Evangelisches Gemeindelexikon



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Soziale Frage

  1. DIE S.F. IM ZUSAMMENHANG DER INDUSTRIEL­LEN REVOLUTION

Als s.F. bezeichnet man zusammenfassend den mit der europäischen industriellen Re­volution des 18. und 19. Jh.s verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und gei­stigen Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Situation der vorindustriellen Gesellschaft kann durch überwiegend von der Landwirtschaft bestimmte Struktur, ständische Ordnung und zentrale Stellung einer meist geheiligten Tradition gekenn­zeichnet werden. Mit der industriell-arbeits­teiligen Fabrikproduktion, die Handwerk und Manufaktur als den bisher überwiegen­den Produktionstyp ablöste, änderte sich das gesellschaftliche Gefüge radikal (»Revolu­tion«). Wesentliche Kennzeichen der indu­striellen Gesellschaft sind neben der me­chanisierten Fabrikproduktion: Verstädte­rung, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt, Änderung von Stellung, Form und Funktion der —> Familie, Expansion von Handel und Gewerbe, Verwandlung der Mehrzahl der Bevölkerung in unselbständige Arbeitneh­mer, Untergliederung der Arbeitnehmer­schaft in verschiedene Schichten wie Ange­stellte und Arbeiter, soziale Mobilität (ge­sellschaftlicher Auf- und Abstieg), Demo­kratisierung und Bürokratisierung. Der sich in relativ kurzer Zeit vollziehende Umbruch führte zu erheblichen Krisensituationen.

Arbeitslos gewordene Handwerker, Bauern und Landarbeiter strömten in die neu ent­stehenden großstädtischen Industriebezir­ke. Dem bisherigen Ordnungsgefüge und der damit verbundenen sozialen Sicherung ent­rissen, war dieses Industrieproletariat ge­zwungen, seine Arbeitskraft gegen mini­male Bezahlung zu oft unmenschlichen Be­dingungen (z.B. Kinderarbeit) bei fehlender sozialer Sicherung an die privaten Produk­tionsmittelbesitzer zu verkaufen. Es ent­standen große gesellschaftliche Widersprü­che und Spannungen. Denn im Gegensatz zu Demokratisierung und sozialer Mobilität als den Voraussetzungen und Kennzeichen der industriellen Gesellschaft verfestigte sich durch Vergrößerung des Kapitalbesitzes der Unterschied zwischen den Privateigentü­mern an Produktionsmitteln und dem ab­hängigen Industrieproletariat. Die soziale Lage der Arbeiterschaft bildet deshalb das Kernproblem der s.F. Heute geht der Streit darum, ob in einem sozialen und freiheit­lich-demokratischen Rechtsstaat die Klas­sengegensätze prinzipiell überwunden seien oder ob es dazu des Alternativmodells des —> Sozialismus bedürfe.



  1. KIRCHE UND S.F.

Der häufig zu hörende pauschale Vorwurf, die Kirche habe angesichts der s.F. versagt, wird den geschichtlichen Vorgängen nicht gerecht. Die offizielle Amtskirche freilich verhielt sich insgesamt passiv. Es kam zu ei­ner weitgehenden Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft. Der entschei­dende Fehler von Kirche und Theologie an­gesichts der s.F. lag aber nicht auf karita­tivem, sondern auf theologischem Gebiet. Die Amtskirche war von ihrer geschichtli­chen Verfassung und ihrem Selbstverständ­nis her ganz in die ständische Ordnung ein­gegliedert. Der durch die industrielle Revo­lution bedingte Verfall der ständischen Ord­nung und die mit den neuen Klassengegen­sätzen verbundene Not, wurden als Abfall von der göttlichen Natur Ordnung interpre­tiert, umso mehr, als er auch die traditio­nelle gesellschaftliche Position der Kirche unterhöhlte. Mit Hilfe der Ordnungstheolo­gie wurde die ständische Gesellschaft zum gottgewollten Normalfall von Gesellschaft erklärt. Eine Heilung konnte man nur im Zurück erblicken. - Ganz anders verhielten sich einzelne Christen und Gruppen, die von der -> Erweckungsbewegung (z.B. J. H. -»■ Wiehern 1808-1881, Chr. Blumhardt 1842-1919) her kamen und aufgrund einer lebendigen —> Reich-Gottes-Hoffnung für die Zeichen der Zeit und die Zukunft aufge­schlossen waren. Wenn die Bindung der da­maligen Amtskirche an die ständische Ge­sellschaft auch in diesen Kreisen nicht im­mer ganz durchschaut wurde, so war man sich doch dessen bewußt, daß man un­glaubwürdig wird, wenn man den Armen das Evangelium verkündigen will, ohne ihnen zuvor in ihrer materiellen Not geholfen zu haben. Des weiteren hatte man erkannt, daß es nicht nur kirchlich-karitativer Hilfe, son­dern ebenso staatlich-struktureller Gesell­schaftsreformen bedarf, um die Not zu be­heben (vgl. Wicherns berühmte Programm­rede zur —»Inneren Mission auf dem Witten­berger Kirchentag 1848). Da sich die verfaßte Kirche abseits hielt, wurden freie —» Vereine und Kongresse zur normalen Organisations­form christlich-diakonischer und -sozialpo­litischer Arbeit. Auf dieser Basis konnten die Gesellschaftsstrukturen zwar nur indirekt, z.B. über die Sozialgesetzgebung, beeinflußt werden, jedoch ist der moderne Sozialstaat zweifellos nicht ohne die Impulse aus der christlichen —> Diakonie denkbar.

Lit.: G. Brakeimann, Die s.F. des 19. Ih.s, 1975S — ders., Kirche, s.F. und Sozialismus, Bd. 1: Kirchen­leitungen und Synoden über die s.F. und Sozialis­mus 1871-1914, 1977 (mit Bibliographie) -



  1. SXandes, Der entfesselte Prometheus. Techno­logischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, 1973

Mayer

Sozialismus

1. BEGRIFF

Unter S. im weitesten Sinne versteht man eine Lehre, die größere soziale Gerechtigkeit in der Verteilung des Besitzes und des Ein­kommens fordert. Der S. bildet damit einen Gegensatz zum Liberalismus. Während der Liberalismus das Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen durch freie Entfaltung der einzelnen in einer gut funktionierenden Konkurrenzgesellschaft bei einem Mini­mum staatlicher Regulative erwartet, macht der S. gerade dieses Konkurrenzsystem mit seinen ungleichen Ausgangschancen (z.B. durch kapitalistische Produktionsweise, Erbrecht) für die Unfreiheit der Bevölke­rungsmehrheit verantwortlich und will den wirtschaftlichen Prozeß durch bewußte Planung zum Wohle aller steuern.

