Lea Ritter-Santini: L’italiano Heinrich Mann, Bologna 1965 Übersetzt von Sabine Russ Einleitung



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175 Das ist der Vorwurf Lucács gegenüber der dekadentistischen Literatur. Zu diesem Grund vgl. C. Salinari: Miti e coscienza del decadentismo italiano, Mailand 1960, S. 95.

176 Zwischen den Rassen, S. 154.

177 Ebenda, S. 153; Vgl. ebenfalls die im Anhang veröffentlichten Bemerkungen über Rom.

178 Ebd., S. 341.

179 „Du weißt, ich glaube, daß Du Dich ins andere Extrem verloren hast, in dem Du nachgerade nichts weiter mehr, als nur Künstler bist, während ein Künstler, Gott helfe mir, mehr zu sein hat als bloß ein Künstler. Wir müssen wohl beide, als Neurastheniker vielleicht, eine fatale Neigung zum Extrem haben, was aber auch wieder unsere Stärke sein mag. Bahr, noch immer vortrefflich, hat neulich das „Talent“ ganz einfach als die Eigenschaft definiert, „extrem zu empfinden und dies noch extremer auszudrücken“.“ (Th. Mann, H. Mann: Briefwechsel, Berlin 1965, S. 30).

Daß die ganz figurative Interpretion der italienischen Atmosphäre eines der Motive der Entfremdung im „professionellen“ Urteil Thomas’ gegen seinen Bruder sei, belegt auch eine Passage aus dem Zeitalter: Wir stiegen, nach der Hitze des Sommertages, von unserem römischen Bergstädtchen - zehn Jahre darauf die Dekoration meiner Kleinen Stadt - auf die Landstraße hinab. Vor uns, um uns hatten wir den Himmel aus massivem Gold. Ich sagte: ‘Die byzantinischen Bilder sind goldgrundiert. Das ist kein Gleichnis, wie wir sehen, es ist eine optische Tatsache. Nur noch der schmale Kopf der Jungfrau und ihre viel zu schwere Krone, die aus ihrem plastischen Zeniz unbeteiligt niederblicken!’ Meinem Bruder mißfiel die Schönseligkeit. ‘Das ist der äußere Aspekt’, sagte er.“ (S. 209). In dieser „Stimmung“ des Wiedererkennens und der „Schönseligkeit“ sind viele figurative Vergleich der Göttinnen gestaltet worden. In der Überzeugung - die Struktur der Teile des Romans und die einzelnen Szenen bestätigen dies bis in die Details hinein -, daß im Wechsel von Realität, die von den großen Meistern festgehalten wurde und der in ihrem Zeichen wiedergelebten Phantasie, das Problem der Form gelöst werden könnte, die sich als Komponente der „Artistik“ verstand.



180 „Das letzte war also die Kunst. Die neue Kunst, die Artistik, die nachnietzscheanische Epoche, wo immer sie groß wurde, wurde es erkämpft aus der Antithese aus Rausch und Zucht. Auf der einen Seite immer der tiefe Nihilismus der Werte, aber über ihm die Transzendenz der schöpferischen Lust. Hierüber hat uns nichts hinausgeführt, keine politische, keine mytische, keine rassische, keine kollektive Ideologie bis heute nicht; auf den Ecce-Homo Schauern, auf den Romanen der Herzogin von Assy liegt weiter unser Blick. Die Ecce-Homo Schauer: Nihilismus ist ein Glücksgefühl, und der Mensch hat in der Erkenntnis ein schönes Mittel zum Untergang; die Kunst der Assy; als Anlage und Methode das Mysterium und das Monomane.“ (Gottfried Benn: Rede auf Heinrich Mann, zu seinem 60. Geburtstag, Gesammelte Werke, Wiesbaden 1959, S. 500).

Zur Wichtigkeit und Bedeutung des künstlerischen Mittels, das von Benn noch vor dem in Marburg 1951 gehaltenen Vortrag „Probleme der Lyrik“ und zwanzig Jahre nach seiner Laudatio an Mann definiert worden war, informiert das Buch von B. Hillebrand: Artistik und Auftrag. Zur Kunsttheorie von Benn und Nietzsche, München 1965.



