Ludberga bis 23 95


Gedanken zu Ivan Žerjavić



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Gedanken zu Ivan Žerjavić

Autochthon, authentisch, autonom, auto(bio)graphisch und autodidaktisch - Ivan ist ein ambulanter Trost für Kroatien; die gesellschaftlichen Turbulenzen, politischen Erdrutsche, Leiden und Siege, Arroganz und Depression, Traditionen und Zivilisationsimporte haben so manche Grundgefühle der Kroaten gestört, so manche Überzeugung gefälscht, so manches Echte verdorben. Ivans 55-jähriger Witz widersteht dem. Sein ungewollter Sarkasmus, sein Patriotismus, seine Gefühlsseligkeit, sein Freigeist, seine Ungeniertheit, seine kroatische Seele sind echt. Aus einem kuriosen Amalgam -(zogs ihn doch einstmals zum Zahntechniker) – von Gymnasiums- und debütierter Architekturbildung (kennt er sich doch in Fauna, Flora, Habitat und Humanzoologie bestens aus) – von technischer Geschicklichkeit (war er doch ein Dutzend Jahre lang Medienelektroniker) – von Menschenkenntnis (nach einem weiteren Dutzend Jährchen Militär) – Lebenssinn (eine lebenslustige, aber im Verborgen webende Familie) und schliesslich von Formgefühl (ist er doch bis heute Künstler von eigenen Gnaden) – hat sich da ein kennens- und liebenswertes Wesen gebildet, das schlechthin ebenso original wie originell ist. Ich hoffe, er wird meine Elogen weder lesen noch verstehen, denn der Kokon von Authentizität, der ihn einhüllt, ist verletzbar: denn wird echte Naivität als Begnadung genossen, schlägt sie gern in Eitelkeit um und die reine Seide die bis anhin versponnen werden konnte, wird halbseiden. Noch ist Ivan (fast) gefeit gegen die Anfechtungen der künstlerischen Eitelkeit und Eifersucht. Aber morgen schon wird man über seine letzten Oeuvres staunen, die seine bisherige Produktion an lyrischen Landschaften, Stilleben, religiösem Drama und Gelegenheitsbildnissen in den Schatten stellen werden, aus dem Ivan, unerkannt und selten ernst genommen, wie ein Phönix aus der Asche seiner labilen Existenz wiederzuerstehen gedenkt. Sein gegenwärtiger Beruf als kunsthandwerklicher Mitarbeiter im Restaurierungszentrum Ludbreg erlaubte es ihm, Erscheinung, Gebärden und Gestik der dem Schlosse Batthyány zugewandten Stifter, Promotoren, Leiter und Kollegen zu beobachten und auf seine Leinwände zu bannen, ohne je danach gefragt worden zu sein, oder selbst je eine photographische Gedächtnisstütze zu befragen. Diese visionären, durchaus typischen und charakteristischen Erinnerungsschemen blicken von den Wänden einer imaginären Ahnengalerie und bilden ein Ensemble voller Ironie, Ehrerbietung, Realistik und Naivität, die seinesgleichen sucht.

Eine unerklärliche Treffsicherheit leitete Ivan schon in seiner vorangehenden Produktion: der ferne Fischer etwa auf impressionistisch spiegelnder Wasserfläche hat ein Gesicht, eine charakteristische Natur und wenn diese nur zwei Millimeter misst; aus einer Strassenlaterne könnte man eine Birne ausschrauben und das Lächeln einer Portraitierten verrät ein verheimlichtes Erlebnis. Dabei ist Ivan kein Miniaturist; ganz im Gegenteil, manchmal saut er über seine Leinwände hin wie ein wildgewordener Eber, oder er schmuddelt schon fast Geniales wieder weg. So manches dämonisch ähnliche Gedächtnisbildnis habe ich wieder untergehen sehen wie einen torpedierten Dampfer. Zuweilen sollte man den fast ausschliesslich nächtens Malenden in seinen Sternstunden unterbrechen aber hélas, wer blickt ihm um halb drei über die Schulter, wenn nur Graf Batthyány durch die ungezählten Schlossräume geisterwandelt?!

Ivans schüttere Mähne, der Schnurrbart der beim stundenlangen Singen zur virtuosen Harmonika vor Gerührtheit bebt, seine gemütliche Statur, sein mythischer Zahn, sind von seiner Malerei so wenig wegzudenken, wie sein denkwürdiges Weingärtchen, in dem er den einzigen trinkbaren Wein Ludbregs keltert, seine schnurrigen Erzählungen, die Farbigkeit, mit der er seine Mitmenschen schildert, analytisch bis aufs Bein entkleidet, oder gar sein wackliger Renault, in welchem seine Werke dereinst von Ausstellung zu Ausstellung rumpeln werden; oder auch nicht, lacht Ivan mephistotelisch, s'ist ja alles relativ, nicht wahr...!?



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(115) Ludbreg, Freitag 15.9.1995; 6...

Nymph,

(aber eigentlich ist’s noch 21.30, gestern...) eben musste ich obigen Text vom Blatt kopieren, weil er mir aus unerfindlichen Gründen plötzlich im Kistchen fehlte und ich natürlich wieder mal tagelang nichts auf die längst vollen Disketten gespeichert hatte. Wers nicht im Kopf hat... Statt zu suchen und abzuschreiben hätte ich Dir längst wieder eine halbe Litanei abgebetet! Nun, jetzt spielt's von Stunde zu Minute eine geringere Rolle, denn der Moment unseres endlichen Ribaciarsi eilt mit Siebenmeilenstiefeln auf uns zu. Aber jetzt mal gute Nacht!
6.25. Holyland hat sich in ein Nordseebad verwandelt; fast sind die ‘Strandkörbe’ ganz von Lachen eingeschlossen, in die es seit gestern mittag ohne Unterlass giesst, als gelte es ein bodenloses Fass zu füllen. Mein Vordach über der Veranda liess mich kaum schlafen, so pladderte es darauf nieder und der nasse Wind durchweichte meine Wäsche, als hätte ich sie eben erst aus einem Zuber gezogen. So komme ich ohne Hemd nach V., wenn Marija mir nicht einige trockenbügelt.

