Ludberga bis 23 95



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Alles ist Spuk hier und nur Graf Batthyány ist echt in seinem Nachthemd und mit der Talgkerze in der knochigen Hand, wenn er verwundert seine allmitternächtliche Runde macht und mir nachdenklich zunickt, sofern er mich wieder mal am Schreibtisch überrascht, wie vorgestern, als ich auf Tilman wartete. Sein übergrosser Schnurrbart ist eine Pracht und man verspürt jedes Mal die Lust, daran respektlos zu zupfen, wenn man nicht jedes Mal ins Leere griffe. Aber wir verstehen uns recht gut. Er hat mich bisher noch nie erschreckt und die Sache mit dem Dachziegel war ein bedauernswertes Missverständnis, hatte er doch Vrkaljs Dienstwagen gemeint, der daneben stand! Aber mit dem Alter werden Weitwürfe ungenauer und mit Ziegeln haben Grafen wenig Erfahrung. Das nächste Mal würde er nur die Alarmanlage auslösen und die Gäste zu Scharen scheuchen (das kleine Erdbeben von unlängst hatten ausser mir nur wenige bemerkt). Er wolle auch das Faxgerät in Zukunft nur tagsüber stören, damit meine Benutzerrechte nicht von Zagreb geschmälert würden; aber im Telefon mithören, das liesse er sich nicht nehmen, er müsse schliesslich wissen, was in der Welt vor sich ginge. Der gute Mann weiss recht viel und er wird mir noch öfters nützlich sein; so hat er eigens den Nabel der Welt vor Zeiten graben lassen und besitzt auch nähere Informationen aus dem Familienarchiv über Ludberga von der ein Zweig der Familie abzustammen scheint, der aber unrühmlich im Alkoholismus erlosch.
A propos – Ivan holt mich soeben zum Ausflug in seinen Weingarten ab.

18.10. Vor der Tür wartete unser Geweibe und spielte Entrüstung, dass man es nicht hereingelassen habe. Ivan und ich, jeder nach einem guten Liter Weins und einer schlingernden Schlossfahrt bleiben gelassen; schliesslich ist herrlichstes Wetter und das Warten kann für die Mädels so schlimm nicht gewesen sein. Zum ersten Mal konnte ich Ivans Weinberg bewundern, das kleine unordentliche Häuschen mit einer 150-jährigen Weinpresse und den letzten Tropfen aus dem letzten Fass. Bei Käse, drei verschiedenen Tomatensorten und Mortadella wurden politische und kulturelle Themen aufgetischt, derer sich Ivan mit Bravour entledigte. Ein Unbekannter hatte ihm vor Zeiten einen Aluminium-Christus durch den Nabel an die Tür genagelt; dort wird er bis in Ewigkeit hängen; wohl die Geste eines Gläubigen, der den gottlosen Ivan exorzieren wollte. Die Abendsonne streichelte milde seinen Weinberg und entschuldigte sich für den Regen der letzten Tage. Ansonst hing der Himmel voller Wachholder, Nüsse und Birnen; ein kleines Paradies, wo man das Gras wachsen hören kann. Ivan wies mir das wenig entfernte Crn Bel, wo früher der einzige intelligente, aber unerkannte Mensch Ludbregs gewohnt haben soll, ein Theaterschriftsteller Mladic Kerstner, der ein einziges, aber geniales Stück schrieb, das mit Erfolg aufgeführt und verfilmt worden war, der das Kulturleben einer Generation prägte (natürlich erst auf dem fruchtbareren Boden Zagrebs). Das Grundstück umfasste etwa den Besitz Ludbergas und muss ein Wunder an Zusammenklang von Park, Weinberg und Wohnidylle gewesen sein; kurz legendär. Ich bin also nicht viel daneben geraten...

Nymph, ich weiss nicht, ob ich die 210. Seite hier so ohne Nachhilfe noch zuendeschreiben kann. Langsam gehen mir die Worte aus und für ein Geschichtchen die Ideen; der Wein tut das seinige, klare Gedanken zu trüben und Ivan besteht darauf, bei laufendem Fernsehen einzunicken. Nur die Zeichenstifte der Mädchen rascheln fleissig, ein ebenso einschläferndes Geräusch wie der Balalaika-Hintergrund der Bauernsendung "Land und Hof".

Und da ruft man mich überraschend ans Telefon: Du darfst dreimal raten, wer das war (19.05.); ich sag’s mit Sicherheit nicht, damit Du nicht eifersüchtig wirst: ein weibliches Wesen, mit zarter, vibrierender Stimme, angenehm kristallinem Klang, voller Witz und Zärtlichkeit. Das Idiom nicht einfach zu lokalisieren hier im Balkan; aber europäisch, sagen wir mittel-, mit einem Einschlag ins alpine, kultiviert, noch sehr jung aber äusserst klug fürs Alter; schätze blond mit einem abflauenden Schnupfen, was der Sonorität der Stimme förderlich ist; man könnte schmelzen bei so was. Da jedoch das Faxen für mich immer noch harte Arbeit bedeutet, muss das Schmelzen warten; ich fürchte, zwei Wochen noch, eine Ewigkeit. Eigentlich sollte ich Dir das alles gar nicht erzählen, da ich Dir sonst den "padrone" vergräme vor Neugier, wen ich mir da neuerlich an Land gezogen hätte. Immer wieder neuerlich! Ein riesiger Verschleiss an Jungfrauen, würde man annehmen. Aber was kann ich dafür, wenn man sich immer wieder unrettbar in solch junge Dinger verliebt, die – allerdings in letzter Zeit rarissimo – über den Weg laufen. Du musst da mal ein wenig aufräumen und zeigen, wer das Sagen hat; in natura, versteht sich und mit dem gehörigen Hand-und Mundwerk. So; pardauz hab’s gut und denk einmal an mich, wenn Du einem Füllfederhalter, falsch, einer herumirrenden Tastatur begegnen solltest; sie sollen selbst in Kinos herumstreunen, man muss nur nach ihnen greifen und dann los...........