181 Der neapolitanische Baron, der sich in ein englisches Mädchen verliebte, ist Opfer des bösen Blicks im Roman Jettatura. Heinrich Mann bewahrte ein Exemplar des Romans in seiner Bibliothek auf.

Auch das erotische Porträt Andrea Spinellis in Il piacere ist als Vergleich der figurativen Renaissance festgehalten worden, mit vielen Analogien der Züge des Mannschen Paris: „Der Mund […] rein in der Form, von Farbe entzündet, geschwollen von Sensualität mit einem etwas grausamen Ausdruck wenn er verschlossen blieb, dieser jugendliche Mund erinnerte aufgrund einer einzigartigen Ähnlichkeit an das Porträt eines unbekannten Gentlemans, das in der Galleria Borghese hängt, das tiefe und mysteriöse Kunstwerk, worin die bezaubernde Einbildungskraft glaubte, die Figur des göttlichen Cesare Borgia, vom göttlichen Sanzio gemalt, zu erkennen.“ [Zitat nicht nachgeprüft, Anmerk. d. Übers.]



182 E. M. Forster: Where Angels Fear to Tread (1905), italienische Übers.: Monteriano, Feltrinelli 1961, erinnert bei vielen Begebenheiten an Die kleine Stadt: dem Protagonist, ein instinktiver, höflicher Italiener, fehlt die Aura fragwürdiger Theatralität und die Neigung zur Anmaßung völlig, die statt dessen in der Literatur neuartig, als Kritik, die Figuren Manns charakterisieren.

183 Für das ekklesiastische Rom und einige Anmerkungen zur Umgebung der religiösen Beschützer der Herzogin von Assy, hatte Heinrich Mann sicherlich viele Seiten aus La double maitresse, Paris 1900, von Henri de Régnier vor Augen (ein Exemplar ist in der Bibliothek Heinrich Manns aufbewahrt und die Randbemerkungen belegen die genaue Lektüre), vor allem der dritte Teil, Galandot le romain, in dem sich der originelle französische Graf in die Kurtisane Olympia verliebt und die römische Welt des Kardinals Lamparelli mit seiner bizarren Ménagerie der in das Purpur seiner Feinde gekleideten Affen entdeckt.

184 Die Figur des Monsignor Tamburini (Weisstein will den Namen vom Tenor in Madame Bovary ableiten) enthüllt sich vollständig in der Szene mit dem Orangensaft, der ihm von den Fingern tropft, während er seiner Geliebten das Getränk zubereitet: „Ich bitte Sie: mit einem römischen Profil spricht man nicht von Gnade und Jenseits“ (Göttinnen, S. 125/ S.138 Anmerk. d. Übers.) durch die Worte Violantes.

„Er hatte die niedrige, durch eine Haarsträhne geteilte Stirn, die kurze, gerade Nase und das starke Untergesicht des Römers, und stand bieder und massig vor sie hingepflanzt; doch unter ihren schweren Lidern prüften seine kleinen Augen sie, beweglich und tiefschwarz.“ (Göttinnen, S. 99/ S. 111 Anmerk. d. Übers.) Auch Tamburini, wie Orfeo Piselli und später Pardi und die kleinen Offiziere am Strand von Viareggio, vertritt das Italien Umbertos, das Heinrich Mann kennengelernt hat und literarisch transformiert noch ehe es von seiner Realität Kenntnis nehmen konnte.



185 Eine Figur in Seraos Schlaraffenland.

186 Göttinnen, S. 541 [Venus, S. 49, Anmerk. d. Übers.]

187 Jagd nach Liebe, S. 487 [S. 395, Anmerk. d. Übers.] In Florenz des Jugendstils, noch voller Statuen der Renaissance, die den Protagonisten verstören mit ihrer Evidenz vollzogener Heldenaktionen, entwickelt sich der zweite Teil des Romans.

188 Aus den Notizbüchern kann man schließen, daß sich auch der Patrizier aus Lübeck vorzugsweise von einem italienischen Schneider, ein Signor Brandoni aus Mailand, eingekleidet hätte.

