Die Memorie Linda Murris dienten als Quelle für den Roman auf andere Weise: „Rebellion von Lola’s Freundin gegen die Männer“, notiert Heinrich Mann neben einigen Zeilen der Memorie: „Ich lebte wie außerhalb des Lebens. Kein Mann gefiel mir, in jedem von ihnen sah ich einen Spekulanten der weiblichen Sklaverei. Ehefrauen, ihnen erdrücken sie die Seele, Geliebte verachten sie. Und in dem ich in diesem Gedanken die ganze moralische Bedingung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau entdeckte, zitterte ich vor Verachtung für den Mann, der die Frau für ein Spielzeug seines tierischen Vergnügens hält, zitterte ich aus Mitleid für die Frau, die sich noch glücklich nennen darf, wenn zumindest dieser Teil respektiert wird.“ (S. 197).
Das Engagement, mit dem Heinrich Mann die Murri unterstützt, wird in einem Brief von Thomas an Kurt Martens vom 28.3.1906 (Briefe, I, S. 65) bestätigt: „Ich bin ziemlich sicher, daß auch mein Bruder Dir ähnliche Einschränkungen zu machen hätte, dieser Heinrich Mann, den Du so egoistisch eingezogen schilderst, und der jetzt höchst expansiv in den Zeitungen für den Professor Murri ficht.“
Eine Variante, die noch unter dem Eindruck der Ereignisse um den Fall Murri entstanden zu sein scheint, ist der Einakter Die Unschuldige, geschrieben 1909 und im Kleinen Theater von Berlin am 21.11.1910 aufgeführt zusammen mit einem weiteren Einakter mit italienischem Hintergrund: Der Tyrann (vgl. Schauspiele, Band X, S. 27), entwickelt aus der gleichnamigen Novelle geschrieben im Sommer 1907 am Fuße des Monte Grappa. Vielleicht weist Heinrich Mann auf diese Arbeit hin in den Notizen zu Einst an der Piave, im Anhang veröffentlicht. In Die Unschuldige wird die Hauptfigur des Ehegattenmordes angeklagt, nach nur einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen, weil die Vermutung ihrer Unschuld von einem Arzt-Verteidiger unterstützt wird, der glaubt, damit die Wahrheit triumphieren zu lassen. Nach der Heirat der beiden, des Verteidigers und der Angeklagten, beginnt das Spiel von „Wirklichkeit und Schein“, des Zweifels über den begangenen Mord, die Möglichkeit, die Ehefrau habe ihn wirklich begangen oder sei die Frucht der Verzweiflung einer ungerechtfertigten Verurteilung. Heinrich Mann verband einige Motive, die ihm aus den Memoiren Linda Murris bekannt waren und fügt die Atmosphäre des großen Erfolgsarztes ein.
Wie wichtig der Fall Murri für die italienischen Jahre Heinrich Manns gewesen ist, läßt sich nur am Wandel seines Urteils und seiner Sympathie gegenüber der Vertreter verschiedener sozialer Klassen ermessen. In Jagd nach Liebe bewahren sich die launischen Adligen und mittellosen Anwälte, die der Franchini den Hof machen, noch etwas von den akzeptablen Figuren einer noch von der Literatur gefilterten Welt. In Zwischen den Rassen ist der Bruch offensichtlich geworden, der zur Kleinen Stadt führen wird.
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