S. darf nicht mit Kommunismus verwech­selt werden. Während die Zentralidee des Kommunismus die allgemeine Güterge­meinschaft, also die Abschaffung des Privat­eigentums ist, will der S. das ->• Eigentum beibehalten, fordert vielmehr eine andere, gerechtere Verteilung des Eigentums. Zen­tralidee ist die des genossenschaftlichen Ei­gentums, vor allem an unbeweglichen Gü­tern.

Karl Marx (1818-1883) jedoch hat S. und Kommunismus in der Weise verbunden, daß er S. zur Vorstufe des Kommunismus erklär­te, zur ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft nach der proletarischen Revo­lution. Seither herrscht Begriffsverwirrung. Während sich heute im Ostblock für den Marxismus-Leninismus die Bezeichnung »Wissenschaftlicher Kommunismus« durchgesetzt hat, sprechen die in westlichen und neutralen Ländern beheimateten Kommunisten weiterhin vom »Wissen­schaftlichen Sozialismus«. Daher muß bei

der Rede über den S. immer zurückgefragt werden, ob und inwieweit die marxistische Ideologie vorausgesetzt wird.

2. VERTRETER SOZIALISTISCHER IDEEN VOR MARX



werden frühsozialisten genannt. Zu ihren führenden Köpfen zählten u.a. der französi­sche Graf Claude H. Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Robert Owen (1771-1858). Ihr soziales Engagement speiste sich aus radikal-demo­kratischen, moralisch-humanistischen und christlichen Motiven, verbunden mit dem Fortschrittsoptimismus der —» Aufklärung. Aufgrund der genannten Begriffsverwirrung werden oft auch Frühkommunisten als Frühsozialisten bezeichnet. Die wesentlich ältere Bewegung des Frühkommunismus kann von der persischen Sekte der Mazdaki- ten (um 500 n.Chr.) über die mittelalterliche Sekte der Patarener, die Wiedertäufer der Reformationszeit bis zur Französischen Revolution verfolgt werden. Hervorragende Köpfe waren u.a. Francois N. Babeuf (1760-1797), Louis A. Blanquij 1805-1881), Wilhelm Weitling (1808-1871) und Etienne Cabet (1788-1856). Ihnen allen war die Idee eines goldenen Zeitalters gemeinsam, das nicht nur, wie im griechischen Mythos, am Anfang der Menschheitsgeschichte steht, sondern an den Horizont der Zukunft proji­ziert, zum politischen Ziel erklärt wird und mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, anzu­streben ist.

Frühkommunismus war immer eine Ange­legenheit von sektenhaften Zirkeln. Er ist seiner Herkunft nach der agrarischen Kul­turstufe zuzuordnen. Der Frühsozialismus dagegen war Ergebnis der industriellen Re­volution, er wollte eine Antwort auf die —» soziale Frage geben und wurde sehr bald zu einer Massenbewegung. Die politische Tak­tik von Marx bestand darin, seiner kommu­nistischen Überzeugung durch den An­schluß an die sozialistische Massenbewe­gung die notwendige Durchschlagkraft zu geben und dennoch zugleich die sozialisti­sche Idee gegenüber der kommunistischen abzuwerten, indem er sie zur Vorstufe des Kommunismus erklärte.

Seit Marx ist der S. mit den Ideen des —» Mar­xismus verwoben. Es gab immer wieder Ver­suche, diese Klammer aufzubrechen. Vor al­lem Eduard Bernstein (1850-1932) hat den S. auf die evolutionär-demokratische Praxis konkreter Reformarbeit zurückführen und von der marxistischen Utopie mit ihrer revo­lutionären Praxis lösen wollen. Ähnliches beabsichtigt auch der »demokratische Sozia­lismus«, der an die Stelle der einmaligen pro­letarischen Revolution die stete Reformar­beit im Bick auf Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde setzen will. Diese Haltung wird von marxistischen Sozialisten und Kommunisten als »Revisionismus« verwor­fen.


  1. CHRISTENTUM UND S.

Versteht man S. im weitesten Sinn als ein Engagement für größere soziale Gerechtig­keit, so lassen sich sozialistische Ideen nicht nur ohne weiteres mit dem christlichen Glauben verbinden, sondern folgen geradezu aus diesem. Speiste sich schon der Frühso­zialismus z.T. aus christlichen Motiven, insbesondere bei Philippe J. B. Buchez (1796-1865) und Pierre Leroux (1797-1871), so findet man nachmarxi­stisch eine Verbindung bei Christoph —» Blumhardt (1842 -1919) und bei der Schwei­zer »Religiös-sozialen Bewegung«, die von Leonhard Ragaz (1868-1945) und Hermann Kutter (1863-1931) getragen wurde und auch Karl Barth (1886-1968) beeinflußte. Blumhardt war von 1900-1906 Abgeordne­ter der damals als atheistisch geltenden So­zialdemokratischen Partei im Württember- gischen Landtag. Er sah im S. ein »Feuerzei­chen« des sich nahenden —» Reiches Gottes, das der christlichen Gesellschaft Gericht ankündigt. »Und wenn die christliche Ge­sellschaft sich einem Gericht gegenüber­sieht, so möge sie nicht trotzen, sondern sich besinnen, was ihr von Wahrheit entgegen­tritt. Ja, es ist Wahrheit, daß der Geiz die Wurzel alles Übels ist.« In seinen späteren Jahren lebte Blumhardt zurückgezogen und bekannte sich zu der Einsicht, daß »das All­umfassende des S. in Christus, der allen Menschen gleich hoch gegenübersteht« iii der Gegenwart keinen »Boden zur Verwirk­lichung« habe.