189 „Dessen Name alles sagt“; U. Weisstein, a.o.O., S. 86. Pardi ist auch der Name einer Figur, die in Demetrio Pianelli von E. De Marchi erscheint.

190 Königstiger befindet sich in der Bibliothek Manns, übersetzt von M. Gagliardi für den Albert Langen Verlag. Dieselbe Übersetzerin und der gleiche Verleger von D’Annunzios Fuoco. Von Verga, in der gleichen Reihe von Langen herausgegeben, hatte Isolde Kurz Il marito di Elena (Ihr Gatte) übersetzt. Heinrich Mann benutzt auch für die weiblichen Figuren die Metaphern der Tierbeute, sobald sie in Reichweite Pardis gelangen. So zumindest für die Freundin Claudia, die Tier-Frau, die von der Sinnlichkeit beherrscht ist.

191 „Ein elegantes, gelassen auf sich selbst beschränktes Raubtier: so ist Valmont der jüngere Bruder von Pippo Spano und der Rokokomensch ein Nachzügler der Renaissance. Gewiß, er hat weniger Kraft und viel mehr Eitelkeit.“ Der Held der Liasons von Choderlos de Laclos (Essays, I, S. 26), so entscheidend für die Figurenzeichnung der jungen und männlichen Figuren schon in den Göttinnen, hat für den Kritiker die Attribute des für die Gesellschaft fatalen Typus bewahrt.

192 Klaus Mann: Der Wendepunkt, Frankfurt 1963,S. 12.

193 Die Bedeutung, mit der Heinrich Mann den Begriff „Rasse“ verwendete, mit seinem gesamten Gewicht der Assoziationen, den er heute heraufbeschwören kann, hat folgerichtig die Kritiker des Romans beunruhigt. A. Kantorowicz interpretiert Rasse = Nation in einer der am wenigsten gebrauchten Bedeutungen, die das Wort im Französischen annehmen kann. Aber es handelt sich nicht um die zivilisatorisch-politische Färbung, die Heinrich Mann andeuten will, sondern um eine metaphysische Diskriminierung, um eine Transposition, die auch von den biologischen Gesetzen abgeleitet werden kann und die auf eine sekundäre Ebene abrutscht, um zu den psychischen Charakteristika zu gelangen. Tommaseo gibt die folgende Definition in seinem Dizionario dei sinonimi: „[…] Rasse bedeutet die moralischen und körperlichen Qualitäten, sozusagen eingeflößt in das Blut derjenigen, die von einer gemeinsamen Familie abstammen […] In diesem Sinne unterscheidet sich Rasse von anderen bezeichnenden Ausdrücken (Sippe, Geschlecht, Generation), weil diese nur den ersten Ursprung und die Herkunftslinien, den Adel des Blutes oder den Grad der Zugehörigkeit anzeigen, aber Rasse bedeutet eher die Qualität, die von einer derartigen Zugehörigkeit und Herkunft abgeleitet wird.“ (Dizionario dei sinonimi, Neapel 1935, S. 228). Wenn man diese Verwendung akzeptiert, werden die diversen Bedeutungen sehr leicht erklärbar, die als „merkwürdig“ bezeichnet wurden: „Blut“, oder die Definition Pardis als „äußerster Vertreter einer Rasse“ wobei es sich nicht um eine gewagte Übertragung oder „terminologische Ambiguität“ (so Weisstein, a.o.O., S. 81) handelt, sondern um die volle Ausschöpfung dessen, was das italienische Wort bietet. Das Beispiel Tommaseos: „Die kraftvolle Rasse des Nordens, verschmolzen mit der sanften italienischen, ergab das gute lombardische Blut“, löst weiterhin die interpretatorischen Schwierigkeiten, in dem man die „italienische“ Wahl des Wortes akzeptiert. Im übrigen hatte das Problem Heinrich Mann seit den Anfängen interessiert, der in in der Rezension über Bourget und vor allem in seiner Abhängigkeit von den Schriften H. Taines auf den Problemen der „vermischten Rasse“ besteht, das in den Kreaturen, die verschiedene Vorzüge und Makel vereinen.