Was ich jetzt nicht schreibe, schreib ich nimmermehr, heute, wo der Trubel ums Symposium losgeht, Echterding mit Edeltraut. kommt und dem Chemiker Binker, der uns von den Holzwürmern erlösen soll. Ich würde diese ja viel lieber mit Appetizern füttern, damit sie mit gewissen Altarruinen schneller fertig würden, bevor wir Hand anlegen müssen! Ein paar knusprige Heilige, welche die Natur nicht gerade verwöhnt hat, würde ich kaltblütig hingeben, statt ihnen Stefans neue Glieder anbringen zu lassen, die den Originalen weit überlegen sind! Letzterer ist übrigens auch zusätzlich Künstler und meldete sich prompt für ein Ausstellungspamphlet zu seinen Ehren, sobald er wieder was Vorzeigbares zusammen habe. Seine nuschelige Schrulligkeit dürfte mir wenig Mühe machen, ein Portrait zu versuchen...

Hoffentlich ist das Wetter in V. nicht wie hier; wir kämen ob des Hochwassers kaum aus dem Haus und Du müsstest mit meiner plötzlich schüchtern verstummten Stubenwenigkeit vorliebnehmen! Direkt wieder kennenlernen werden wir uns müssen, nach einem so mörderischen Unterbruch; wenn ich mir ausmale, dass Du fernerhin sogar in den hohen Norden enteilst, kommen mir nur die schwärzesten Farben in den Sinn. Hier kann ich kaum die Zelte abbrechen, solange Darvin ‘münchnert’. Der nimmt wenigstens seine Familie mit und kann sich weiter mit ihr herumärgern. Ich habe nicht einmal S., um zu mäkeln und der Schreibstoff wird ausgehen, da Ludbreg an Neuem kaum noch etwas hergeben wird. Mir wird die Seele ausdünnen, der Geist magern und der Bauch aufgehen wie Hefeteig, wenn ich einen zweiten Winter hier durchhalten müsste. Nymph, sinne bitteschön auf Abhilfe! Nicht mal einen Kaffee hat man mir gebraut, weil noch niemand schlosswärts in den Regen hinauswollte. Sieben ist’s und grabeseinsam. Wenigstens liessen die Mädchen ein süsses Kompott übrig, das man inwestieren, bzw. hinter die Binde giessen könnte, soferns nicht wieder irgendein fieses Komplott ist...

Mit ihnen heute abend zum Abschied nicht in die Disko gehen zu können, hat sie betrübt, aber Echterding first; und der wird kaum dorthin mitkommen wollen.
14.30. Darvin hat den Rappel und räumt wieder mal mit Feldherrngebärden alles um, was wir, bzw. er nach dem Fest bereits umgestellt hatte. Ich bin mit so gut wie allem hier fertig, bis auf die Fotos, die morgen kommen sollen; nur Split sendet die seinen direkt nach B., so Gott und die Post will.
16.15. Alles harrt der Ankunft der Gäste, die wie immer viel zu spät vorfahren werden. Auch ich will demnächst hier schliessen und mein braves Kästchen im Wagen verstauen, bis es im Oktober wieder für Dich klickert. Mit fast 300 Seiten hat es ja seine Schuldigkeit getan und kann ein wenig ausruhen; nur das Vorwort Hj. Brunner muss es noch schlucken und noch weiss ich nicht, was es enthalten soll. Nymph, wieder mal ist eine wichtige Phase um, kommt mir vor, für Dich so gut wie für mich; Man steigt nie als Gleicher in den gleichen Fluss würde Heraklit sagen, oder ich: wir waten nie zugleich in die gleiche Pfütze. was zwar weniger philosophisch, aber um so nachprüfbarer ist. Lass Dich küssen, bis morgen abend, wenn die Sonne hinter der Salute untersinkt! Faun.

(116) Ludbreg, Samstag 16.9.1995; 8.30

Nymph,

hier, vor meiner Abreise noch schnell ein Äthergrüsschen und zur telematischen Archivierung (wenn’s jemand in B. vorzeitig bräuchte...): das
Katalogvorwort zur Gemälde- und Graphik-Ausstellung von Hansjürg Brunner in der Galerie Fischer, Luzern, 1.12.95-20.1.96