Ragaz und Kutter knüpften an das realisti­sche Reich-Gottes-Verständnis Blumhardts an, vor allem Ragaz ging aber in der Verbin­dung von Christentum und S. insofern einen Schritt weiter, als er meinte, auf dem Wege über die Vereinigung von Christentum und S. werde sich das Reich Gottes verwirkli­chen. An dieser Stelle wird die Verbindung von Christentum und S. problematisch, weil vom Menschen her vorgeschrieben wird, auf welchem Wege Gottes Reich in die Welt kommt. Sie wird weiterhin auch dann pro­blematisch, wenn die Verknüpfung mit ei­nem von der marxistischen Ideologie abhän­gigen S. versucht wird. Während sowohl der »Bund der religiösen Sozialisten Deutsch­lands« (1924 -1933) wie der »Bund religiöser Sozialisten« (gegr. 1948 in Kassel) Christen­tum und marxistischen S. als eigenständige Größen ansehen, die sich lediglich gegensei­tig ergänzen, indem der S. der Kirche seine Ziele als geeignete Mittel zur Realisierung des Willens Gottes verdeutlicht und umge­kehrt das Christentum der sozialistischen Bewegung sittliche Kräfte zuführt und den Hoffnungshorizont lebendig erhält, erstrebt die internationale Bewegung »Christen für den Sozialismus«, die 1971 von Chile aus­ging, nach den Worten Dorothee Söll es eine direkte Verknüpfung von Christentum und S. als »neue christlich-sozialistische Identi­tät«. Bei Solle wird S. im Sinne des Marxis­mus verstanden und das Christentum ideo­logisch umgedeutet. Wie weit das für alle oder den überwiegenden Teil der »Christen für den S.« gilt, läßt sich heute noch nicht überblicken. Die Differenz zwischen Christentum und einem marxistisch ver­standenen S. bezieht sich vor allem auf das Menschenbild und die Zukunftserwartung. Während der vom Marxismus abhängige S. einen persönlichen Gott ablehnt und glaubt, wenn man die Gesellschaft ändere, würde auch der Mensch neu werden und mit ge­schichtlicher Notwendigkeit aus menschli­cher Kraft ein innerweltliches kommunisti­sches Friedensreich entstehen, weiß das Christentum, daß der Mensch nur durch die Vergebung und den Glauben an Jesus Chri­stus neu werden kann. Seinen Impuls zum Handeln schöpft der christliche Glaube aus der Erwartung des Reiches Gottes, das weder bloß zukünftig noch bloß jenseitig ist, je­doch nicht durch menschliche Anstrengung herbeigeführt werden kann, sondern allein durch Gottes schöpferischen Eingriff in die Weltgeschichte entsteht.

Lit.: G. Bartsch, Kommunismus, S. und Anarchis­mus. Wurzeln, Unterschiede und Gemeinsamkei­ten, 1976 - A. Pfeiffer (Hg.), Religiöse Sozialisten (mit Bibliographie), 1976 - J. M. Lochmann, Chri­stus oder Prometheus? Die Kernfrage des christlich-marxistischen Dialogs und die Christo­logie, 1972 - Christen für den S., Bd. 1 Analysen, Bd. 2 Dokumente, 1975

Mayer


Sozialismus, Religiöser

Religiöser Sozialismus (r.S.) - Gesamtbe­zeichnung für die im 19. Jh. in Europa und den USA aufkommenden Bestrebungen zur Überwindung der zwischen Christentum und sozialer Bewegung entstandenen Ent­fremdung. In den USA suchten die Kongre­gationalisten Washington Gladden (Applied Christianity, 1887) und Josiah Strong, der Unitarier Peabody (Jesus Christ and the So­cial Question, 1900) und vor allem der —» Baptist Walter Rauschenbusch (Christianity and the Social Crisis, 1907; Christianizing the Social Order, 1912; Theology of the So­cial Gospel, 1917) den religiösen Individua­lismus der Erweckungsfrömmigkeit zu überwinden und die Frohbotschaft als »so­ziales Evangelium« zu verstehen. - In England begründeten F. D. Maurice (1805-1872) und Ch. Kingsley (1819-1875) einen christlichen Sozialismus. - In Frank­reich waren im 19. Jh. Saint-Simon (1760-1825) Lamennais (1782-1854) Vor­läufer, im 20. Jh. Fallot (La religion de la soli- darite, 1908), Gounelle (Les principes reli- gieux essentiels du christianisme social, 1900) und W. Monod (L'Eglise peut-elle don- ner une äme ä la societe des nations?, 1936) Vertreter eines r.S. — Angeregt durch den schwäbischen Pietisten Chr. —» Blumhardt bildete sich in der Schweiz die r. s. Bewegung unter Führung von Kutter (Sie müssen, 1903), Ragaz (Das Evangelium und der so­ziale Kampf der Gegenwart, 1906) und an­fänglich Karl -> Barth, E. Thurneysen u.a. Der r.S. konnte vor allem in Gebieten mit re­formierter Tradition Fuß fassen und an den Gedanken von der Herrschaft Christi über die ganze Welt anknüpfen. Hinzu kommt das Verständnis des -> Reiches Gottes als ei­ner diesseitigen sittlichen Größe (vgl. A. Ritschl). Ein dynamisches Offenbarungsver­ständnis ermöglicht es dem r.S., ein positi­ves Verhältnis sogar zum atheistischen -» Sozialismus zu gewinnen: wenn auch Gott sich entscheidend in Jesus offenbart hat, so ist seine Selbsterschließung in der Ge­schichte damit nicht abgeschlossen, son­dern findet ihre Fortsetzung in Reformation und sozialer Bewegung der Gegenwart. Auch wo sich Marxisten als Atheisten gebärden, gilt: Jesus ist Sieger! Nach 1918 bildeten sich in Deutschland drei r.S. Gruppen: in Baden der »Volkskirchenbund ev. Sozialisten«, in Berlin der »Bund rel. Sozialisten« und der

Kölner r.S. Arbeitskreis. Diese Gruppen schlossen sich 1924 zur »Arbeitsgemein­schaft der Rel. Sozialisten Deutschlands«, 1926 zum -» Bund der Relig. Sozialisten Deutschlands« zusammen (Ztschr. Der rel. Sozialist; seit 1949: Christ und Sozialist). In Deutschland traten theologisch führend hervor der Sozialethiker G. Wünsch und P. Tillich (1886-1965; Religiöse Verwirkli­chung, 1930; Die sozialistische Entschei­dung, 1933 (eingestampft!) und 1948). Die öf­fentliche Wirkung war zunächst gering, da sich die Dialektische Theologie Barths u.a. gegen eine Gleichsetzung weltlicher Pro­gramme mit dem Reiche Gottes wandte und politisch der —» Marxismus vom National­sozialismus verdrängt wurde. Jedoch in der Arbeit der -» ökumenischen Bewegung und nach 1945 in der -» Ev. Kirche in Deutsch­land (Ev. Kirchentag, Ev. Akademien) sowie in der Aufgeschlossenheit der Sozialdemo­kratie für christliches Gedankengut (Godes­berger Programm von 1959) hat sich r.S. Ge­dankengut durchgesetzt. Seit 1976 entfaltet der Bund der R.S. Deutschlands wieder eine regere Wirksamkeit. Der »Internationale Bund der R.S.« hat seinen Sitz in Bent- veld/Holland. - Auch in der Katholischen Kirche gibt es seit 1929 Ansätze einer r.S. Bewegung (Kath. Arbeitsgem. im Bund der R.S., Organ »Das Rote Blatt« der kathol. So­zialisten; Arbeitsgemeinschaft sozialisti­scher Katholiken in Wien).