194 Daß Heinrich Mann in seiner Arbeitsweise vollständige Teile des jugendlichen Tagebuchs seiner Mutter eingefügt hat, rechtfertigt die zahlreichen gemeinsam verwendeten Motive, die allerdings in den Buddenbrooks variiert sind und alle der mütterlichen Biographie entstammen. Der Bruch zwischen den beiden Romanteilen, der von einigen Kritikern festgestellt worden war (vgl. Weisstein, a.o.O.,S. 80 und 92), kann nicht ohne eine genauere Untersuchung der Gründe angemahnt werden, die die autobiographische Struktur der Erzählung unterstützen.

195 Der Aufenthalt Lolas in Oberbayern, der Ort des Aufeinandertreffens der beiden Rivalen-Figuren Arnold und Pardi, beinhaltet jedoch das Detail einer überaus bizarren Figur, die für die italienischen Leser von Interesse ist: der Baron auf den Bäumen. Die Figur, die Italo Calvino in dem modernen Märchen Barone rampicante (Der Baron auf den Bäumen) in seinem gesamten allegorischen Netz präsentiert, ist hier in der Realität der Erzählung antizipiert und hatte vermutlich, wie der Großteil der Figuren, eine genaue „Vorlage“. Der bayerische Baron, der die Erde auf gar keinen Fall berühren will und sich deshalb Wege aus Ästen zwischen den Bäumen gebaut hat, kehrt am Abend in sein Zimmer zurück. Aber um seinem Lebensmotto treu zu bleiben, steigt er vom Baum direkt auf ein Pferd, das ihn über eine merkwürdige, aus Balken gebaute Brücke bis zum Dach führt. Die Flucht vor der Realität hatte bereits fünfzig Jahre vor Calvino die gleiche literarische Form gefunden. Es sei denn, Calvino hat den Roman Heinrich Manns gelesen.

196 Die Geschichte Ginevra degli Amieris war bereits in Jagd nach Liebe kurz angekündigt worden: die Figur der Ginevra ist ein Ornament des florentinischen Renaissance-Märchens, funktionalisiert, um das Ambiente der eleganten Sinnlichkeit zu schaffen, die die Konflikte des Protagonisten spiegeln. In Zwischen den Rassen taucht sie erneut als Beispiel der Einsamkeit auf, der sich Lola verwandt fühlt.

197 Thomas Mann schreibt an den Bruder, am 16.3.1910 aus München: „Ein Bruder Katja’s ist den Geschwistern Schmied in Berlin auf dem Ball der Reinhardt’schen Theaterschule begegnet. Ines’ Bruder hat sich ihm als „intimer Freund“ und Verehrer von Dir präsentiert und bei dieser Gelegenheit den Auftrag an mich hinzugefügt, ich hätte ja unter dem Titel „K[öni]gl[iche] Hoheit“ einen außerordentlich hohlen und schlechten Roman geschrieben. Antwort: „Das sagen Sie ihm nur selber. Ich lehne den Auftrag ab.“ Es ist mir aber durch einen Dritten dann doch mitgeteilt worden. Wenn der junge Schmied betrunken war, so entschuldige ich die Aeußerung, aber nicht die Meinung, - die also wohl auch die Deiner Verlobten und überhaupt derer um Dich ist. Unsere Freunde waren nie das Beste an uns.“ Briefe, a.o.O., S. 84 [S. 149, Anmerk. d. Übers.] Die Familie Thomas Manns hat nie das Verhältnis Heinrichs mit Ines Schmied akzeptiert, die hingegen von Frau Julia Mann und der Schwester Carla mit Wohlwollen aufgenommen wurde, wie sich aus der Korrespondenz dieser Jahre gut ablesen läßt.

198 Das Thema der unbefriedigten Sängerin, in Die Branzilla bis zum Extrem dargestellt und bereits in Die kleine Stadt entwickelt, hat zahlreiche autobiographische Anspielungen, die nicht ausschließlich mit der nietzsche´schen Figur des Komödianten oder der, noch an die Polemik Minerva-Diana gebunden, aus Jagd nach Liebe erklärt werden können. Zusammen mit der Entstehung eines Romans, konzipierte Heinrich Mann als „Vorstudie“ eine oder mehrere Novellen.