Mein nächstes Briefchen ist nur noch eine Antwort! Faun.

Aber zur Güte doch noch ein Küsschen. Faun.

(108) Ludbreg, Dienstag 5.9.1995; 6.40

Nymph,

in der Annahme, mein breve würde mit dem Lauf des Tages doch noch zur Antwort auf ein Deiniges geraten, kann ich nicht unterlassen, aller Schwüre zum Trotz schon mal draufloszuplappern; was soll man denn auch tun, so früh, ohne Gesellschaft, ohne Kaffee, den Ivan zur Abwechslung wohl zuhause einnimmt, und unter einer heiligscheinigen Morgensonne, die tut, als hätte sie seit dem Sommer nicht aufgehört zu fluten. Nur die Pfützen überall verraten das Gegenteil und die Fabrikgänger, die, misstrauisch einen Regenschirm unter dem Arme geklemmt, zum Stadtrand sputen.

Ludbregs leere Stände sind nun fast alle abgeräumt; mit einem hoffnungsvollen Blick prüfte ich, ob man Holylands Kioske nicht auch gleich eingepackt hat; aber nein, sie stehen da in farbiger Unschuld und warten nun 360 Tage lang auf die nächste Sveta Nedjelja, den Heiligen Sonntag 1996. Ivan verriet mir gestern, dass hinter der ganzen Anlage unser Bürgermeister als Promotor gestanden habe und nicht nur der bockshörnige Lokalpriester; am Fernsehen stand ersterer jedenfalls kürzlich in Kommissarsmontur davor, wie ich wohl schon sagte, als von Holyland nur die ersten Knospen aus dem Boden lugten. Es muss ihn dann doch mit Schmerz erfüllt haben, mich haben wettern zu hören, wie Daidalos gegen das Fabrikat des Minotauros hätte wettern müssen; jetzt wird er inzwischen so viel Lob geerntet haben, dass mein Spott nurmehr eine Daunenfeder wiegt und er mag wieder getrost schlafen, bis zum Momente da Holyland einmal restauriert werden muss. Auch ein Betonbunker wird vom Zeitlichen gesegnet und an Segnungen wird’s in Holyland nicht mangeln.
7.30. Die Belegschaft tröpfelt hohläugig an; alle hatten wohl einen anstrengenden freien Tag und werden sich vornehmlich in der Küche erholen müssen; so wende auch ich mich gen dort, es gibt frischen deutschen Kaffee und Toblerone-Schokolade aus der spendiblen, zuckerbrotverteilenden Hand Echterdings; die andere, peitschenschwingende, werden wir vielleicht am 15. dieses Monats zu spüren bekommen? Ab morgen gehen die meisten in die Ferien bis zu dessen Wiederkunft. Ich reise Donnerstagmorgen nach Zagreb, dann flugs nach Split und mit einer Zugfahrt zurück am Samstag oder Sonntag früh.

Hier hielt ich heute Hof mit einer kleinen Sitzung, um alle Dinge um E., die Französinnen und unsere Projekte klarzulegen, da Darvin offenbar nicht richtig informiert war, vor allem aber allerhand Animositäten gegen unsere Damen auffuhr. Es war ihm nicht klar, dass mit der französischen Architekturstudie Ludbreg sich eine Spur auf Europa ausweitet und Kroatien kulturell salonfähiger wird, was in den serbenfreundlichen Pariser Kreisen bisher nicht der Fall war.

Ich sehe mit Schrecken, wie die Termine auf mich zurasen; für Köln habe ich noch keine Idee, was ich sagen könnte! Ich rechne, dass ich in B. für Hansjürg Brunner kaum drei Tage haben werde, ihm ein Omaggio zu verfassen, denn zum 23.9. flüchten wir schon aus dem Nest, Köln und vielleicht weiteren Zielen zu (Paris?). Ich werde versuchen, im Zug von Split nach Ludbreg etwas aufzusetzen, vielleicht wieder einen Brief, das geht mir am besten von der Hand; meinst Du nicht auch? nach 210 Seiten Übung...

Heute Abend werde ich Ivan zur Pizza einladen, da er mir gestern entwischt war und schon mehrmals sein anämisches Portemonnaie gezückt hat, um heimlich unsere gemeinsamen Rechnungen zu begleichen. Je weniger Mittel diese Menschen haben um so generöser sind sie! selbst die Kirche macht ja seit eh daraus ihr Kapital. Im Herbst werde ich ihm Olivenöl aus S. M. bringen, um mich für seine Freundlichkeiten zu revanchieren, wo ich schon bei Blagaj versagt hatte, als ich den Preis der Rovinj-Veduten für ihn hochzupokern versuchte. Vielleicht habe ich mit der Empfehlung der Restauratorski-Ahnenportraits ein wenig mehr Glück beim Bürgermeister.

Nymph, viel Gscheites war’s wieder mal nicht, doch hoffe ich, Dich noch kurz vor der "Fantasy"-Pizza ins Ohr zu bekommen! Lass Dich auf bessere Zeiten vertrösten (in den Fluss meiner Nachrichten wird die zweite Hälfte dieser Woche allerdings eine grosse Lücke reissen). Faun, Deinster.

(109) Ludbreg, Mittwoch 6.9.1995; 6.30.