Lit.: Art. Rel.-sozial. Bewegung, Sozialismus II. in RGG, 3. Aufl. 1961 f. - H.-J. Birkner, R.S., in: W. Schmidt (Hsg.), Gesellschaftl. Herausforderung des Christentums, 1970, S. 29-38, G. Ewald (Hg.) Re­ligiöser Sozialismus, Urban Taschenbücher (T- Reihe) r977

Schrey

Spätregenbewegung -» Perfektionismus III



Spener —» Pietismus III. a Spiritismus -» Aberglaube 7.

Spiritualismus

Der Spiritualismus, dessen Vorläufer in der mittelalterlichen Mystik zu suchen ist, trat greifbar, jedoch nicht einheitlich, in der Reformation auf. Thomas Müntzer, Hans Denck, Sebastian Franck und Caspar v. Schwenckfeld sind seine Hauptvertreter. Das Luthertum kennt spiritualistische Ein­flüsse, die über Valentin Weigel und Johann Arndt bis zu Jakob Boehme und dessen Schü­lern und schließlich bis zum —» Pietismus reichen. Im deutschen Pietismus haben vor allem Gottfried Arnold, aber auch die »wah­ren Inspirationsgemeinden« und andere re­ligiöse Individualisten dem S. nahegestan­den oder ihn repräsentiert, im englischen Puritanismus waren die Hauptvertreter die —> Quäker. Die —> Erweckungs- und —> Ge­meinschaftsbewegung hat vielfach spiritua- listisches Gut bewahrt. - Grundlegend für den S. ist das Gegenüber von Äußerlichem und Innerlichem. Wirklich ist nur das vom Geist (Lateinisch: spiritus) Hervorgebrach­te, das mit der »Welt« in eine solche Span­nung gerät, daß beide Bereiche auseinander­brechen. So entsteht eine dualistische Schau, die der äußerlichen »Mauerkirche« die innere »Geistkirche«, den äußeren —> Sakramenten den inneren Glauben, dem Buchstaben den Geist, dem geschichtlichen Jesus den inwendigen, im Herzen wiederge­borenen Christus gegenüberstellt. Die Kir­chengeschichte kann nicht anders als ein Prozeß fortlaufender Verweltlichung bzw. als Verfall verstanden werden. Der Gegen­satz von Buchstaben und Geist fördert im S. den Abbau der Autorität der Bibel entweder durch »geistliche«, d.h. typologisch-allego- rische Auslegung oder durch neue Geistof­fenbarungen (inneres Licht oder inneres Wort), die entweder der Bibel zur Seite oder an deren Stelle gesetzt werden. Die Ableh­nung der Kirche und der Sakramente kann zur Separation oder zur »inneren Emigra­tion« aus der Kirche führen. - Eigentliche spiritualistische Gemeindebildungen gab es nicht, da dies wiederum äußere Ordnungen nach sich ziehen müßte. Auch die Schwenckfelder, die Inspirationsgemeinden und die Quäker bilden keine Ausnahmen. Die ersteren waren ursprünglich reine Lese­gemeinden, die sich erst nach ihrer 1734 er­folgten Auswanderung nach Pennsylvanien zu einer kleinen selbständigen Kirche ent­wickelten. Die wahren Inspirationsgemein­den waren stets um inspirierte Propheten versammelt; jedoch ist diese Gabe in ihren Reihen seit geraumer Zeit ausgestorben, weshalb sie nur Lesegottesdienste durchfüh­ren (heute in Amana-Kolonien, Iowa/USA). Bei den Quäkern hat die Innerlichkeit kei­nen Rückzug aus der Welt, sondern eine ag­gressive Ethik zur Folge gehabt, die mehr als der S. das Gruppenbewußtsein hervorbringt. - Der Hl. Schrift ist der spiritualistische Dualismus von Geist und Welt fremd. Er be­

ruht auf philosophischen (platonisch-neu- platonischen) Voraussetzungen. Der Hl. —» Geist der Schrift führt nicht in das »Prinzip Innerlichkeit«, sondern drängt zur Verleib- lichung in der sichtbaren Gemeinde und Welt.

Lit.: R. M. Jones, Geistige Reformatoren, 1925 -G. H. Williams (Hg.), Spiritual and Anabaptist Wri- ters, 1957

Geldbach


Spitta, Karl Johann Philipp, *1.8.1801 Hannover, 128.9.1859 Burgdorf; ev. luth. Pfarrer, Liederdichter. Nach einer Uhrma­cherlehre studierte S. in Göttingen Theolo­gie. Von seinen rationalistischen Lehrern unbefriedigt geblieben, wandte er sich der Erweckungstheologie (—> Tholuck) zu. Seine Tätigkeit als Hauslehrer seit 1824 in Lüne bei Lüneburg ließ ihn zum Bibeltheologen und Dichter geistlicher Lieder heranreifen. 1828 Pfarrgehilfe in Sudwalde, 1830 Garni­son- und Gefängnisprediger in Hameln, 1837 Pfarrer in Wechold wurde er seiner besonde­ren seelsorgerlichen Begabung wegen 1847 als Superintendent nach Wittingen, 1853 nach Peine, 1859 nach Burgdorf berufen. Klarheit und schlichte Frömmigkeit kenn­zeichnen Leben und Lieder S.s (z.B. »Bei dir, Jesu, will ich bleiben«, »Es kennt der Herr die Seinen«, »O komm, du Geist der Wahr­heit«).