199 A. Kantorowicz hat in seinem Nachwort zum Roman (AW II) auf die Analogien zwischen wirklichen Ereignissen des Lebens Heinrichs und der Erzählung Arnolds hingewiesen: Sein Eindruck von Italien läßt sich weit besser aus den dialogischen Teile dieses Romans rekonstruieren als aus den echten und kurzen autobiographischen Notizen dieser Zeit, die vom Autor hinterlassen wurden.

200 Le Roman, in G. de Maupassant: Romans, Paris 1959, S. 838.

201 Heinrich Mann hatte in Florenz mehrfach in der Via dell’Òriolo 35/II gewohnt. Es scheint, als habe er in diesen Jahren die Isolation nicht durchbrochen, zumindest hat er seiner Mutter nichts darüber geschrieben, denn sie empfiehlt ihm in einem Brief vom 20.2.1904: „Suche in Florenz, in einen Kreis zu kommen, der Dir Anregungen bringt und zugleich hochangesehen ist, das halte ich für einen Schriftsteller so wichtig.“

202 Zwischen den Rassen, S. 178 [S. 187/188, Anmerk. d. Übers.]

203 Die Figur war Heinrich Mann sehr wichtig: das demonstrieren noch die Anmerkungen im Zeitalter, die auf der politischen Intuition bestehen, die die Idee begleiteten. Noch wichtiger sind die Notizen, im Notizbuch des Romans enthalten, worin der Autor zu Beginn die Abweichungen, die Modifizierungen des Typus, zu dem er zurückkehren wollte, festgelegt hat, allerdings ohne die Charakteristika stilisieren zu wollen. Im Roman wurden nur einige Sätze verwendet und der Rest ist aus dem Inhalt noch nicht einmal erschließbar.: „Pardi: Lolas Typus ist abgerutscht. Die zusammengewachsenen Brauen, die niedrige Stirn, der Marmorteint ist noch da; aber auch Pockennarben, eine hängende Nase, und der dicke Mund krümmt sich unruhig. Pardi ist immer geplagt, trägt immer an seinem Innern, hat sichtlich so viel mit sich zu tun, daß man seine Unhöflichkeit, Zerstreutheit, Schroffheit achtet, wie sonst wahnsinnige und wunderliche Heilige geachtet wurden. Sein Leben geht scheinbar in Nichtigkeit auf; jeder aber fühlt: Dies ist nur vorläufig, er macht sich Luft in Vergnügungskommites, weil er sonst platzen müßte, bevor noch seine wirklichen, großen Aufgaben ihn rufen. Innerlich gehört er nicht in diese Eintagswelt; und kleidet sich dann schlecht - was bei ihm jeder in Ordnung findet. „Pardi elegant“ sagt ein Florentiner „wäre gerade so, wenn ich nicht bei Cellerini machen ließe“. „Er treibt den National-Typus auf die Spitze, mit volkstümlicher Energie; ungebrochen. Bankerott des Renaissancemenschen; Ende im Kitsch, Unfähigkeit, neu zu beginnen. Was einst gesund war, ist jetzt kümmerlich süßlich“.“ Weitere Kommentare der Notizen fahren fort: „Pardi wirkt nicht kleinlich, weil er für die Nichtigkeiten, für die er lebt, mit ganzer Persönlichkeit eintritt: immer bereit zur Verantwortung, immer im Begriff, sich zu verfinstern, sich mit dem Kritiker zu messen. Jemand hat ihm vorgeworfen, daß beim Blumencorso eine Schneiderstochter mitgefahren ist. Pardi verlangt, zur Rechenschaft gezogen zu werden; und freigesprochen, fordert er den Anderen. Er ist elegant mit voller Macht, liebenswürdig mit aller Energie, er kennt keine Schonung seiner selbst oder Anderer.“ Er hat folglich jene extrovertierten Qualitäten vitaler Geringschätzung der Gefahr, unverschämter Tollkühnheit und Bedürfnis nach Eleganz, die alle von der typischen Kraft der letzten „Abart“ des Übermenschen, des Faschisten, herrühren.