Nymph,

Schabernack, den man zu nachtschlafendem Morgengrauen entdeckt, hat eine minder hilarische Wirkung als zum Zeitpunkt seines spätabendlichen Ausheckens: findest Du anstelle der gewohnten Perspektive im Rückspiegel ein zwinkerndes Papierauge, oder merkst Du spätestens beim morgendlichen Tastenfrühsport, dass Dein Sessel am Parkett festgeklebt ist und schliesst Du infolge dieser Vorkommnisse auf den Täter, der Dir beim späten Nachhausekommen die Nachttischbirne ausgedreht hat, so ist der Lacherfolg auf einen kaffeelosen Magen nicht sonderlich erschütternd. Ich muss die Mädchen nun mal gehörig am Ohr ziehen; meine Autorität ist ernstlich in Gefahr! Selbst die ewig gackernden Deutschinnen hatten sich nicht an meiner würdegefütterten Weste vergriffen! Wäre ich dreissig Jahre jünger, würde ich ihnen ein gefälschtes Weinberghaus unter die Karten mischen, rote Tinte in Pascals Füllhalter aufziehen, oder ihre Wäsche auf der Veranda verknoten; hélas, solcherlei Zeiten sind eigentlich über die Berge. Es ist ja trostreich, dass sie mich noch als geeignetes Spielzeug werten und nicht unter die grämlichen Mufflons zählen, deren manche ja schon seit der Geburt Langeweile verbreiten. Dass sie mich als wehrloses Ziel erküren, ist einigermassen verständlich, weil niemand hier des Französischen mächtig genug ist, ihren Gymnasiums-Witzeleien die Stirn zu bieten, oder sie überhaupt zu verstehen; aber zwei gegen einen zerstreuten briefeschreibenden Professor ist unfair. Ab heute sind sie wieder zu dritt, da werden sie sich untereinander und gegeneinander kabbeln können; hoffentlich ist die neue Fréderique so recht schön zickig, wie sie das bereits befürchteten... Sibila hatte auf die zwei eher eine dämpfende Wirkung gehabt, weil deren besinnliche Lethargie, ihre abwesende Verträumtheit, ihre slawonische Stämmigkeit und ihr katholischer Ernst die Quecksilbrigkeit der Städterinnen bremste.

Eben verabschiedet sich die grüblerische Jana von mir, nachdem Zladko mir ihre Koffer aus der Hand reisst um sie zum Bahnhof zu kutschieren, jene eigentlich melancholische Tätigkeit, die mir hier fast ebenso zur Routine geworden ist, wie einst in S.M.; die Kroaten entwickeln für gewöhnlich wenig Ritterlichkeit gegenüber Frauen und schauen zu, wenn sie die unzumutbarsten Gewichte herumwuchten. Jana war ein ambulantes Rätsel, manchmal in stündlichen Kadenzen schwankend zwischen mürrischer Verschlossenheit und strahlender Freimut, ängstlicher Unsicherheit und überlegter Tatkraft, gequälter Ablehnung und verspielter Einfühlung. Zu ihren kroatischen Kollegen hatte sie ein gespaltenes, von diesen erwidertes distanziertes Verhalten, das an Feindlichkeit grenzte; nicht einmal Ivan wurde aus ihr klug.
Merkwürdig, wie die Bahnhofsatmosphäre von Attigliano, Alviano oder Orvieto jener Ludbregs so ähnlich ist, obwohl über tausend Kilometer, Länder, Volksstämme, Klimata und Traditionen entfernt. Sieht man von der Ärmlichkeit des Ludbreger Kolodvors und seines, man würde meinen, einzigen asthmatischen Zuges ab, von der Winzigkeit der von dreieinhalb Flaschen bestückten Bar, vom aus allen Ritzen quellenden Unkraut, das der italienische Naturfeind ja stets mit aller Radikalität auszumerzen bestrebt ist, von der Kauzigkeit des Stationsvorstandes gegenüber der Jovialität der herumwieselnden italienischen Kollegen und von der Absenz eines weltenverbindenden Kiosks, wie eines perronverbindenden Steges, so ist das verstohlene, weil meist verbotene über die Schienen Sputen, das betretene Herumwarten, das atemberaubende Vorbeitosen von urzeitlichen Güterwagen, das zeitfüllende Kommentieren einer Verspätung und das ängstliche Ausmalen der Konsequenzen eines verpassten Anschlusses, das unruhige Suchen und aufatmende Begrüssen des wachsenden Punktes am Horizont, die flüchtigen wechselseitigen Wangenküsse sich sonst nie und nicht mal im Traum geküsst Habender, das ärgerliche Drängeln auf den Hühnerleitern, das kreuzbrechende Kofferhieven, das verschämte Winken, die letzten belanglosen Adieus über verklemmte, schmutzige Scheiben hinweg, mit der Versicherung baldigen Wiedersehens, der hypokrite Dank für Unverdankbares, die Grüsse an unerreichbar Entfernte, – immer dasselbe trübselige Lied des Abschiednehmens von Menschen, die das Schicksal durch irgend einen unerfindlichen Zufall für ein irrlichtiges Momentchen zusammengeführt hat und deren Berührung immer eine wenn auch ephemere, positive oder negative Spur im Wesen der Auseinandergehenden hinterlässt...
18.00. Sonntagsstille draussen und drinnen. Schon sind die Schatten herbstlich lang und das Licht silbrig. Den Tag habe ich fast ganz am Schreibtisch versessen, Protokolle verfasst, am Kölner Vortrag gebastelt. Zwischenhinein hat Štefica gekocht, wo die ausgedünnte Belegschaft sich sah und befrotzelte. Morgen früh bringt mich Ivan nach Koprivnica und dann überlasse ich unsere Faxgeräte sich selbst, damit sie die Dialogform unserer Kommunikation vielleicht, vielleicht noch retten können, bis Sonntag. Eigentlich sollte das bisherige sich mit dem Fest förmlich abschliessen; etwa 20 Seiten wird mich das noch kosten; aber dann wissen die Götter, und Du, wies weitergehen soll: thematisch, wegwerflich, auf dem Boden des Zufalls oder nurmehr telefonisch. Oder soll ich die Serie bis zum nächsten Februar durchhalten, oder bis zum Weggang hier? Was denkst Du? Ich spüre, dass ich nur witzig oder geistreich bin, wenn mich der Hafer des Wettbewerbs sticht, oder wenn Zuckerbrot und Peitsche hinter mir her sind. Aber ich will nicht, dass Du Dich quälst, Dir kostbare Zeit absparen musst für meinen unerklärlichen Fimmel, nach dreissig Jahren Schreibfaulheit auf Deine Kosten schwatzen zu wollen wie eine Nachtigall.

