 19. Jahrhundert kam die sogenannte Wunderscheibe auf. Die eine Seite zeigte beispielsweise einen Käfig, die andere einen Vogel. Ließ man die Scheibe rotieren, sodass in rascher Folge beide Bilder zu sehen waren, entstand der Eindruck, der Vogel sitze im Käfig. Azéma beruft sich auf die Entdeckung seines Kollegen Florent Rivière, der zeigt, dass bei bislang als „Knöpfe“ eingestuften Scheiben dieses Prinzip bereits vor 15.000 Jahren genutzt wurde. Auf der einen Seite der kleinen Scheibe ist eine stehende, auf der anderen Seite eine sitzende Gämse dargestellt. Bei Rotation ergibt sich der Eindruck, dass das Tier sich abwechselnd erhebt und hinlegt.

Niemand bezweifelt heute, dass es sich bei den Höhlenmalereien, vor allem in Le Chauvet, Lascaux und Altamira um Kunstwerke hohen Ranges handelt. Picasso äußerte im Anblick dieser Bilder, nach Altamira wirke alles dekadent.

Das Faktum, dass Höhlenmalerei und Anfertigung von Plastiken fast zur gleichen Zeit auftreten, unterstützt die Hypothese von der kulturellen Revolution oder dem Big Bang vor vierzigtausend Jahren.



Totenbestattung

Die Art der Totenbestattung lässt Rückschlüsse auf das Vorhandensein religiösen Denkens zu. Wenn Tote sorgsam bestattet werden, wenn sie darüber hinaus Schmuck am Leibe tragen und weitere Beigaben im Grab zu finden sind, und schließlich, wenn das Grab selbst sichalsDenkmaldeutlichausdemUmfeldhervorhebt, istdieAnnahmeberechtigt, dassdie Bestatter an ein Leben nach dem Tod glaubten und religiöses Denken ihr Tun bestimmte. Religiös ist hier in einem sehr weiten Sinne zu verstehen, da wir nichts über die Inhalte und Vorstellungen der damaligen Menschen wissen. Es meint zunächst nur ein Denken, das die Existenz des Menschen über den Tod hinaus annimmt. Die Zeittiefe als Dimension der Weltsicht weitet sich aus, entweder ins Unendliche oder doch beträchtlich über den biologischen Tod hinaus. Wir werden uns in Kap. 12 noch ausführlich mit Religiosität befassen. In vorliegendem Zusammenhang geht es nur um die Frage, ob und ab wann Totenbestattung auf einen Glauben an das Fortleben nach dem Tod hinweist.

Manche vermuten, dass schon der Neandertaler Totenbestattung kannte. Darauf haben wir in Kap. 2 bereits hingewiesen. Die Beweise für diese Annahme sind bislang aber noch dürftig. Beim Homo sapiens dagegen gibt es frühzeitig Funde von Totenbestattung. Es gibt Gräber mit reichgeschmückten Toten. So fand man bei Vladimir nördlich von Moskau ein etwa 25.000 Jahre altes Grab. Auf dem Körper des Toten befanden sich mehr als 30.000 Elfenbeinperlen. Grabbeigaben und Schmuck am Toten sind ein klarer Hinweis, dass man an ein Fortleben nach dem Tode glaubte. Wie dieser Glaube im Einzelnen ausgesehen hat, wissen wir nicht. Vielleicht ging es darum, das Leben nach dem Tode möglichst angenehm zu gestalten. Es ist auch möglich, dass man sich vor dem Geist des Verstorbenen fürchtete und ihn gnädig stimmen wollte. Der Vergleich mit isolierten schriftlosen Kulturen zeigt, dass auch heute noch Vorstellungen existieren, die den Ahnenkult als Zentrum des religiösen Verständnisses haben. So berichtet Hutchins (1983), dass die Trobriander (Südsee) glauben, die Toten würden sie als Geister besuchen. Die Kosi sind die jüngst Verstorbenen, die eine Woche lang nach dem Begräbnis ihr Unwesen treiben. Hutchins führt dies auf Schuldgefühle der (erwachsenen) Kinder gegenüber ihren Eltern zurück, diese würden ihre Nachkommen wegen vernachlässigter Pflichten bestrafen.

Die Rolle der Großeltern

Rachel Caspari (2012) weist darauf hin, dass Großeltern bei der kulturellen Revolution eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Sorgfältige Analysen von Knochenfunden des Homo erectus, des Neandertalers und des Homo sapiens haben ergeben, dass erst vor 30 bis 40 Tausend Jahren die Menschen älter als 30 Jahre wurden. Ältere Individuen gibt es also erst spät in der menschlichen Evolution. Da gleichzeitig mit der quasi sprunghaft auftretenden höheren Lebenserwartung ein deutlicher Schub in der Werkzeugentwicklung und der Herstellung von Kunst (Kleinplastiken, Höhlenmalerei) einher geht, vermutet Caspari, dass Großeltern dabei eine wichtige Funktion erfüllt haben. Dafür führt sie eine Reihe von Gründen an: Großeltern konnten sich an der Erziehung und Behütung der Enkelkinder beteiligen, sodass sich die Eltern anderen Aufgaben zuzuwenden vermochten. Weiterhin ergab sich aus der längeren Lebensdauer, dass Großeltern selbst noch Kinder bekamen, wodurch sich die Population deutlich erhöhte. In größeren Gruppen kann sich Kultur leichter weiter entwickeln, weil eine bessere Funktions- und Arbeitsteilung möglich wird. Nicht nur die Überlebenschancen wachsen mit der Gruppengröße, sondern auch die Sicherung und Nutzung des vorhandenen Wissens. Die Erhaltung und Weitergabe von Wissen ist durch Großeltern besser gewährleistet als in Gesellschaften mit nur zwei Generationen.