Lit.: Handbuch zum Ev. Kirchengesangbuch Il/i, 1957, 282ff. - K. Hardeland, P.S., der Sänger von »Psalter und Harfe«, 1957

Balders




Karl Johann Philipp Spitta


Lit.: E. Schick, Chr. Fr. Spittler, 1956-E. Staehelin, Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Auf­klärung und der beginnenden Erweckung, 1970 - ders., Die Christentumsgesellschaft in der Zeit von der Erweckung bis zur Gegenwart, 1974 Haag



Christian Friedrich Spittler

Spittler, Christian Friedrich, *12.4.1782 Wimsheim/Württ., f8.12.1867 Basel. S. wird nicht Theologe wie sein Vater, sondern »Stadtschreiber« in Steinheim und Schorn­dorf, von wo ihn K. F. —> Steinkopf 1801 als Sekretär der Deutschen ^ Christentumsge­sellschaft nach Basel beruft. Durch ausge­dehnte Korrespondenz wirkt S. in viele Län­der hinein, während er in Basel eine der füh­renden Persönlichkeiten eines aktiven —» Pietismus wird. Sein Glaube und seine Or­ganisationsgabe befähigen ihn, verschiedene Werke der Inneren und Äußeren Mission ins Leben zu rufen: Basler Bibelgesellschaft (1804), Basier Mission (1815), Rettungshaus für verwahrloste Kinder mit Lehrerseminar in Beuggen (1820), Taubstummenanstalt in Beuggen, später in Riehen (1830), Pilgermis­sion St. —> Chrischona (1840), Kinderspital in Basel (1846), Waisenhaus in Lahr- Dinglingen (1849), Diakonissenanstalt in Riehen (1853), Syrisches Waisenhaus in Je­rusalem (1860).
Sport

Die vielfältigen Formen körperlicher Bewe­gung haben in der Neuzeit zu einem organi­sierten Sportbetrieb mit Vereinen, Verbän­den und internationalen Dachorganisatio­nen, die feste Regeln setzen, geführt. Man kann grob den Hochleistungs- (oft Berufs-) und den Freizeit- und Wettkampfsport un­terscheiden. Während der erstere aus­schließlich auf stete Leistungsverbesserung gerichtet ist, sollte der Leistungsgedanke beim zweiten der Freude an der Bewegung bei zunehmender Bewegungsarmut, der Ge­staltung länger werdende Freizeit und der Gemeinschaft bei wachsender Vereinzelung untergeordnet bleiben. Kirche und Theolo­gie haben dem S. gegenüber lange Zeit ab­seits gestanden. Lediglich einzelne haben auf die Möglichkeit kirchlicher Arbeit durch S. hingewiesen, besonders der —> Christliche Verein Junger Männer, in dessen Reihen Basketball und Volleyball als »christliche« Spiele erfunden wurden. S. macht die Kirche auf die Leiblichkeit des Menschen aufmerk­sam und damit auf die schöpferische Entfal­tung von Kräften im zweckfreien Tun, aber auch auf die Notwendigkeit der Förderung des Gemeinschaftssinns und der Gesund­heitspflege - z.B. Sport als vorbeugende, hei­lende und rehabilitierende Maßnahme bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen - mit recht verstandener asketischer Lebensführung. Allerdings kann und muß die Kirche auch warnen vor den Gefahren des Spitzensports für den einzelnen Athleten (insbes. Kinder), der Kommerzialisierung, der Verrohung der Sitten bei nicht S.treibenden Zuschauern, wie auch der Wertung des S. als eine Ersatz­religion. - Die —» EKD hat ein Sportpfarramt, das in enger, kritischer Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sportbund neue Mo­delle für Familien-, Alten-, Versehrten- und Gefangenensport zu entwickeln sich be­müht.

Lit.: EKD (Hg.), S., Mensch und Gesellschaft, 19722 - E. Geldbach, S. und Protestantismus, 1975

Geldbach


Sprache Kanaans

I. Die pervertierte Sprache Kanaans Es gibt unter Christen eine entartete, wider­natürliche, frömmelnde Sprache, die ge­spickt ist von Zitaten aus der Hl. Schrift und aus Werken großer Väter des Glaubens. Sie wird oft gesucht und gebraucht, um Pro­bleme und Nöte zu übertünchen, um eigene Fehler und Unzulänglichkeiten zu verber­gen und zu vertuschen. Ein solches Reden in abgeschliffenen Sprachstücken ist unecht und heuchlerisch. Diese pervertierte Spra­che Kanaans stößt ab und macht den Reden­den unglaubwürdig. Oft steckt hinter einer solchen Art zu reden die Angst vor der Wirk­lichkeit und vor der Sprache der Welt. Ihr ge­genüber fordert Karl -» Barth mit Recht Ehr­lichkeit der Sprache: »Sprich deine eigene Sprache! Tritt nicht in dem Königsmantel der Sprache Kanaans oder als kleiner Luther auf!«

n. Vom rechten Gebrauch der Sprache Ka­naans

In Jes 19,18 bezeugt das Festhalten an der S.K.s bei jüdischen Gemeinden in Ägypten ihr Bleiben im Bekenntnis zum Gott der Vä­ter.

Bezeichnet man das hebräische und griechi­sche Sprechen der Hl. Schrift als Sprache Kanaans und teilt man zugleich die Über­zeugung, daß die —» Bibel unübersetzbar ist, so muß eine nicht pervertierte Sprache Ka­naans Bestandteil unseres heutigen Spre­chens werden. Ein voreiliges oder gar salop­pes Übersetzen und Interpretieren der bibli­schen Botschaft überdeckt die biblischen Wahrheiten mit dem Zeitgeist und höhlt die Inhalte des Glaubens aus. Wie für alle Gebie­te, so gilt auch für den Christen: Jede spezifi­sche Sache braucht eine spezifische Sprache. Die Botschaft vom Kreuz, die —> Wiederge­burt, die Bekehrung und die empfangene Gnade ist bis hin in die sprachliche Gestal­tung des Zeugnisses unübersetzbar. Die echte Sprache Kanaans ist aber nicht fixiert in die Vergangenheit, sondern sie wird le­bendig, indem sie in neue Zusammenhänge gestellt wird. Dabei ist das bewußte Ver­hältnis zur Vergangenheit bereits neue Er­kenntnis, die sich in die Sprache der Welt einfügt. An dem falschen oder echten Ge­brauch der Sprache Kanaans wird sichtbar, ob ein Christ bloß der Vergangenheit ent­langfährt oder in die Zukunft Gottes unter­wegs ist. Ohne die Sprache der Vergangen­heit wird die Gegenwart sprachlos (Walter Killy). Ohne die Sprache der Welt wird die Sprache Kanaans verballhorntes Bibel­deutsch. Es gilt eine doppelte Freiheit zu ge­winnen, die Freiheit zur Sprache Kanaans und die Freiheit zur Sprache der Welt.