204 Zwischen den Rassen, S. 238 [S. 250, Anmerk. d. Übers.].

205 An eine metaphysische „Nordischkeit“ auch der mediterranen Figuren glaubt hingegen F. Bertaux: „S’il y a quelque chose de méridional dans le feu qui dévore ses personages, ceux-ci n’en sont pas moins des Méridionaux du Nord. Jusqu’a la truculence de l’humour et aux violences sensuelles ou verveuses de ses héros les plus outrés, sont des éléments que ne saurait renier le réalisme allemand. Il passe séculement là un peu plus de soleil et, si le rire est provoqué par de caricatures à la Daumier, ses cruautés sont aussi celles du Simplizissimus …“ (a.o.O., S. 152). Die der Zeichnungen Th. Heines oder L. Thomas, aber es ist das „plus de soleil“, das viele Empfindungen und Verhaltensweisen glaubwürdig macht, und das die Protestanten des Baltikums irritierte. Dem deutschen Realismus fehlte darüberhinaus dieser feinste Schatten des sozialen Pessimismus und der dauerhaften Kontrolle der eigenen Mittel, die in einer überzeugten Rhetorik des nationalen Optimismus nie degenerieren, wie es bei den Schriftstellern des frühen 20. Jahrhunderts so leicht passierte.

206 „Seine Art, angesichts der Menschen, bei denen sein Geist gerade weilte, von ausgesuchter Höflichkeit jäh in ungehemmte Feindseligkeit umzuschlagen, die äußerste Spannkraft und seiner Mienen, die weiche Wildheit in ihm, das Süßliche und das Gefährliche; seine Art nahm Lola dahin, als triebe sie in blumenüberhäuftem Kahn aus einem Goldstrom, einem gedämpft reißenden, neben dem Paläste aufflammen und über dem ein starker Himmel flimmert. Keine Minute faßte sie, inmitten Gelächter und Lautenklang Vertrauen. Der Kahn war wohl leck, die Paläste aus Pappe und was der Fluß bunt sprenkelte, nur Schlamm - aber inzwischen floß sie dahin.“ [S. 178, Anmerk. d. Übers.] Die meridionale Liebesrhetorik Pardis erreicht seinen anästhetisierenden Effekt gerade mit den Attributen der Größe, die noch einige Jahre zuvor von Heinrich Mann für seine effektvolle Bühnenmalerei benutzt worden war.

207 1898 in Mailand veröffentlicht. Zahlreiche aus dem Buch entnommene Anmerkungen lassen sich in den Notizbüchern wiederfinden (N. 468). Das IV. Kapitel, Sensualismo latino e idealismo germanico (Romanischer Sensualismus und germanischer Idealismus), enthält viele Motive der Unterschiede, die sich Heinrich Mann später zueigen macht und in den Kapiteln von Zwischen den Rassen verarbeitet.

208 L. Feuchtwanger, der zum brüderlichen Freund des amerikanischen Exils geworden war, kannte genaustens die Rousseau-Komponente der Kultur und Psychologie Heinrich Manns. Er bestätigte, daß Heinrich Manns zweite Frau und der Schriftsteller-Freund selbst, ihm zu seinem Buch Narrenweisheit oder Tod und Verklärung des Jean Jacques Rousseau als Modelle dienten, mit allen Abweichungen, die die Ideologie von der Realität verlangen kann.

209 1903 in Florenz von Roux & Viarengo veröffentlicht. Aber es ist anzunehmen, daß Heinrich Mann das Engagement in dieser Frage eines ihm und anderen „Zivilisationsliteraten“ der Zeit wichtigen Schriftstellers nicht ignoriert hat: Joséphine Péladan hatte eine Supplique à S.S. Le Pape Pie X pour la réforme des canons en matière de divorce in „Mercure de France“ (1905) veröffentlicht.