Allerdings kann man hier Ursache und Wirkung auch vertauschen. Das längere Überleben wurde erst durch den kulturellen Schub möglich, denn sonst wären die Menschen ja schon früher älter geworden. Wenn allerdings die Großeltern erst einmal als neue Altersgruppeetabliertwaren, konntensiediegenanntenFunktioneninderTatguterfüllen.

Resümee

Die derzeitige Wissenslage zur Modernität des Homo sapiens lässt keine sicheren Rückschlüsse zu. Einerseits scheint es vor 40.000 Jahren tatsächlich einen kulturellen Schub gegeben zu haben. Andererseits finden wir Gravuren und schmückende Ornamente schon viel früher. Die Möglichkeit, dass bereits Neandertaler sowohl Schmuck als auch Totenbestattung kannten, darf man nach der heutigen Fundlage nicht ausschließen. Wir können einerseits mit einem kontinuierlichen Fortschritt des symbolischen Verständnisses und


der künstlerisch-religiösen Ausdrucksformen rechnen. Andererseits ist es denkbar, dass von einem bestimmten Niveau der kognitiven Entwicklung an zusammen mit bestimmten uns unbekannten Umweltbedingungen ein sprunghafter Fortschritt einsetzte. Diese Sprunghaftigkeit lässt sich in der individuellen Entwicklung als das Erreichen einer neuen Stufe zeigen (s. Kap. 8). Es liegt nahe, die Befunde individueller Entwicklung auch auf die Entwicklung der Gruppe und damit der Kultur anzuwenden. Beim Kind zeigen sich strukturelle Veränderungen, die nach einer langen Lern- und Explorationsphase relativ plötzlich auftreten. Analog könnte man annehmen, dass die Kultur des Homo sapiens tatsächlich einen relativ plötzlichen Schritt gemacht hat.

4.4 Born to be wild. Passen wir in unsere neue Umwelt?

Der Mensch als Mängelwesen

Arnold Gehlen hat vor vielen Jahren den Menschen als Mängelwesen gekennzeichnet (Gehlen 1940). Wir können diese Bezeichnung auch auf die Evolution des Homo sapiens

übertragen.

Der Homo sapiens ist die einzige Menschenart, die bis heute überlebt hat. Dies ist gewiss nicht seiner biologischen Perfektion zu verdanken. Neben einigen bemerkenswerten Vorteilen, wie Ausdauer beim Laufen, Sprache, Denken und soziale Kompetenz, mussten wir eine Reihe von Nachteilen in Kauf nehmen. Einige dieser Nachteile haben nichts mit unserer heutigen naturfernen Lebensweise zu tun, die meisten jedoch schon. Unabänderlich sind zum Beispiel die Erschwerung der Geburt durch den aufrechten Gang und die „falsche“ Anordnung von Luft- und Speiseröhre. Der Geburtskanal hat sich durch den aufrechten Gang verengt, sodass der Kopf des Kindes größer ist als der Kanaldurchmesser. Bei unserem nächsten Verwandten, dem Schimpansen, ist der Kanal größer als der Kopf des Kindes. Die Luftröhre befindet sich bei uns vor der Speiseröhre, was bekanntlich zum Sich-Verschlucken führt und im Falle, dass eine Fischgräte in die Luftröhre gerät, sogar tödlich ausgehen kann. Manche Biologen bemerken deshalb süffisant, der Kopf des Menschen sitze verkehrt herum auf dem Körper. Damit es nicht zum Verschlucken kommt und die Nahrung tatsächlich den richtigen Weg findet, sind Schluckvorgang und Atmung genau aufeinander abgestimmt. So verschließt der Kehldeckel die Luftröhre beim Schlucken, indem er sich nach unten bewegt und die Luftröhre abdichtet. Auf diese Weise kann nichts an Speisen oder Flüssigkeiten in die Luftröhre gelangen. Obwohl dieser Mechanismus reflexartig geschieht, passiert es manchmal, dass er etwas verspätet einsetzt, z.B. wenn die Koordination zwischen Schluckvorgang und Atmung durch Sprechen oder plötzliches Lachen aus dem Takt gerät. Man „verschluckt“ sich. Dieses Sich-Verschlucken ereignet sich bei älteren Menschen häufiger, weil der Mechanismus nicht mehr perfekt funktioniert.



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