Nymph, liebster, noch zehn Tage "Narrenkogel" und ich kann endlich in Deinen Armen verschnaufen. Noch nie war mir diese Zeit so lang und stumpf, was das Innerste angeht. Die Abnutzung meiner Nerven geht umgekehrt proportional zur Zunahme meines Gewichts; so scheint es mir wenigstens und das ist bedrohlich genug: echter Kummerspeck.

Mir fehlen die Spaziergänge in V. oder sonst wo auf der Landkarte mit Dir, die Entdeckungen verborgener Schönheiten und auch die Genüsse gemeinsamen Nichtstuns. Gerade das letztere wagt man hier am wenigsten auszuleben, wird man doch ständig von schlechtem Gewissen gepackt, erlaubt man sich den geringsten heimlichen Verschnaufer. Die Routine des allzu Alltäglichen ist ein weiterer Grund der spirituellen und geistigen Abnutzung. Das Käfigsyndrom ereilt Dich unentrinnbar, wenn Du als Maske nur mit ausgewählten und herzlich geringen Masken verkehrst, auf einer Flohzirkusbühne ohne tieferen Hintergrund. Nicht dass es in B. besonders abgründige und hochzielende Horizonte gäbe, aber doch Bibliotheken, Kinos und Zeitungen, verständliche Sprachen und ungestraft überschreitbare Grenzen...

So, Féderique ein etwas schulmeisterliches bebrilltes, kurzkinniges und rossgeschwänztes Persönchen hat soeben die Schwelle überschritten und schon zweimal gedroht, wieder abzufahren, auch wenn es nicht sonderlich ernst gemeint war. In der Post, hundert Meter vom Schloss, wohin sie sich von der Busstation alleinig durchgeschlagen hatte, rief sie bei uns an, weil man dort nicht wusste, wo das Restauratorski Centar läge. Man kennt es in Paris offenbar besser als im Idiotenhügelgelände vor der Nase!

Vielleicht entführt mich Ivan zu einem von ihm gerühmten Hirn-Mahle, dass er extra im Ludberga für mich kochen lassen wollte; die gestrige Rechnung dürfte uns allerdings noch in den Knochen, bzw. Haxen liegen, uns dahin zu wagen. Und wenn das Ludberger Hirn, dem seiner Bewohner gleicht, bleibt nicht viel Gutes zu befürchten... Aber man soll fast überall auf der Welt das Hirn seiner auch noch so dummen Feinde gegessen haben, um an Geist und Stärke zuzunehmen. Und die ewig präsenten Schweinsgerichte hier erinnern mich daran, dass deren Urheber mir inzwischen unverschuldet spinnefeind sind.
19.30. Jetzt beginnen die Nachrichten (offenbar hat die Nato die Serben endlich an den Verhandlungstisch gebombt); die werde ich mir noch ansehen, bevor ich Dich hoffentlich im Ohr schmeicheln hören kann, um mir das erste gute Gefühl heute zu genehmigen. Lass Dich umarmen und streicheln, kuscheln, knutscheln, küsseln, kabbeln, knabberln, kitzerln, kosen und was alles noch mit "k"....

(110) Ludbreg, Sonntag 10.9.1995; 6.45

Nymph,

in einen authentischen Biedermeierhimmel hat sich Ludbreg geworfen, um mich wohlbehalten wiederzuhaben, nach meiner erzählenswerten Split-Reise, die gestern Abend um zehn am Bahnhof Ludbreg endete, wo ein geduldiger Ivan stand, mich die letzten Meter heimzubefördern.

Es war ein Ausflug in die richtige Welt, buchstäblich in die Weltluft; bin ich doch schon ewig nicht mehr geflogen und vermisste ich seit Jahren das metaphysische Gefühl der Rundheit dieser teils von der Krätze Mensch teils von Einsamkeit befallenen Weltkruste. Innerhalb von drei Tagen wurde ich von den Extremen schnellsten und langsamsten Reisens durchgeschüttelt und spürte deren Widerspruch und deren Relativität: eine halbe Stunde Zagreb-Split, zehn Stunden dieselbe Strecke zurück mit dem mythischen Marijan-Express, der seit wenigen Tagen wieder durchs befreite Gebiet fährt seit es vom Präsidenten mit allem Pomp der Nation geweiht worden war. Was da hinwärts unter mir unschuldvoll wie seit Äonen schlummernd lag, entpuppte sich zurück als ein an Schluchten-, Hochtälern, unendlichen Wäldern, Sümpfen und Steinwüsten reiches Relief, in dem ein mörderischer Krieg gehaust hatte und wo der lepröse Menschenbazillus für Jahrzehnte unauslöschliche Spuren hinterliess.