Ludbreg, Kroatien, Samstag, 9.9.1995



Bester Freund,

Als Du mich nach vielen Jahren, in denen wir je eigne, über Europa verästelte Wege gegangen waren, unlängst fragtest, ob ich nicht Lust hätte, mich zu einem Ausstellungs-Vorwörtchen ins Weichbild Deiner legendären Münchringer Traumbaracke zurückzumelden, freute mich dieser Wunsch, denn was ist schatzsucherisch spannender, als das Wiederausgraben alter Freundschaften! Jetzt, wo ich im fernen Kroatien, wohin mich ein absurder Krieg und mein Restauratorenberuf verschlug, eine zehnstündige Bahnfahrt vom dalmatinischen Split nach dem rumorigen Zagreb unternehmen musste, erinnerte ich mich jäh Deiner Worte und Gesten jenes flüchtigen Nachmittags im August und die Bilder, die draussen vorbeihuschten, mischten sich mit den im Atelier gesehenen Deinigen in sonderbar verwandter Weise. Mein Zug, das muss ich erklärend hinzufügen, war der mythische Marijan-Express, der nun die allerersten Male seit der Befreiung der Krajina wieder durch die zurückeroberten Lande fährt, einmal pro Tag und manchmal im Schritt, weil die Gegend nicht sicher, die Böschungen seit einem Lustrum überwachsen und streunendes Vieh auf den Geleisen grast. Zwei gescheckte Kühe lagen da bereits über Kilometer entfernt mit zum Himmel gestreckten Beinen, ein Schaf verendete kurz vor dem noch vor wenigen Wochen umkämpften Knin, weil es die zwei prustenden Lokomotiven mit ihren 18 Waggons nicht ernstgenommen hatte, ein weisser Schäferhund hatte die erste Triumphfahrt des Präsidenten nicht überlebt und noch liegen im Meilenabstand die grellfarbigen Reste von militärischen Biwaks und provisorischen Schlafstätten in Gebüschen und Unterständen herum, von des letzteren Bewachern, wähnte ich, die offenbar noch keinerlei Müllsyndrom kennen. Es führte mich im Spliter Morgengrauen mein Fussmarsch über den Viktualienmarkt zum Bahnhof bei peitschendem Regen, von Pfütze zu Markisendach und von Zelttuch zu Schlammtraufe, während sich die Wellenreiter in ihrem schrägen Anlauf an den Molen müdetobten; es lagen mir Gemüsekörbe im Weg, Fässer und Stände mit Geflügel, Pilzen, salzduftenden Krebsen, Muscheln, Langusten und ungezählten polyglotten Fischsorten, als gelte es Babylon zu ernähren. Die in einem Jahrtausend spiegelblank geschlurften weissen Pflasterquadern Spalatos umhagt von ehrwürdigen Römermauern, liess ich als leuchtende Kulisse hinter mir, sobald der alterskränkelnde Zug die engbebauten Hänge hinauffauchte und sich über die Wolkenbänke erhob, die ein Adriawind zerwühlte, dann zerstob, dann verwehte und schliesslich friedlich am Horizont zurückliess, wo eine frischaufgewärmte Sonne deren letzte Fetzen frühstückte und mir atemberaubende Blicke über Meerengen und Inseln, Golfe, Strände und Felsriffe bescherte. Bald mischten sich die vom Muster der Trockenmäuerchen umhäkelten Feldermosaiken reifen Weines und geernteter Getreide mit dem Silber der Oliven und dem Blau der Feigen und Agaven, liessen sich von Zypressen, dann Pinien bedrängen und wichen weiter oben der Macchia von Eiche, Ginster, und Wacholder und schliesslich den Farnen, die ein langer trockner Sommer rotvergoldet hatte, inmitten schlohgebleichter Matten, auf denen fast unbewegliche Schafherden sich kaum von den kalkweissen Felsbuckeln des Karstes unterschieden.

In den überfüllten Abteilen sassen kopfbetuchte Weiblein im Festtagskostüm, die aber in alltäglicheren Schürzen ebensogut auf den Weiden hätten stehen können mit ihrem säkularen Spinnrocken im Arm, den Wollfaden unentwegt zwirbelnd und zupfend, mit dem wachen Auge auf ein spärlich Rind, Ziegen oder Schafe. Die aufmerksamst reisigen Mütter teilten ihren bäuerlichen Proviant mit ermüdenden Sprösslingen und Männern hinter gebräunten Runzelgesichtern über ungewohnt gewaschnen Kragen, die in den politischen Überzeugungen Abrahams parlierend, wohl Partisanen von einst sein mochten, denen der Präsident bis Monatsende das freie Reisen schenkte, damit sie sähen, dass die Befreiung Wirklichkeit und diese die Lösung vom Alptraume der Wiederkunft Attilas sei. Aber was sie hinter den Bergen zu sehen bekamen, stimmte sie grimmig, ballte so manche Faust, liess sie seufzen, rechnen und zuweilen verzagen: skurril nordwärts geknickte Hochspannungsmasten fluchteten über Hügel und Täler mit tiefgebauchten, gekappten und wirrhängenden Drähten, hin zu Dörfern ohne Seele unter leergebrannten Dächern; zerschossene Kirchtürme, auf denen Zifferblätter jene letzte Stunde wiesen, als der Feind kam, die Erinnerung eines Volkes auszulöschen, der ihre Friedhöfe plattwalzte, ihre Bahnhöfchen sprengte, die Menschen wie Vieh vertrieb und das Vieh in den Scheunen verhungern liess.



Am Bahndamm lagen ausgeglühte Waggons mit zerlöcherten Rolltüren, deren stumpfer Rost das allgegenwärtige kyrillische Kreidekreuz verblassen machte, das von Sendung und Erlösung dank der Glorie Serbiens künden wollte und nur den Tod brachte.