210 „Pardon wird nicht gegeben.Feindseligkeit Pardis gegen die Geldheiraten der Adligen. Er fühlt sich als Bürger. Er heiratet eine mit wenig Geld. Er will aber dafür der Herr sein. Die Scheidung ist Schutz der Frau, die wir beherrschen, der wir aber auch verpflichtet sind. Wir würden, ließen wir die Scheidung zu, unsere Pflicht verletzen. Unsere Frauen würden in ihr Unglück laufen“ notiert Heinrich Mann am Rand des Werkes, der damit, aus seiner inneren Freiheit als Nordländer und Protestant heraus, den exemplarischen Italiener mit seinem Komplex des erwählten Herrschers des mittleren und hohen Bürgertums am Anfang des 20. Jahrhunderts, konstruiert. Die ironischen Bemerkungen Heinrich Manns über den Autor des Buches sind Varianten des Romantextes. Vor allem ist das Motiv wichtig, das er auswählt, um dem Dialog seiner Protagonisten die notwendige Unterstützung zu geben: „Der Freund der Scheidung bemerkt, daß keine neue Einrichtung je getroffen wäre, wenn man ihre Nachteile hätte voraussehen können. Kein Fortschritt wäre möglich. Das ist das Elend der zurückgebliebenen Länder: sie sehen an den anderen die Nachteile der Entwicklung und verlieren den Mut, werden alt, ehe sie gelebt haben. Die monarchistischen Länder von heute haben die Monarchie überwunden, und haben sie nie genossen. Vernunftmonarchie-Vernunftheiligkeit der Ehe.“

211 Tullio und Linda in „Die neue Gesellschaft“, II (1906), S. 164-165.

212 Zwischen den Rassen, S. 299 [S. 314, Anmerk. d. Übers.].

213 Memorie von Linda Murri, herausgegeben von Luigi di S. Giusto im Verlag Roux & Viarengo, 1905, befindet sich in der Bibliothek Heinrich Manns in Berlin. Die deutsche Übersetzung ist in Wien 1905 veröffentlicht worden: Linda Murri: Das Verhängnis meines Lebens. Aufzeichnungen aus dem Kerker. Carl Könegen Verlag. Der Verleger fügt an die Ankündigung des Erscheinens an: „Die glänzendsten Besprechungen wurden diesem außerdordenlichen Buch zuteil. Hervorragende Schriftsteller wie Alfred Freiherr von Berger, Heinrich Mann, Gabriele Reuter widmeten demselben spaltenlange, begeisterte Feuilletons.“ In einem Brief, den Heinrich Mann am 10.2.1903 aus Florenz an seinen Verleger Albert Langen schreibt, rät er zu einer Übersetzung des italienischen Romans La scuola di Linda (Die Schule Lindas): „möchte ich mich meinerseits noch einmal versichern, daß es gut ist, und in gewissem Sinne außergewöhnlich. Ich habe nirgends so logisch und so stark die Arbeit dargestellt gesehen, die Gesellschaft an der Frau thut. La scuola di Linda müßte man übersetzen: „Was sie aus Linda machten“. Am Anfang steht ein gutherziges, liebenswürdiges kleines Mädchen. Schlägt man das Ende auf, sieht man ein kaltes intrigantes Geschöpf - und das ist mit vollkommener Nothwendigkeit und ohne viel eigenes Zuthun so geworden. Der Roman verräth mehr als irgendein mir bekannter über das junge Mädchen. Es hat noch selten eine Frau ihr Geschlecht mit solchem Cynismus behandelt. Der Cynismus rechtfertigt sich literarisch; das Buch ist gewissermaßen ein Kampfbuch. Er macht die Lektüre aber auch sehr amüsant.“ Daß der Fall Linda Murris, eine weibliche Figur von einem bestimmten Ambiente hervorgebracht, nicht von den Zeitläuften überrollt worden ist, sondern noch immer Objekt soziologischer Untersuchungen ist, demonstriert das Werk Lucas-Dubreton: L’enigmatique Linda. Paris 1961.

In der Bibliothek Heinrich Manns befindet sich außerdem noch das Werk Karl Federns: Die Wahrheit über den Prozeß gegen die Gräfin Linda Bonmartini-Murri (München 1907), das mit äußerster Gewissenhaftigkeit und Exaktheit das Material und die Kommentare zum Prozeß Murri sammelt und die These der Unschuld Linda Murris vertritt.


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