Die Reise mit Vrkalj war amüsanter als erwartet; er ist ein prächtiger Unterhalter und taute mit zunehmender Vertrautheit auf. Mein Splitbesuch im dortigen Restaurierungszentrum, dem ältesten Denkmalpflegeamt Kroatiens, dessen "Conservator"- Amt der Architekt Vinzenz Andrich mit Berufung des Kaisers seit 1854 bekleidete – er war der Viollet le Duc Dalmatiens!-, deckte sich wunderbarerweise mit Vrkaljs Ferienbeginn, der ihm erlaubte, nach Split zu fliegen und mit mir auf Staatskosten nach Herzenslust zu dinieren. Das taten wir denn auch ungeniert in Form eines lukullischen Fisch-, Muschel-, Gamberi- und Tintenfisch-Essens zum besten Weine Dalmatiens, dessen wir zwei geschlagene Flaschen vertilgten und den Fussmarsch entlang des Molo infolgedessen ebenso wundersam verlängerten. Der Indiskretionen, die meinem losen Munde entschlüpften und die Stinko natürlich begierig investigierte, waren es wohl überdimensional viele, wenn auch mit Humor zubereitet und mit Anekdoten gebührend gesalzen; so werden sie, glaube ich, weniger Schaden anrichten, als im Geschäfts-traintrain der offiziösen Telefonate. Stinko hatte von Ludbreg und unseren Leuten nicht immer zutreffende Eindrücke; so waren ihm meine Richtigstellungen und psychologischen Interpretationen ein Dorado für seine künftige (Di)Gestion des Hauses und wird nicht umhin kommen, stets erst einmal mich, statt Gott, Darvin und Allerwelt umständlich auszufragen, wenn wen wo der Hafer sticht. Natürlich musste ich S. gehörig verteidigen, aus der zweiterer eine Art Teufel geschwärzt hatte, der drittere das Leben zu vermiesen trachtete; nur ersterer weiss warum...

Am Verputz Darvins übte ich mich nicht wenig in Sgrafitto, um das Liebkind ins richtigere Zwielicht zu stellen, allerdings mit der Hoffnung jenem dann in München umsomehr das Fürchten zu lehren.

Nur der Freitag war dem offiziellen Besuch des Denkmalpflegeamtes gewidmet, aber anstrengend genug, da man in mir eine Art Guru sah, der aller Probleme zu lösen verstände; und derselben waren so viele, dass der Werkstattleiter Branko, ein sympathischer, aber von schmerzhafter Halskehre befallener italianisierender junger Mann zu demissionieren drohte, während sein Chef, ein gescheiter, aber vom handwerklichen abgehobener Kunsthistoriker, alles rosa zu färben suchte, ja vor Zeugen versprach, ein restauriertes Kloster in Meeresidylle bereitzustellen, um den Restauratoren das bisan saure Leben süsser zu gestalten. Als Beweis diente ihm das erste Mikroskop, das am selbigen Tage habe angeschafft werden können (!). Die Objekte, die man bisher ohne dieses bearbeitet hatte, waren von allerhöchster Qualität und venezianissimi, so dass mir das Wasser im Munde zusammenlief und ich Ludbreg untreu zu werden...- fast – versprach. Eine Rosselinische Cartapesta-Madonna gemäss der Bernischen war ebenso voller Fragezeichen wie ein Altarretabel des 13. Jahrhunderts, das man zufällig unter dem Chorgestühlboden eines nahen Frauenklosters ausgebaut hatte; man hörte ungläubig von mir, dass ein ebensolches Wunder mit mehrjährigem Vorsprung in Aschaffenburg geschehen. Die Bindungen Split-München und Split-Bern wären somit vorprogrammiert, letztere zusätzlich, als man Doublier- und Heiztischtechniken einzuführen beabsichtigt und nicht die blasseste Ahnung davon hat. Da ich zufällig für alles und jedes Vorschläge und Referenzen besass, muss mein Besuch der Auslöser für ein weiteres somptuöses Fischessen gewesen sein, das mit ebenso gutem Wein in einem Insider-VIP-Restaurant vonstatten ging, wo ich nie erfuhr, was es die Republika Hrvatska wohl gekostet habe.