Warum ich Dir diese Dinge berichte? Nun, von den Küsten Splits über die saftiggrünen Auen Zagrebs hin zu den amönen Weinberghügeln nahe dem Länderdreieck zu Ungarn und Slowenien, am Ende der Welt (obwohl eine Legende will, dass hier Gott den Zirkel einsetzte, den Erdkreis zu beschreiben und wo ein burgundischer Kreuzritter Lobring dem Pilgerstädtchen seinen Namen hinterlassen haben soll), in Ludbreg also, – von wo aus ich Dir schreibe, sind die Eindrücke bestens geeignet gewesen, sie mit solchen Deiner 'Tage und Werke' zu vergleichen, sie mit Sequenzen und Irrlichtern aus Vergangenheit und Gegenwart Deines Tuns und Lassens zu überblenden, sie im Takt der Schienenfugen selbander Revue passieren zu lassen. Ich dachte zurück an die Zeiten, als Du mit dem expressiven Schnitt Deiner Eisen in Holz und Linol Geschichten aushobst, Reisen in Unterwelten der Seele, begleitet von Dante, Kafka oder Gotthelf: sind sie nicht die deskriptiven Male des Dramas das man hier täglich miterlebt? Ich dachte an Deine visionären Strände, Sanddünen, Wellenbrecher und Wolkenstrudel, die Schriftzüge von Baumkronen und Landschaftssilhouetten, die ähnlich quirlend und hastend weiter und weiter hinter mir zurückblieben; und an die Schatten fliehender, sich haschender oder sich liebender Gestalten, die sich im Gewölke der Gewitter lesen liessen; ich sah Deine experimentellen Perspektiven, Sottinsu und Scorzi wieder, beim Aufsteigen über die Nebel der Adria; Deine Hummer, Tintenfische und Krebse, ihre Nässe durch Deinen Meisterstichel aus der Ebene ins Wirkliche gegraben, oder im Impasto der Eitempera eingefroren; sah im Verenden des stummen Schafstodes den letzten Glanz seines Auges von der Akribie Deines Pinsels oder Deiner Kaltnadel beschrieben, welche Haut, Pelz oder Gefieder von Wild und Geflügel so schaudernd tastbar zu machen verstehen; sah den Pastell-Kehricht von Alcaniz, sah die Öl-Ruinen und Aquatinta-Trümmer von Belchite; sah den radierten Brückenbrand von Büren und die strichgeätzte Klassik, die ein Meer an seine verlorenen Ufer spülte. Wenn ich morgens die schroffen Felszüge sah, welche Poesien von strophenweise gefleckten Kulturlandes überragten, schimmerten Deine lichtdurchschienenen Veduten der Provence hindurch, die ich Dich vor Dezennien malen sah; und als im Dämmerlicht schon die fettgrünen Weinberge Ludbregs herbeiflogen, waren sie denen Deiner Dir jüngstens liebgewordenen burgundischen Klause nicht unähnlich. Vor mir sassen Männer und Frauen mit nachdenklichen Gesichtern, aus denen Bechtlers und Staffelbachs, Werders und Schiblers blickten und Blums und Herzogs, Jordis, Luginbühls und Tinguelys, Kornfelds und Holzers... und wenn der Zug in die Tunnels tauchte, spiegelte sich mein eigenes Bildnis im Fenster, als sei es eines der beängstigenden Deinen, nicht allein anmahnend, dass wir nur über unsere Selbstkennung zum Verstehen dieser närrischen Welt gelangen können, sondern auch, dass nur Rembrandt und Van Gogh so dämonisch forschend in den Spiegel blickten, wie Dein schonungsloser Griffel es tat und tut und tun wird bis an den Abgrund Deiner Tage.

Wenn ein Panzer in panischer Flucht über ein unbemanntes Auto rollt, weil die Strasse zu eng und die Rächer zu nah sind, dann ist das Produkt purer César, eine makabre Ästhetik, die vom Untergang, von der Sinnlosigkeit unserer Wegwerfkultur kündet. Kyrillische Graffiti entlang der Mauern eines Bahnhofskaffees dessen vandalisierte Innereien noch immer über Vorplatz und Stumpgeleise gestreut sind, während schon die druckfrische kroatische Fahne aus dem höhlenschwarzen Auge des Weichenstellerfensterchens weht, ist wenig mehr denn kienhölzern. Feuchtfröhlich hemdsärmelige Soldaten in popig gescheckten Tarnanzügen mit angeberischen Startrack-Waffen könnten statt Popovic und Ivanec Rauschenberg oder Lichtenstein heissen. Wie von Fontana zersiebte Verkehrszeichen an den Strassenkreuzungen, bunte Fäulnis-, Schwamm- und Unkrautwucherungen eines Dieter Roth, die auf verkohlten Balken, im Schutt der Häuser, im Unrat der Soldateska gedeihen, könnten X Namen aus der avantgardistischen Moderne zu Pate gestanden haben, wenn nicht Klassikern wie Bacon, Hopper, Beuys, Soutine und Kienholz, die Dir vertraut, nahe oder ferner geblieben sind, deren Virus aber in uns allen sitzt, wenn einer Deiner Wahrsprüche aus dem Munde Tucholskys zutrifft, dass Kunst eine Sache der Gänsehaut sei...

Aber es geht mir nicht darum, Querverbindungen, Schlüsse, Abhängigkeiten und gelehrte Standortbestimmungen Deiner Kunst zur anderen Anderer zu orakeln, weil sich die Deine ohnehin nicht in der Reibung mit -Ismen und -Arts versteht. Sie ist wohl so autochthon, wie es die meisten meiner Mitreisenden im Marijan-Express sind, so original, wie das Land draussen, das letztlich auch kein Krieg verändern konnte, so immun ist Dein Tun gegen Ideologien, analog zum Volke, das durch fremde vergeblich geschüttelt worden ist, so autonom und inkorruptibel ist Dein Gebaren, wie der Stolz derer, die sich nie hatten aus dem Paradies locken oder vertreiben lassen; der religiöse Ernst der Kolonen ist dem heiligen Ernst Deines fast mittelalterlichen Anspruchs an edle Stofflichkeit, hilfreiche Handwerklichkeit und gute Farbqualität verwandt; und anachron ist sie, wie der geopolitische Wahnwitz des Balkan inmitten eines nurmehr kommerziellen Europa.

Vielmehr geht es darum, sich Deine Liebe zu Wasser, Erdwüchsigem und Wolken, den Rhythmen ihrer Bewegung, den Erscheinungen von Licht und Schatten und dem Oberflächenspiel jedwelcher Materie zu vergegenwärtigen, die zuweilen auch Deine Portraits zu befremdenden wie gleicherweise berückenden naturkundlichen Studien, zu Landschaften oder Nature mortes geraten lassen.