Lit.: R. Bohren, Predigtlehre, 1972 Bräumer

Spurgeon, Charles Haddon, *19.6.1834 Kelvedon (Essex), t3i*i*i892 Mentone (Frankreich); englischer Baptistenprediger.

  1. LEBEN: Aus independentistischen Eltern­haus kam S. am 8.1.1850 in einer Primitive -* Methodist Church zum Glauben. »Um Christ nach apostolischem Muster zu wer­den«, ließ ersieh am 3.5.i85obei den—» Bap­tisten taufen. Bereits 1851 Gemeindepastor in Waterbeach, predigte er von 1854 an in der Londoner Gemeinde New Park Street. r86i wurde wegen der großen Zahl der Predigthö­rer das Metropolitan Tabernacle mit 5000 Sitzplätzen eingeweiht; die Gemeinde wuchs jährlich um ca. 380 getaufte Mitglie­der. Seit 1855 wurden seine Predigten wö­chentlich in großen Auflagen über die ganze Welt verbreitet. 1856 begann S. mit der Aus­bildung von Predigern am eigenen Pastors College (»Ratschläge für Prediger«, Neuaufl. dt. 1975), 1866/79 tnit der Betreuung von Waisenkindern (Stockwell Orphanage).

  2. VERKÜNDIGUNG: S.s. Verkündigung ist durch Eindeutigkeit ihres Inhalts und Reich­tum in der Form gekennzeichnet. Er predigte »Gnade und Gehorsam«, d.h. die »zwei gro­ßen, parallellaufenden Wahrheiten von der göttlichen Unumschränktheit und der menschlichen Verantwortlichkeit«, deren Hauptnenner sein Altersbekenntnis wieder­gibt, »meine ganze Theologie ist auf vier Worte zusammengeschrumpft: Jesus starb für mich«. Durch Selbststudium Theologe von hoher Bildung, hielt er als Erweckungs­prediger an der —» Prädestinationslehre fest, ebenso an einer strengen Inspirationslehre (—» Bibel), deretwegen er r887 die Baptist Union verließ, selbst Baptist bleibend (»Wer seine Bibel liest, um Fehler darin zu finden, wird bald gewahren, daß die Bibel Fehler bei ihm findet«). Unter seinen schriftstelleri­schen Arbeiten ragt der 7-bändige Psalmen­kommentar »Die Schatzkammer Davids« (dt. i894ff.) heraus. S.s. Sprache war für je­dermann verständlich, eindringlich und humorvoll; er beherrschte meisterhaft die »Kunst der Illustration« (dt. um t905s), die sich aus einer geistlichen Betrachtung von »Bibel und Zeitung« (dt. 1881), Schöpfung und Geschichte nährte, und hat sich auch vor öffentlichen Stellungnahmen (u.a. zur Sklavenfrage) nicht gescheut, denn »Gottes Ehre ist unser Ziel. Wir suchen sie, indem wir uns bemühen, die Heiligen zu erbauen, die Sünder zu retten«.

Lit.: Von S.: Alles zur Ehre Gottes. Autobiographie, 1984 - Auf dein Wort, 19782 - Aus der Schatz­kammer Davids, 19832 - Betet ohne Unterlaß, 1982 - Guter Rat für allerlei Leute, 19852 - Der gute Kampf des Glaubens, 1979 - Kraft der Verhei­ßung, 1985 - Gehe in den Weinberg, 1984 - Ein Gramm Glaube wiegt mehr als Berge von Philoso­phie, 1985° - Es ist vollbracht, 1982 - Ratschläge rür Prediger, 19843 - Sein Haus hat offene Türen, 19853 - Ganz aus Gnaden, 198 58 - Es steht ge­schrieben, 19802 - Hast du mich lieb?, 1978 - Kleinode göttlicher Verheißungen, 198528; Miniaturausgabe, I98512 - H. Thielicke, Vom geistlichen Reden. Begegnung mit S., 1961 - P. Spangenberg Theologie und Glaube bei S., 1969 -J. Müller-Bohn, S. - ein Mann von Gott gesandt, 1978

Balders


Staat und Kirche -» Kirche und Staat Stadtmission

Von Anfang an wurde das Evangelium in den großen Städten verkündigt. Sie waren Zen­tren von Religion und Wissenschaft, Handel und Verkehr (Paulus in Korinth und Ephe­sus: Apg 18,1-iT; 19,8-11). - Im 19. Jh. brachte die Industrialisierung Menschen­massen in die Städte, die nun entwurzelt, entkirchlicht, entchristlicht und-vielfach - entsittlicht lebten. In Glasgow (Schottland) gründete David Nasmith 1826 die erste or­ganisierte S., der 1835 die »London City Mission« folgte. Erweckte Christen, viel­fach Laien, begannen in den nächsten 1 1/2 Jahrzehnten in den meisten englischen Großstädten diese Art kirchlicher Arbeit. - Auf dem Kontinent war J. H. -» Wiehern der »Vater der S.«, als er 1848 die Hamburger S. gründete, der nach zwei kleinen Anfängen 1877 die —» Berliner S. folgte. Hofprediger A.