Unser gemeinsamer abschliessender abendlicher Streifzug durch die malerische Palaststadt wurde ständig durch Begrüssungen seitens mehrheitlich weiblicher Schönheiten unterbrochen, da Stinko hier ein bunter Hund zu sein scheint, obwohl er aus Šibenik stammt; das beruhigte mich, zumal er immer von dieser und jener Freundin berichtete, wo dies und jenes Treffen, Geschehen oder Hörensagen sich ereignete. Selbst die Kultur-Exministerin und der Wissenschaftsrat vom Ludbreger Festsonntag schlenderten unversehens über die Piazza und letzterer verbreitete ein riesiges Erdbeereis übers obligate schwarze Gala-Jackett, in das sich diese Leute tagein-tagaus in Sitzungen und Auftritten werfen (ohne natürlich je etwas Nützliches zu tun). Ein Wolkenbruch wusch ihm wundersam darauf die Glace von der Glacee-Brust, bevor er sich in einen Hauseingang flüchten konnte. Gott schützt hier auch den letzten seiner HDZ-Akolythen!
Samstag früh eilte ich unter peitschenden Wolkenbrüchen zum Bahnhof, wo Hunderte von Pensionären auf eine von Tudjman bis Ende Monat gespendete Gratisreise mit dem Marjan-Express warteten. Hätte mich Stinko nicht am Abend schon mit einem Billett versehen, wäre ich zehn Stunden bis Zagreb im Gang gestanden. Im 18 Wagons plus zwei Diesel-Lokomotiven zählenden Zug reisten stehlings ganze Familien, begierig das befreite Land, zuweilen im Schritttempo, vom Fenster aus zu mustern und jedes verbrannte Haus zu kommentieren. Erstaunt entdeckte ich entlang der Strecke alle Kilometer verlassene improvisierte Unterstände aus Maisstroh, Heu, Zeltstoff, oder Plastiktüchern, jüngste Relikte ungestrafter Unordentlichkeit derer Bewohner, da auch Decken, Kartons, Matratzen, Flaschen und jederlei Picknickreste ungeniert herumlagen: Biwaks von Soldaten, die den Präsidenten auf der enormen Triumphal-Strecke vor etwaigen Attentaten von jenseits der bosnischen Grenze hatten bewachen müssen. Aber auch Schlimmeres lag da am Bahndamm verstreut: zwei überfahrene Kühe und ein Hirtenhund streckten ihre Beine zum Himmel und ein Schaf verendete soeben unter meinen Augen, weil es das Schnaufen der Lokomotive nicht ernst genommen hatte. Das Vieh streunt in den verlassenen Gegenden wohl noch seit dem Feldzug herrenlos durchs Land und der Zug schleicht streckenweise laut pfeifend durchs enge Terrain, wo an neuralgischen Stellen noch umgestürzte Lastwagons und Draisinen liegen, von Panzern plattgerolle Fahrzeuge, gekappte Hochspannungsmasten und zerschossene Autokadaver liegen. Ausgeschmauchte Bahnhöfe mit dächerlosen Dörfern dahinter säumen einst bewohntere Landstriche; sich gewaltig aufspielendes Militär bewacht unsichere Brücken, Tunnel und schwindelerregende Hangabstützungen vor Sabotage; manchmal bleibt der Zug stehen, weil wer Geröll von der Linie räumt, das immerfort nachstürzt, ob so langer Stillegung während der Besetzung, Äste schlagen hin und wieder an die Scheiben, Farne und Gestrüpp wachsen bis unter die Fensterlinie. Monoton und skurril zugleich die Telegraphenmasten, von denen die zertrennten Drähte wie nasse Haarsträhnen hängen, manchmal sind die Pfosten unten halbwegs weggebrannt und ihre porzellanbekränzten Wipfel tanzen im Wind. Die grossen Hochspannungsmasten verbeugen sich grotesk quer durch die Berge; jeden hat man auf Kilometer hin sorgsam gesprengt oder es krümmte ihn das Gewicht der einseitigen Belastung in Richtung Serbien. An vielen hohläugigen Ruinenwänden stehen noch hasserfüllte Parolen und die eigentlich aus vortitoistischer Zeit stammenden Kreuz-Symbole in kyrillischer Spray-Schrift30, die übertünchten Strassenmarkierungen, zersiebte Blechschilder, aus den Häusern gefetzter Hausrat unter modernden Balken und Ziegeltrümmern. Nur die Landschaft liegt mit strahlender Unschuld und fliehenden Horizonten, dramatischen Silhouetten einsam und von wildester Natur überwuchert, von Kurve zu Kurve neue, überraschende Ausblicke erlaubend, ein Wildwest wie einst im Blickfeld der Kolonen Amerikas. Man kletterte den Rand der Bergzüge hinan, die noch von mediterraner Kultur zeugen: Oliven, Feigen, Wein und Birnen, wilde Rosen, Pinien, und Zypressen; sie wurden in den letzten Jahren von duftender Macchia überzogen, die Zeichnungen der einstigen Felder verwischend, erkennbar oft nur dank des Wechsels der Wildblumenarten, die sich auf ihnen ansiedelten und nur haltmachend vor dem Gitter der omnipräsenten Steinmäuerchen, die Dalmatien überziehen wie eine geometrische Runzelhaut. Dann gehn die seit langem unbebauten Hänge über in steiniges und karges Weideland von Ziegen und Schafen, welche Weiblein in pummeligen Rockschössen und Kopftüchern, mit dem Spinnrocken unter dem Arm, wie seit Jahrhunderten bewachen. Es folgen, nach den ersten Bergkämmen und Kuppen, koniferische Mittelmeerwälder, oft mutwillig niedergebrannt, in denen sich einst schon die Bogumilen vor den mörderischen Kreuzheeren verbargen, schliesslich Hochwälder und Hochtäler mit rötlichbraunen Farnen bewachsene, sonst strohgelb getrocknete Matten, hier Sümpfe, dort felsige Bodenwellen, Schluchten und karstige Massive ohne Ende. Später erscheinen die ersten Birken, Tannen und das Heidekraut, die Eichen werden grösser, Buchen verdrängen Akazien, die Poljes begrünen sich und nach acht Stunden ist auch das Licht wieder ludbregisch-kontinental – und entsprechend verregnet. Ist die Gegend von den Menschen so gut wie ganz verlassen, so zeugt in den Gehöften, wohin sie inzwischen zurückkehrten, ihr Tun von Überlebenseifer und Hartnäckigkeit: noch ohne Dach rauchts schüchtern aus blechummantelten Kaminen, häufen sich die ausgekehrten Innereien im Weichbild ihrer eingefallenen Ställe und Gehege, ziehen Elektriker provisorische Drähte, bringen Zisternenwagen Wasser, erntet man den wildgewachsenen Wein von im letzten Lustrum arg verkümmerten Reben. Nahe der Bahnhöfe hat man hin und wieder Containerdörfer abgestellt, die Bauern und Beamten zurückzulocken, Ziegelpakete stapeln sich, wo neues Leben aus Ruinen wächst, alte, sorgsam freigekratzte, oder fabrikneue, in Kuben gebündelt auf staatsgeförderten Paletten. Kehrt die Zivilisation zurück, sind nur noch vereinzelte Häuser zerstört, die Gärten bestellter, der Zug fährt unbewacht schneller und ab Ogulin rückwärts, weil von da an die Linie elektrifiziert ist, ja streckenweise taucht ein zweites Schienenpaar aus dem Gestrüpp und blinkt benutzter.