Deine autobiographischen Metamorphosen scheinen Häutungen zu sein, aus denen Du geläuterter hervorgehst, je düsterer das Chiaroscuro, je tiefer der Blick, je stummer der Dialog mit dem rätselhaften Selbst ist. Dein Altern scheint ein steter Jungbrunnen zu sein, als gelte es, aus Deinen erdgebetteten Namen in Zeitlosigkeit hinanzutauchen: der quicknervöse Sanguiniker, ironische Spassvogel, orgiastische Schlemmer, trinkfeste Gelagerer, stürmische Liebhaber, gnadenlose Lehrmeister, sparsame Tüftler, gesellige Narr und wachsame Allesgrübler, aber auch düsterer Zweifler und zerrissener Trauernder ist, wie ich nach so langem Unterbruch unserer Beziehung staunend feststelle, erwachsener, überzeitlicher, besinnlicher, warmherziger, stetiger und musischer geworden und die innere Klaviatur Deines Rezipierens und Perzipierens hat Register gewonnen, die mich neugierig machen, was da alles an Überraschendem noch kommen wird! Wenig mehr denn ein Vierteljahrhundert ist’s her, dass Du mich um ein banales Firnis-Korrektur-Rezept angingst und mich über technische Belange ausforschtest, die Deinem Tun die erstrebte Dauerhaftigkeit verbürgen sollten. Seither hast Du nie geruht, die handwerkliche Seite Deines graphischen und malerischen Schöpfens bis zum Selbstzweck, bis zur Hybris unübertreffbarer Perfektion zu verfeinern! Mit ihrem Gewinn, ihrem Verschmelzen mit der gestaltenden Hand sinnst Du, mit dem Zugewinn der Jahre immer mehr, das stoffliche, haptische, impressionistische der Dinge und Phänomene – oft ganz zufälliger oder un-ästhetischer Art – zu beschwören. Du vollziehst eine Reise ins immer konzentriertere Neuland malerischer Meditation und Mediation von Sein und Wesen, aus deren Erscheinung Du immer weniger 'Schilderung' aber immer mehr Kunst machst. Die Metapher der Reise aus der Üppigkeit der Sinne über die spirituale Kargheit in der Vielfalt zur Heiterkeit lebenskünstlerischen Schöpfertums am Beispiel meiner kroatischen Reiseeindrücke wirkt vielleicht ein wenig überzogen, wenn ich sie Dir anstelle eines kreuzgescheiten Katalogvorwortes biete, aber nimm sie wenigstens, lieber wiederneuentdeckter Freund, als Hommage an den Hommard du Chef, den wir uns zu einem blumigen Burgunder gönnen wollen, wenn uns ein nächstes Wiedersehen zusammenführen wird... Mit den Grüssen des Feinschmeckers, der die ungezählten meisterlichen Menus Deines Kunstschaffens zu schätzen weiss.31

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(117) Ludbreg, Montag 9.10.1995; 7.00

Nymph,

(eigentlich ist’s noch Sonntag abend...) seit acht bin ich nach fünf Stunden Sonntagnachmittagsbummelfahrt inmitten Millionen von glücklichsatten Heimkehrern im totenstillen Ludbreg angelangt. Bei Željko holte ich den Schüssel und bekam gleich frischen, ofenheissen Kirschstrudel serviert. Im Schloss ist’s wie ausgestorben, Ivan soll im Weinberg sein. Ich räume ein und auf und um, in der Hoffnung, ich erhielte bald einmal eine Nachricht von Dir, wies Dir auf Deiner Reise, die so turbulent begann, ergangen sein möge. (...kaum niedergeschrieben, schon zu meiner Erleichterung und offensichtlich auch der Deinen, erfüllt!!). Auf denn, einer wie immer gurrenden, hüpfelnden Marija entgegen, die zwei Wochen in meinem Bett geschlafen haben soll!
6.50. Schon ist der alte Rhythmus wieder eingerenkt, wie Du siehst. Ich bin sogar der erste, durch die Nebel zum Schloss zu rudern. Der angestrengte Vollmond von gestern Nacht hat sich wohl in diese Watte betten müssen, um nun tüchtig auszuschlafen (schon gar, wenn er Marija im Nebenzimmer hätte schnarchen hören, die ganze liebe Nacht lang, wie ich das demutsvoll ertrug...).

Darvin ist auf einen peinlichen Sprung nach Zagreb; er wird sich wieder am Ohr nehmen müssen, war er doch damals auf der Suche nach dem an der Grenze verschollenen Stefan in eine Radarfalle gerast; er wird sich herausreden, man habe statt seiner die Französinnen gefilmt und die sind weit. Aber Vrkalj weiss die Wahrheit aus dem Kilometerrodel...

Zlatko ist ohne Ausstellung verblieben, weil die Österreicher in ihrer neuen Europaseligkeit seine Bilder nicht ohne horrende Kaution (5000 DM) durchliessen; Ivan erwartet mich zu Mittag im Weinberg; Marcin rief endlich aus Ungarn an, er wolle mich wegen der Stelle um den 20. des Monats sehen.
13.15. Holyland hat sein erstes Opfer gefordert; mir schwante es schon gestern abend, als ich das Kerzchen im Grase sah und die welkenden Blumen am Strassenrand. Ein radelnder 54-jähriger war vor einer Woche (wie ich mir vorstellte seitens eines wohl zerstreut die Kapellen kontemplierenden Autofahrers, und womöglich des Nachts, so die bläuliche Sparlampenflut über die 14 Zelte Israels flutet...) ins Jenseits befördert worden; es verübte dies indessen hellichten Tags ein Elektriker; was tut’s, Holyland pflegt sein Image als Vermittlungsbüro zum Überirdischen... Ob ich da später selber mal vorbeiradeln sollte? Vielleicht träfe mich dann eher der Blitz des Grossen Elektronikers für all meine Schundtaten an der Literatur?