Stoecker wurde ihr Leiter und gab ihr ihre Prägung. Sie ist für die meisten S.en im deutschsprachigen Raum Leitbild geblieben. Stoecker gab ihr die Losung: »Suchet der Stadt Bestes!« (Jer 29,7). Ihn trieb die geistli­che Heimatlosigkeit der Massen: »Wenn die Menschen nicht mehr zur Kirche kommen, muß die Kirche zu den Leuten gehen«. - Stadtmissionare und später auch S.-Schwe­stern machten Hausbesuche, oft von Tür zu Tür gehend, fanden Arme, Elende, Spötter, Trinker, Verzweifelnde. Ihnen seelsorger- lich und fürsorgerisch zu helfen, war ihre Aufgabe. In den Stadtteilen entstanden S.- Säle, in denen —> Sonntagsschulen für Kin­der, —» Bibelstunden, —> Evangelisationen und -» Gottesdienste gehalten wurden. Un­gezählte wurden durch Stoeckers gedruckte Sonntagspredigten (Auflage: 130000) mit dem Evangelium erreicht. Es gehört zum

Wesen der S., daß sie beweglich ist. Missio­narische und diakonische Aufgaben können ihre Form im Laufe der Zeit ändern oder durch andere, neue ersetzt werden. Hat die S. früher besonders den »Sonntagslosen«, z.B. Droschkenkutschern, Straßenbahnern und Polizisten gedient, so hat sich die Arbeit ausgeweitet: Hilfe für Strafentlassene, Al­koholiker, gefährdete Mädchen und Frauen, —»Mitternachtsmission, Seelsorge an Hotel- und Gasthauspersonal, Schaustellern, Nichtseßhaften und nach dem Kriege an Flüchtlingen. Kurrenden, Straßenmission, Gottesdienste in Parks und Schrebergärten (»Laubenmission«), Kinder- und Jugendar­beit gehören zur S. wie Alters- und Obdach­losenheime, —> Telephonseelsorge und »Foyers«, in denen man ausruhen kann und einen Seelsorger findet. — Neben regionalen »Arbeitsgemeinschaften ev. S.« in der BRD und DDR besteht seit 1973 eine »Europä­ische Arbeitsgemeinschaft ev. S.en«.

Lit.: M. Gerhardt, Ein Jahrhundert Innere Mission, 1948 - D. v. Oertzen, Ad. Stoecker, 1910 - Gott liebt diese Stadt. 100 Jahre Berliner Stadtmission, 1977 Möller

Stange, Erich, D. Dr., *23. 3. 1888 Schwepnitz/Oberlausitz, 112.3.1972 Kassel, ev. Theologe, Jungmännerseelsorger und Ju­gendführer. Theologie-Studium in Leipzig und Halle, Kontakte zur DCSV (—» Studen­tenarbeit); Luthertum und —» Erweckungs­bewegung waren die Wurzeln seines theolo-




Erich Stange


gischen Arbeitens und seelsorgerlichen Handelns. 1921-54 hauptamtlich, 1962-64 ehrenamtlich Reichswart des »Reichsver- bandes der ev. Jungmännerbündnisse und verwandter Bestrebungen« (heute: CVJM- Gesamtverband). Verfasser umfangreichen theologischen Schrifttums, wirkungsvoller Redner. Weil er im Dienst an der jungen Ge­neration seine Lebensaufgabe sah, lehnte er zahlreiche ehrenvolle Rufe (z.B. auf Profes­suren und ins Bischofsamt seiner sächsi­schen Heimatkirche) ab. 1933 war er zeit­weilig Reichsjugendführer der ev. Jugend; wegen Diffamierung des Führers wurde er wieder abgesetzt, führte aber seine Arbeit im Reichsverband weiter. Nach dem 2. Welt­krieg baute er das Ev. Jungmännerwerk neu auf. 1954 in Fortführung seiner Aktivitäten auf ökumenischer Ebene (-» ökumenische Bewegung, CVJM-Weltbund) neben dem Schweden Hjelmquist für einige Zeit theo­logischer Leiter des Internationalen Insti­tuts der CVJM auf Schloß Mainau. Initiator und Mitbegründer der -»Telefonseelsorge in Deutschland (1956). Bedeutsame Freund­schaften u.a. mit Paul -» Humburg, Nathan Söderblom, Rudolf Alexander —» Schröder, John -» Mott.

Lit.: E. Stange, Er führt uns wie die Jugend, 1957 — ders., Ich suchte den Bruder-Ökumenische Reise­berichte, 1957 - Walter Arnold (Hg.), Wort und Wagnis - Festgabe zum 80. Geburtstag von D.E.S., !968 Kroll

Steinhausen, Wilhelm, *2. 2. 1846 So- rau/Niederlausitz, ^$.1.1924 Frankfurt/M. Maler und Graphiker. Von Ludwig —» Rich­ter ausgehend, nahm S. stilistisch Anregun­gen von A. Böcklin, W. Leibi und Hans Thoma auf. Der vom ev. Glauben geprägte, seit 1877 in Frankfurt lebende Künstler schuf vor allem Bilder mit biblischen The­men, in denen es ihm um eine verinnerlichte Form der Darstellung ging. Seine mensch­lich-schlichte Jesusgestalt erscheint oft in deutschen Berglandschaften. Neben großen Wandgemälden in Frankfurt (Kaiser-Fried- rich-Gymnasium, Lukaskirche, Sachsen­hausen, im letzten Krieg zerstört) entstan­den ähnliche in Wernigerode und anderen Städten, daneben auch Glasfenster. Die Li­thographien zur biblischen Geschichte wur­den z.T. auf Konfirmationsscheine und Trau-Urkunaen übernommen. S.s zartge­stimmte Landschaftsbilder wurden auch von kritisch Eingestellten bewundert.

Lit.: W. S., Aus meinem Leben 1912

Rothenberg

Steinkopf, Carl Friedrich Adolph,

*6.9.1773 Ludwigsburg, 129.5.1859 London. S. bekam bereits in seiner Stuttgarter Kind­heit pietistische Anstöße, zog bei seinem Theologiestudium in Tübingen J. A. Bengels Reichs-Gottes-Theologie der von der -> Aufklärung bestimmten Neologie vor und pflegte lieber Umgang mit »Erweckten« als mit revolutionierenden Studenten. Als Se­kretär der -» Christentumsgesellschaft in Basel (ab 1795) hatte er nicht nur viele Kon­takte zu Gläubigen am Ort, sondern durch Korrespondenz mit den Zweigvereinen in ganz Europa. Ab 1801 wirkte S. in London als Pfarrer der deutschen lutherischen Savoy- gemeinde; aber seine überragende Bedeu­tung erhielt er als der große Stratege der bri­tischen —> Erweckungs- und Missionsbewe­gung, die vor allem durch ihn auf Mitteleu­ropa Übergriff. Viele pietistische Erbauungs­zirkel wurden durch seine Kontinentreisen und Briefe zu missionarischen Zellen und Vereinen. Die Deutsche Bibelstiftung in Stuttgart (früher Württ. Bibelanstalt, ge­gründet 1812) und die Basler Mission (gegr. 1815) zeugen bis heute von seinem rastlosen Eifer für die Ausbreitung des —> Reiches Got­tes.