In Knin wehte die vom Fernsehen so notorische Fahne von der Burg, standen ausgebrannte und zerschossene Wagons herum, gekaperte Zisternenwagen aus Belgrad, und man begann, den näheren Umkreis zu elektrifizieren; noch waren die präsidentgrüssenden Gebinde nicht ganz verblüht und standen die bewimpelten Blumenkästen in militärischer Gardefront, aber die Soldaten hingen dafür alltagsmüde herum oder becherten singend in der Bahnhofschenke.

In Zagreb, wo es aus Kübeln regnete, fand ich Mirela nicht im Telefonbuch und wartete, endlich auch etwas essend, zwei Stunden auf den letzten Zug, der mich direkt nach Ludbreg in Ivans treue Blechkiste brachte. Wie anders ist ein Regen in Split als ein solcher in Ludbreg! Dort nimmt man ihn kaum für seriös und flieht mit seinem beschlagenen Weinglas unter der soeben noch sonnenschützenden Markise erst ins Lokalinnere, wenn ein Windstoss die Korbsessel und zerschellenden Flaschen über den Platz fegt, wie gehabt unter dem Gelächter noch sommerlich wenig betuchter Passanten; hier schaudert man, schon in Mäntel gehüllt, von Randstein zu Randstein und seufzt über den endgültig verlorenen Sonnenschein. Dort, im Konventgarten der Denkmalpflege, schnarrten die Zikaden noch ihr eintönig Lied, hier sammeln sich verdächtig die Schwalben auf den Telegraphendrähten. Eine Pfütze in Split macht "split!" eine in Ludbreg "schplotsch!" und sprechen doch beide dasselbe kroatisch!

Aber auch der Menschenschlag ist diametral verschieden: dort extrovertiert, lärmig und gesellig, ja um Grade schlanker, hübscher, beweglicher, hier bäuerlich, plump, verschlossen, fettleibig und langsam. Trinkt man hier vornehmlich Bier in der verschwelten Schenke und klare Alkoholika, ist dort der Wein und leichtes Getränkel an stehender Theke oder im Terrassenstühlchen die Regel. Selbst die allgegenwärtige Musik scheint mir dort weniger aufdringlicht als hier, wo sie jede Konversation verunmöglicht und zum blinden und taubstummen Trinken geradezu zwingt.
16.35. Zurück vom mehrgängigen Mittagstisch unter Ivans Verandadach, von ähnlicher Spasshaftigkeit wie im Februar des Jahres. Diesmal hatte unser Alterchen von Heidelberg geträumt (wo er kaum je gewesen sein wird), ein Vermögen und selbst die Frauen verspielt, aber dann einen Lipizzaner-Vierspänner gewonnen, den er gegen einen roten Kabriolett-Sportwagen tauschte, um im Triumphe in Ludbreg einzufahren. Es entfuhr ihm ein Jahrhundertseufzer und er fragte, wie viele Frauen durchzubringen es mir vergönnt sei, denn der hiesige Chemiekonzernbesitzer und Schnapsbrenner Kaiphas oder ähnlich habe deren fünf, die monatlich abwechselnd bei ihm wohnten und für deren fünf Töchter er ein Vermögen an Alimenten ausgäbe. Schöne Zustände hier, im katholischen Ludbreg!
Für heute einen Verschnaufpunkt. Faun.

(111) Ludbreg, Montag 11.9.1995; 6.50

Nymph,

ich bereite schon mal den neuen Tag vor (obiges ist also nur eine Hypothese), während mich die Müdigkeit von gestern überholt; die Woche wird sicher so mühsam, wie sie hoffnungsvoll ist; ich kann ihr Ende kaum erwarten.
6.05. Unruhe trieb mich aus den Federn; noch ist der Himmel rosa übergossen und die Sonne hinter dem Horizont beim Morgenkaffee. Ich lese ein wenig in Deinen Briefen; so früh braucht man sich keinen erfundenen Pflichten hinzugeben; auch wenn der Zug geschäftig vorbeidröhnt, schon allerhand Mensch am Wohnhaus nahe Holyland baut, als gelte es, vor dem Winter noch einziehen zu können.
Sie sind köstlich, Deine Briefe, da sie so selten werden, habe ich Musse, sie wieder und wiederzulesen; allerdings ein konstruierter Trost: habe ich doch die Ehre die Widerstände meines Nymph gegen den trostvollen Nachschub mit dem Thema der Video-Art zu teilen. Nur landet das Seminar-Elaborat dereinst in einer spinnennetzverhangenen Schublade, dessen Inhalt nicht minder vergessen sein wird, als Deine ungeschriebenen Briefe. Aber ich muss mich hüten, Dich zum Schreiben anzufeuern; es würde in Dir einen heimlichen Trotz dagegen entzünden, der schlimmer wäre. als meine Ungeduld, auf ein Wort von Dir zu warten. Ich überlegte mir heute früh, ob ich uns etwa ein Telefonverbot auferlegen sollte, um über diese Hintertür ein gelettertes Wörtchen von Dir zu erpressen. In der Tat werden die Gespräche immer länger, aber meine Telefonhemmungen weder durch Übung noch durch Disziplin gemildert: regelmässig wenn ich den Hörer aus der Hand lege, erinnere ich mich an dies und das, was ich eigentlich hätte sagen sollen und wollen. Meine Worte sind beschämend belanglos, dank jener unerklärlichen Scheu und Aufregung die mich bei jedem Gespräch mit jeder beliebigen Person befällt und sich bis zur Panik steigern kann, ist letztere etwa noch problemhaft mit mir verknüpft. Regelmässig befällt mich nach einer nahegehenderen Aussprache eine lähmende Müdigkeit, ja fast Verzweiflung darüber, mich nicht absichtgemäss ausgedrückt zu haben. Mit wildfremden Personen kann ich völlig gelöst verkehren; je näher sie mir sind, um so mehr steigert sich jene Spannung, der ich durch Kürze oder Sachlichkeit zu entkommen suche; Trauer, Wut und Enttäuschung über diese Hemmung sind jeweils die Folge. Vielleicht ist mein oft unbändiger Drang Dir zu schreiben mitunter durch diese heimliche Qual ausgelöst. Anderseits bin ich der erste, der Deinethalben um den Apparat herumtigert und auf ein Zeichen wartet, mehrmals am Tage der Versuchung nicht widerstehen kann, den Hörer abzuheben, zu wählen und wieder aufzulegen; der diese Nabelschnur für unverzichtbarer hält, als Essen und Schlafen.
7.15. Der obigen langen Rede kurzer Sinn wird sein, dass ich bis zum kommenden Samstag nurmehr mit Dir telefonieren sollte, als schreiben, weil ich endlich meinen Pflichten nachkommen müsste, derer sich nun solche Berge ansammeln, dass ich kaum noch ruhig schlafen kann. Ja, ich bitte Dich, mir das Schreiben für die nächsten Tage förmlich zu verbieten; am liebsten schriftlich(!!!), signiert und gesiegelt.
18.15. Bester Nymph; welch ein Tag! Mein Fotomaterial aus Split, München und Zagreb erhalte ich erst Samstag früh und das unsere ist zum Teil mehr als miserabel und lückenhaft. Ich weiss nicht, was da alles kommen wird und eine Wahl kann ich dann erst in B. treffen. Wenigstens ist der Text, den man eventuell für die "Maltechnik" nutzen will, demnächst fertig. Ich versuche, Samstag mittag loszubrausen und wäre also zum Abendessen in trauter Zweiheit bei Dir; auf Dich einen Tag lang verzichtet zu haben, ist jedoch schändlich genug!