Mit Velimir mittags in Ivans Weinberg, wo der letzte Trester aus der säkularen Presse geschält wurde. Ivan in neckischen kurzen Hosen unter dem Kugelbauch, servierte nur ein "kleines" Picknick mit drei Gängen unter sonniger Laube, die dürftige Ernte des Heurigen feierlich zu betrauern: 300 l statt der 1500 aber immerhin von exquisiter Süsse. Ivan will die Presse seiner Vorväter in Pension schicken und sie vorher gottbewahre! gehörig kunstkerben und schnörkeln. Sie ist eines Typs, den ich noch nie gesehen habe; eine Art Hebebaum-Schaukel, an deren seitlichem Gewinde ohne Mühe vier Zentner Gegengewicht emporgespindelt werden. Ein faszinierendes, aber zeitraubendes Schauspiel, das einer handlicheren Hydraulik weichen soll, bei allem Respekt für die alte Dame.
Hier ist der Herbst über die Blätter hergefallen: sie verkräuseln sich in eine weit abwechslungsreichere Palette als den Sommer lang. Allein der Mais steht unübersehbar monoton herum und besteht auf seinem Alleinvertretungsrecht im Chor hiesiger Gemüse: lediglich die Kürbisse punkteln noch dagegen an.

Neuerdings quaken die Frösche im Sumpf des nahen Schlossparks, den die Lethargie der Ludbreger noch einmal hat stehen lassen, bis er wohl der sicheren Planierung des HB-Festes 96 zum Opfer fallen wird. Der schnarrende Singsang ist dem der Zikaden Dalmatiens nicht unähnlich und in Momenten täuscht man sich darüber hinweg, dass wir im Herbste einer nordöstlichen Breite stehen.

Das mal, bester Nymph, fernstentschwundener nach so viel Nähe, zum Anfang...

17.00. Wieder ist das Haus leer und ich weiss eigentlich nicht, was ich den langen Abend machen soll, wenn Blagaj, wie zu erwarten, seine Einladung zum Würstchenbraten, wieder vergisst. Wie viele Würstchen sind ja schon segensreich ungegessen an mir vorbeigegondelt, dank der Schusslichkeit ihres Androhers!
A Propos Sand32, bzw. Siliziumoxid oder SiO2: wusstest Du, dass Mussets und Chopins maskulinische Freundin George Sand – sie pflegte sich in Männerkleidung zu kostümieren- eigentlich Baronin Aurore Dupin-Dudevant hiess und ihrem Omen alle Ehre machte (düpierte sie doch die Herren über die Wahrheit ihres "du devant"!); nicht dass sie nur Zigarren (im Sandblatt!) rauchte, Sandaraki, nein Sangria trank, Sandhosen um die Sandwespentaille trug, Sandalen, Sandsteine am Finger und Sanduhr in der Weste, dass sie Sandbäder nahm und Sandelholz raspelte mit Frédéric, den wir ja unter seinem (Sand-)Stein in Père Lachaise haben ruhen sehen, nein, sie muss so manches Sandmännchen mit ihren sandrosigen Romanen "Lelia" und "Consuela" vertrieben haben. Vielleicht nimmst Du Dich gelegentlich ihrer interessanden Figur an, um einen Sandstrahl Sandelöl auf ihre verlöschenden Feuer zu giessen? Vielleicht ist die unserer Lesung sandentwichene gar nicht so sanddornig, wie man annehmen könnte. Nach meinen sandkastenspielerischen Recherchen besass sie trotz Baronässe keine Sandburg bei Sandhausen (Ba.-Wü.), war mit keinem Sandammann geehelicht, noch mit Kunstschriftsteller Sandrart, Joachim v., und war auch nicht mit Sandbad dem Seefahrer verwandtet oder versandet, auch schossen ihre Sandwerke nicht wie Sandpilze aus dem Boden, sondern sie zog sie sich in mühsamer Kleinarbeit wie Sandwürmer aus dem Sandkuchen ihres wenig mütterlichen, doch prokreativen Genies. Auch wenn ich sie Dir nicht als die Erfinderin der Sand-art schmackhaft machen kann, lasse ich eine Sandarte über ihr wehen, solange Du mit dem sandigen Thema schwanger zu gehen gedenkst. Aber Schluss damit, bevor mir eine Düne strafend ins Getriebe weht und mein sandrazitfarbenes Chikaninchen zur Strecke bringt...
Eben kommt Ivan zwischen zwei Kelterprozeduren (er schwefelt, der Teuflische!), um mir malefizisch im Oberstock ein pastellenes "Fresko" zu zeigen, das er da auf die Wand gemalt: eine lebensgrosse Ludberga – fast hätte ich Sandburga gesagt – stürmt mit dem Kreuz auf einen noch auf der umbiegenden Wand zu ergänzenden hündischen Beelzebub ein, der in der Blindbodenspalte verschwindet.
21.35. Zurück von Blagajs; ich weiss nicht ganz wie, aber noch ohne Unfall. Es begann mit köstlichen Kastanien, die wir am offnen Feuer brieten, in Mithilfe von Nachbar Magić und Bürgermeister Križanić. Letzterer riskiert ins kroatische Parlament gewählt zu werden, was ihn nicht hindert, im Joggingdress aufzutreten und ein wenig schamhaft faule Witze zu erzählen. Dann überkam uns Blagajs selbstgebrannter Birnenschnaps und schliesslich ein Meerfischessen unübertroffner Güte, weil des Gastgebers beste Hälfte die Fische eben erst vom dalmatinischen Rovinj mitgebracht hatte... Und dann der vino novello, der mir so im Nacken sitzt, dass ich kaum die Tasten finde. Trotzdem will ich Dir die Seite zuendeschreiben, auch wenn ich nicht glaube, dass etwas Vernünftiges dabei herauskommt. Ivan ist wieder über alle Berge und die Grabesstille ist beängstigend nach dem lauten Gelächter im blagajschen Hause. Dessen gleich nebenan im Garten errichtete Nobelscheune beherbergte übrigens stolz drei unglückliche Schweine, die Slavko Mittwoch zu schlachten gedenkt; er schnalzte mit der Zunge, dieweil mir das Herz stehen blieb, ob der säuberlichen, freundlichen Tiere, die mich grunzend begrüssten, als hätten sie noch ein ganzes Menschenleben zu verprassen... Aber vielleicht ist es besser, ein armes ahnungsloses Schwein zu sein, als ein mitwissender Mittfünfziger, dem das Leben hellwach durch die Finger rinnt...