Lit.: W. Eisenblätter, C.F.A.S. (1773-1859) - Vom englischen Einfluß auf kontinentales Christentum zur Zeit der Erweckungsbewegung, Diss. Zürich 1974

Eisenblätter

Sterbehilfe, Sterbedienst —*• Tod Sterben -» Tod

Stillen im Lande, Die

Der nach Ps 3 5,20 geprägte Ausdruck taucht zur Bezeichnung des Freundeskreises um Gerhard Tersteegen (1697-1769) auf. Gleich ihm wollten seine Freunde in stiller Abgeschiedenheit, Anbetung, Meditation und Versenkung ihr Leben führen. Terstee­gen, von der quietistischen Mystik beein­flußt, gab durch Lieder und Bücher (Geistli­ches Blumengärtlein, Geistliche Brosamen, Fromme Lotterie) Anleitung. Zwar blieben die St.i.L. unorganisiert, doch bilden sie die Brücke zwischen —» Pietismus und —» Er­weckungsbewegung; am Niederrhein, im Wuppertal, im Siegerland und in Württem­berg war ihr Einfluß besonders spürbar. Der letzte große Vertreter war H. -» Jung, der in seinem Namenszusatz »Stilling« seine Zu­gehörigkeit zu den St.i.L. ausdrücken wollte. - Ihr Protest richtete sich vor allem gegen den Rationalismus. Schon Tersteegen hatte eine Schrift gegen den »Philosophen von Sans-Souci« geschrieben, was Friedrich d. Großen zu dem Ausruf veranlaßte: »Können das die St.i.L.?«.

Lit.: O. Weber und E. Beyreuther (Hg.), Die Stim­men der Stillen, 1959

Geldbach


Stimme des Glaubens

Das Missionswerk St. d. G. wurde i960 in Konstanz von Pfarrer F. Schönemann be­gründet. Zielsetzung der Arbeit ist die Aus­breitung des Evangeliums durch Rundfunk­sendungen (gegenwärtig über Radio Luxem­burg). Das Missionswerk arbeitet auf über­konfessioneller Basis und gibt die Monats­zeitschrift »St. d. G.« heraus.

Red.

Stockmayer, Otto, *21. 10. 1838 Aa- len/Württ., 112.4.1917 Hauptwil/Schweiz. Ev. Theologe. Nach dem Theologiestudium und einer Begegnung mit Jungfer -h> Trudel wurde S. Erzieher in der Schweiz, wo er seine —» Bekehrung erlebte. Er trat in die freie Kir­che des Waadtlandes ein (A. —> Vinet) und wurde 1862 Pfarrer in Tavannes, 1866 in Genf, 1872 in Auberson bei St. Croix. Auf der —> Oxford-Konferenz »zur Förderung ei­ner schriftgemäßen Heiligung« 1874 stark von der —» Heiligungsbewegung angespro­chen, sah er als Reiseprediger seine Aufgabe




Otto Stockmayei


darin, die Gemeinden aus Sattheit und Be­quemlichkeit herauszureißen und die um­gestaltende, bewahrende und vollendende Gnade zu bezeugen. Die Lehre von der Voll­kommenheit (-» Perfektionismus) be­kämpfte er ebenso wie die -» Pfingstbewe- gung. 1878 richtete er im Schloß Hauptwil ein Erholungs- und Seelsorgeheim ein, wo es auch zu körperlichen Heilungen kam. Die Lehre von der Entrückung einer besonderen Auswahlgemeinde widerrief er öffentlich 1909. Er gehörte zu den Vätern des —> Gna- dauer Verbandes

Lit.: A. Roth, O.S., 19382 - H. v. Sauberzweig, Er der Meister, wir die Brüder, 1959

Rothenberg



Stoecker, Adolf, *11.12.1835, 17.2.1909, ev. Theologe und Politiker. 1874 als Hof- und Domprediger nach Berlin berufen, über­nahm er seit 1877 mit großer Tatkraft auch die Leitung der -* Berliner Stadtmission. Mit der Eiskeller-Versammlung am 3.1.1878 be­gann sein gegen Sozialdemokratie, Libera­lismus und Judentum gerichtetes politi­sches Wirken. Die Gründung einer christ­lich-sozialen Arbeiterpartei erwies sich als Fehlschlag. Lange Jahre gehörte S. dem Preußischen Landtag und dem Reichstag an. Die Feindschaft —» Bismarcks und Kaiser Wilhelms II. führte 1890 zu seinem Aus­scheiden aus dem Hofpredigeramt. Seither an der Spitze des Ev.-sozialen Kongresses, geriet S. in Gegensatz zu den »Jungen« um F. Naumann. Nach seinem Ausschluß aus der konservativen Partei deklarierte Wilhelm II.: »S. hat geendigt. Politische Pastoren sind ein Unding. Christlich-sozial ist Unsinn. Die Herren Pastoren sollen sich um die See­len ihrer Gemeinden kümmern, aber die Po­litik aus dem Spiele lassen.« S. arbeitete wei­ter in der Berliner Stadtmission und seit r897 in der Freien kirchl.-sozialen Konfe­renz. Seine durch über drei Jahrzehnte veröf­fentlichten, wöchentlichen Pfennigspredig­ten wurden zuletzt in 130000 Exemplaren verbreitet. - S. war zeitlebens heftig umstrit­ten. Sein politisches Konzept war konserva­tiv, seine Theologie nicht nur wegen seines Antisemitismus unzureichend. Er wollte durch Sozialreformen die »abgefallenen« Massen zu Kirche und Monarchie zurück­führen. Die tieferen Probleme des industriel­len Zeitalters hat er nicht wahrzunehmen vermocht. Seine Größe aber liegt darin, daß er die Notwendigkeit eines politischen En­gagements in der sozialen Frage begriffen hatte. Angesichts der Nöte seiner Zeit ist S. mutig »in den Abgrund gesprungen, ohne die Tiefe zu ermessen«.

—» Sozialismus, religiöser

Lit.: Christi.-sozial. 18902 - Reden u. Aufsätze, 1913 - W. Frank, Hofprediger A.S. 19352 - K. Ku- pisch, A.S., 1970

Rohkrämer



Strafe —> Seelsorge

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