Stefan musste man im Grenzdorf Ormoz abholen, weil ein idiotischer Schaffner ihn in einen falschen Zug setzte. Man räumte die Ausstellung ab und will die Werkstätten neu organisieren, weil Blagaj die hintersten Säle vervollständigt. E. hat ihm 35000 DM zugeschanzt und nun wird’s wohl wieder Staubwolken geben und die Wände wackeln.

Nymph, lass Dich umarmen und denk ja nicht etwa daran, mir... oder vielleicht doch?

Faun.

(112) Ludbreg, Dienstag 12.9.1995; 6...

Nymph,

19.45, aber noch gestern; die Zeit bis zehn nur am Fernsehen zu vertändeln widersteht mir, also erlaube ich mir, noch ein wenig zu tasteln. Die Nachrichten bringen ohnehin nur die monotonen Berichte von den pausenlosen Natoangriffen, deren Kosten kaum den Nutzen aufwiegen dürften, denn sollte Bosnien einmal frei sein, muss es alle seine Brücken und die gesamte Infrastruktur wiederaufbauen. Ich frage mich, ob das Gebombe nicht sorgfältiger auf strikt militärische Ziele ausgerichtet werden könnte. Der politische Schaden ist nicht abzusehen, wenn das so weitergeht. Die Kroaten lachen sich natürlich ins Fäustchen, bahnt man ihnen doch unaufhaltsam den Weg nach Vukovar. Man munkelt, dass die Befreiung noch heuer stattfinden werde und ohne sonderliche Nachhilfe Europas.
Fast jeden zweiten Tag wird eine neue Kirche, Kapelle oder religiöse Gedenkstätte im Lande geplant, gegründet, eingeweiht; Kardinal Kuharić eilt von Feier zu Feier, schaufelt, weihwedelt, liest Messen ohne Unterlass. Das Volk deliriert in seiner Gläubigkeit, sammelt Unsummen, strömt in die Fallen der mir alles andere als geistig scheinenden Geistlichkeit. Der Ungeschmack feiert Urstände und kaum ein Projekt hat eine künstlerische Note. Holyland im ganzen Land. Dazu der Schulterschluss zwischen Militär und Klerus wie im Mittelalter: heute brachte uns gar ein Militärhauptmann ein grausiges erzangelisches Ungetüm von 19.Jh.-Fetzen, einen Triangel zu beseitigen, für die nächste Michelstag-Messe am 29. September müsse es sein; wohl Fahnenweihe und Trara Tataratii!

Ivans Portraitgalerie von des Hauses neun Musel-, Grusel-, oder Musenmännern hängt noch immer kopfunter; eigentlich reizvoll; zumindest origineller als Baselitz. Wir haben uns so dran gewöhnt, dass niemand daran denkt, sie wieder umzudrehen. Besucher pflegen auf Händen wieder aus dem Schloss zu gehen...

Auf Dein Gitarrespiel werde ich immer neugieriger; bewundernswert mit welcher Disziplin Du Dein tägliches Pensum übst; wenn ich denke, wie lange das Instrument in der Ecke stand und nicht den Anschein machte, je wieder in Gebrauch zu kommen! Was hat Dich eigentlich dazu bewegt? Doch kaum das nurmehrige Hören einer Flamencomelodie am Radio! Hier hat Stefan seine Wanderklampfe mitgebracht und wird wohl bald mit Ivan um die Wette musizieren; das beschwingt uns den Trott der Tage, die ohne Ivans Wein und Željkos Menüs recht fad geworden sind (Vrkalj erlaubte uns wenigstens, dass Štefica künftig für uns kocht; ich machte ihm weis, wie wichtig, kathartisch und harmonisierend ein rituales Mittagessen für unsere "Familie" sei; zwei Stunden Staubes mehr könne das Haus verkraften. So war er’s denn zufrieden, wenn’s nicht einen Heller zusätzlich kosten würde...).
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