Nymph, noch habe ich unsere Reisen nicht rekapituliert, nur das beseligende Gefühl, dass wir unsere Zeit gut ausgenutzt hatten und um manche Erfahrung reicher geworden sind; schon packt mich die Lust, Dich erneut zu entführen, uns die Augen auf die Welt offen zu halten, solange sie noch nicht übersättigt und solange sie noch ungestraft sehen können, dürfen, mögen... Küsschen, Faun!

(118) Ludbreg, Dienstag 10.10.1995; 6.40

Nymph,

siehst Du zwei Kapellen, fahre mit 50; siehst Du nur noch eine, mit 30; solltest Du keine mehr sehen, gehe zu Fuss und weitab vom Strassenrand. Wieder eine verkehrserzieherische Nutzung mehr für Holyland, das man heute löblicherweise zum ersten Mal überhaupt nicht sieht. Der Architekt hätte es ohnehin als Nebel- statt als 2x7 SchMERZensbau konzipieren sollen! bei klarem Wetter in Trockeneis zu hüllen; wie kleine Archen Noahs würden die Kapellenkioske auf waberndem Grunde schwimmen dieweil himmlische Arien aus den Lautsprechern erklängen: eine phantastisch-wagnerische Szenerie mit Logenplätzen vom rasenden Auto aus...


Gestern vergass ich, dass Magić, Slavko und Franjo ernsthaft daran dachten, den Mittelpunkt der Welt inmitten Ludbregs mit einer Bronzescheibe zu kennzeichnen; um deren Standpunkt befragt, wählte ich prompt die mir vor Monaten aufgefallene Kirchfriedmauer mit ihrem arenamässig versenkten Rund vor der Nordpforte im neuen, etwas angehobenen Fussgängerbezirk: das Regeneinlaufloch in seiner Mitte wäre bestens als symbolhafter Einstich oder besser Einstieg zur Erdmitte geeignet.

Ein gehöriges Fest müsste gefeiert, Reden gehalten, 'Der dritte Mann' von Ivan gespielt, eine Erklärungstafel angebracht und natürlich der runde Gullydeckel, vom Preisgewinner entworfen und in Bronze gegossen, enthüllt werden. Jeder Ludberger erhielte eine Blechmedaille mit dem Motiv und am He.So. könne man gegen ein geringes Entgelt Erdmittelpunktbürger werden. Sveta Ludberga hielte auf der Plakette den HB- (nicht Hofbräu-! nicht BH-!) Kelch hoch, ein Motiv, das auf allen Lubreger Prädikatsweinen erscheinen müsste. Und jedes Jahr am ersten April eine Gedenkzeremonie mit dem Vergiessen eines Glases 'ungespritzerten' Weins in das Erdmittelpunktgully...

(119) Ludbreg, Mittwoch 11.10.1995; 6.40

Nymph,

viel hatte ich ja gestern nicht mehr geschafft; meine Müdigkeit beförderte mich nach dem Entwerfen einer Ludberga-Plakette und dem Lesen alter 'Spiegel' recht bald in meine Klause. Die Gewissheit, Dein Telefaxgerät für Tage taubstumm vorzufinden, lähmt die Fabulierlust!

Endlich ist mir gelungen den jungen Francic wiederaufzufinden, der mir die Legende vom Zentrum der Welt hinterbrachte. Er kommt in der Mittagszeit und ich werde ihn zur Kollaboration verführen...
10.00. Schon war er da; er zeigte mir das 'Zentrum der Welt' in der Denivellation just neben dem Schloss, im obengenannten Sumpf, wo die Frösche so munter quaken, sich nach jedem Regen neue Tümpel stauen und die alten Bäume noch unbehindert zum Himmel wachsen dürfen! Die garstige Brücke hat das Tälchen zwar entzweigeteilt und eigentlich ist dieses nichts weiter als das Bett der einstigen Bednja.

Dass das "Loch" so gelängt und so riesig ist, entschuldigt Francic auf meinen Einwand hin mit den 40 000 km Erdumfang und den ca. 12 000 km Zirkelschenkeln, von denen man keine grössere Präzision einfordern könne. Ich gab zu, bei einem Nebel wie dem der letzten Morgen, ist ein präziser Einstich in die Erdkruste eine Kunst und die Nato irre sich schliesslich auch um Dutzende von Metern, wenn es um serbische Ziele im Umkreis Hunderter von Meilen geht.

Er führte mich auch zum Einstieg in das unterirdische Gangsystem, von dem älteres Schrifttum33 behaupten soll, Schloss und Blagajs Nachbarhügel römischen Angedenkens seien einst unter der Bednja hindurch als Fluchtwege (wohl vor den Türken?) verbunden gewesen. Der Gang, unter dem südlichen Flügelbau hinwegzielend, den Francic als Kind über fünfzig Meter weit erforschte, ist bestens ausgemauert, aber im mir sichtbaren Teile kaum älter als 300 Jahre. Dass er unter der Bednja hindurch geführt habe, ist ob des hohen Grundwasserspiegels und der ständigen Überschwemmungen der Vergangenheit eher zweifelhaft; vielleicht verband man gedanklich-romantisch zwei unabhängige zum Fluss leitende Entwässerungsanlagen...
11.00. Das Zentrum der Welt um 300 m ins Stadtinnere zu vermogeln, scheint auch F. legitim, denn wird man das originale "Loch" aufschütten, geht Ludbreg seiner Weltmitte verlustig, ohne dass es seinen Bürgern je bewusst geworden ist. Durch mein konservierendes Happening rette ich Ludbreg sozusagen vor seinem geospiritualen Suizid. Nun will ich jemanden finden, der die genauen topographischen Koordinaten von Kirchhofmauer und Gully berechnet. Die werde ich dann mit einer Welt- und Europakarte kombinieren. Eine entsprechende Zeichnung müsste auf einer Erklärungstafel neben der Kirchenpforte figurieren...
12.00. Von Francic erfuhr ich auch, dass Holyland für Todesfälle offenbar notorisch sei: zwei Tage vor dem Radlerunfall hatte sich eine 25-jährige Frau in Ermangelung eines Liebes- oder Lebensgefährten auf dem Fahrdamm hinter der HB-Kapelle vom abendlichen 8-Uhrzug das Leben nehmen lassen. Geht noch jemand in die anliegende Bednja, oder fällt einer von Blagajs Amateurmaurern vom Schlossdach und erschiesst etwa ein Landjäger einen vermeintlichen Hasenfuss im Brachfeld gen Süden, ist der Windrosen-Kranz zum heurigen Allerheiligenfest oder zum Totensonntag geflochten, Holyland von brennenden Kerzen umstellt. Vielleicht bietet unser gotteslärmiger Priester demnächst auch seine heilsgewölbte Brust dem meistbietenden Meuchler, um seine Kanonisierung zu beschleunigen: etwa im Parabolzentrum Holylands niederbrechend (vielleicht in dreifacher Sondervorstellung) wär’s ein memorables Spektakel für Publikum, Presse und Fernsehen!
14.30. Mit Darvin von der Gemeinde zurück:
... Die m-Koordinaten für das Kirchturmzentrum Ludbregs sind x: 5123697,22 und y: 6393762,09; (was das auch immer heissen mag); die Meereshöhe 156,1 m.ü.M.; die Länge: 16° 37' 50'' östlich von Greenwich und die Breite: 46° 15' 50'' nördlich vom Äquator (allerdings gemäss meineigener stümperhafter Berechnungen). Die gegen 1642 entdeckten und von Cook 1772–75 besuchten Maori-Antipoden Ludbregs leben ungefähr im Bereich der Chatham-Insel östlich Neuseelands, wo Eilande klingende Namen wie Bounty, Kermadec, Cook, Antipodes (sic!) uam. führen. Da es auch dort Vulkane, Geysire und Thermalquellen geben soll, würde es mich nicht wundernehmen, wenn die Zirkeleinstiche Gottes einst ein wenig ungestüm und vage vor sich gingen, wollte er in der dortigen pazifischen Wasserwüste landfündig werden; die eingeborenen Maoris dürfte er nicht wenig erschreckt haben (nicht minder terrorisierte die das Schauspiel, als inmitten des 12.Jhs. die Erde bebte und aus einer der Calderen Ludbergas Versucher ausfuhr!). Ich werde Franjo fragen, ob man sich nicht mit unseren Kopffüsslern verbrüdern könne; ein Tausch von Kauri-Muscheln gegen Kuna wäre immerhin charmant und z.Zt. nicht von Inflation bedroht. Ludbreg geriete so ins Commonwealthgefüge ohne Umweg über den europäischen Markt. Der, wenn auch etwas enge und heisse Zugang zur Südsee, machte lange Bangkok-Flüge am Freitagabend überflüssig: denn sagt nicht das Versprechwort 'mehrere Meter mehr Meer mehren merklich mediterranen Meermaids märchenhafte meridionale Medienmärkte'. Die Existenz von Antipodes an sich dürfte Beweis genug sein, dass Ludbreg der Mittelpunkt der Welt ist; Punktum.
18.00. Unsere neue Volontärin Bojana, die mir heute früh noch versprach, nach einem Legendenbuch über Ludbreg zu forschen, verunfallte wenig später auf der Strasse nach Koprivnica mit ihrem Auto. Man zog sie zwar mit lädiertem Hals- und Rückenwirbel, doch lebend aus einem Schrottknäuel. Eine junge Frau ihres Alters hatte vor Halbjahresfrist unweit der (Ludberga-) Kapelle weniger Glück gehabt, als ein Betrunkener sie nächtens zutode fuhr; auch dort glimmt noch immer eine Kerze...
So faul wie die letzten Tage waren wir noch nie; unsere Leute lassen sich nur mit Privataufträgen zur Arbeit ködern; auch ich bin vom Balkanismus angesteckt und gebe mir hinter meinem Schreibtisch den Anschein intensiven Tuns, obwohl ich mich öfters hinter vorgehaltner Hand beim Schlafen erwische. Zuhause vertiefe ich mich mit wenig mehr Erfolg in den "Idioten", aber das ermüdende Nichtstun lässt mich kaum eine Seite weiterblättern... Au! die Stirn am Notebook ange...

(120) Ludbreg, Donnerstag 12.10.1995; 6.35

Nymph,

noch immer tastet man sich durch die Morgennebel, doch weiss man, dass die Sonne nicht weit ist und die Nachmittage geradezu noch sommerlich aufwärmt. Das Fauchen der unsichtbaren Züge ist durch ihre fast ängstlich krächzenden Schreipfiffe noch gespenstischer, als gelte es, unheilige Geister von den Schienen zu scheuchen (nach dem Unglück der letzten Tage wähnt man diese in der Tat zum Greifen nah und ich möchte nicht in der Haut des Maschinisten stecken, der derzeit durch die milchigen Schwaden zu kurven hat!).
Eben fällt mir ein, man könne vielleicht Künstler Goran Petrac bitten, das Bodenhalbrund am Kirchentor mit dem Erdmittelpunkt-Spund in Mosaik auszulegen, als farblichen Akzent und für ihn als profane Penitenz für den Horrorzyklus an den 14 Nothilfestationen...
17.00 Eben wollte ich an Ludbergas Gang nach Varaždin weiterspinnen, da versüsst mir Deine Stimme das verwaiste Ohr. Macht mich also zum glückseligen Schweinsohr; Željko braut mir soeben Kaffee dazu...
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