Revolution für die Freiheit



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Der Chiropraktiker


Im November 1941 unterzog sich Clara einer leichten Operation, um jeden Monat wiederkehrenden unerträglichen Schmerzen zu entgehen. Die Spitäler waren überfüllt, viele von den deutschen Behörden ganz oder teilweise besetzt. Nach der Operation und einem zweiwöchigen Spitalaufenthalt wollte Clara nach Hause. Es gab keine Beförderungsmittel, weder Ambulanzen noch Taxi, die ersteren wurden nur für ganz dringende Fälle zur Verfügung gestellt, die U-Bahn kam für Clara noch nicht in Frage. Auf einem mit einer Matratze ausgepolsterten Handkarren zog ich sie durch die Pariser Straßen nach Hause.

Acht Tage später erhob sie sich zum erstenmal und versuchte zu gehen. Sie verspürte aber so heftige Schmerzen im Rücken, daß sie es aufgeben mußte. Ihr Zustand verschlimmerte sich, die Schmerzen wurden unerträglich. Wir konsultierten eine ganze Reihe von Ärzten, Allopathen, Homöopathen , ohne Resultat. Einige ließen durchblicken, die Operation sei verpfuscht worden. Wieder mußte sie ins Spital. Doch es gab trotz Bestrahlungen, Einspritzungen und Medikamenten keine Besserung. Sie wanderte von Spital zu Spital, von einem Spezialisten zum anderen. Sie magerte ab, das linke Bein verkrüppelte sich durch die Schmerzen mehr und mehr. Trotzdem wollte sie nicht länger in den Spitälern liegen; in den Sälen mit 50 Betten und Patienten mit den verschiedensten Krankheiten fand sie keine Ruhe und Erholung. Wieder holte ich sie nach Hause, um sie selbst zu pflegen. An den abendlichen Gruppensitzungen nahm sie vom Bett aus teil. Durch eine alte jüdische Bekannte erhielten wir die Adresse eines Masseurs, der viel von sich reden machte. Er versprach zu kommen. Tage und Wochen vergingen, ohne daß er erschien. Clara hielt die dauernden Schmerzen nicht mehr aus und entschied sich für eine zweite Operation. Ich bestellte die Ambulanz. Sie kam gleichzeitig mit dem Masseur an. Herr Geni behauptete, Clara's Schmerzen und Verkrüppelung heilen zu können, so schickte ich die Ambulanz wieder zurück. Der Masseur begann sofort mit der Kur. So tapfer Clara auch war, sie heulte wie ein wundes Tier auf, als sie kräftig massiert, geknetet und gezogen wurde. Mit Händen und Knien wuchtete er auf ihrem Rücken herum, während ich ihre Beine festhielt, da sie wild um sich schlug. Erstaunlicherweise fühlte sie sich nach der Roßkur wohler. Herrn Geni hatte ich sofort erklärt, daß ich ihn nicht bezahlen könne, das käme erst später, wahrscheinlich erst nach dem Kriege in Frage. Das störte ihn nicht. „Sie bezahlen, wann Sie können”, brummte er kurz.

Von da an kam er mindestens zweimal in der Woche auf seinem Fahrrad über zwei Monate lang, um „seinen Fall” zu besuchen. Nach einigen Wochen Behandlung fand Clara wieder ruhigen Schlaf, nach weiteren drei Wochen konnte sie am Stock gehen; die Schmerzen waren nicht ganz verschwunden, doch bedeutend gelinder. Die Massage hatte wahre Wunder bewirkt. Zur endgültigen Genesung wollte Herr Geni Clara zu seinem Chef, einem bekannten Chiropraktiker führen. Sein Kabinett lag hinter den Champs Elysees. Im Warteraum wimmelte es von Menschen, die alle möglichen rheumatischen Gebrechen kurieren lassen wollten. Die Leute erzählten sich Wunderdinge von der Heilmethode des Dr. Guignebert. Er besah sich Clara genau, um dann selbst sicher zu versichern:„Das kriegen wir fertig”. Er begann sie auf einem Schragen mit Lederriemen festzuschnallen, massierte zu erst leicht, dann drückte er mit Händen und Knien auf dem Rücken drehte ihr die Beine in allen Richtungen, bog sie nach oben, zog, riß, knetete sie wie einen Hefeteig. Am Schluß drehte er ihr mit einer leichten Bewegung den Halswirbel, daß es laut knackte. Die dick gepolsterten Türen ließen keinen Schrei nach außen dringen. Beim dritten Besuch erklärte er kategorisch: „Das nächstemal kommen Sie mir ohne Krücken”. Die Bezahlung war lächerlich gering.

Der letzte Besuch bei Dr. Guignebert verlief dramatisch. Nach der ermüdenden chiropraktischen Behandlung verspürte Clara Lust, etwas zu trinken. Wir setzten uns auf eine Terrasse in den Champs Elysees. Plötzlich fiel sie auf dem Stuhl ohnmächtig zusammen. Mit hilfsbereiten Menschen trugen wir sie in einen in der Nähe stationierten Fiaker, setzten sie in die Kutsche und trabten los. Sie erwachte bald aus ihrer Ohnmacht, lächelte und sagte: „Oh, wie schön, immer wollte ich doch mal im Fiaker durch Paris fahren.” Trotz diesem Unfall erholte sie sich gut und konnte bald ihren normalen Beschäftigungen nachgehen.


15. Juli 1942


Die deutschen Behörden im besetzten Teil Frankreichs gingen mit anti-jüdischen Maßnahmen vorerst vorsichtig vor, offensichtlich tasteten sie die psychologische Wirkung auf die Bevölkerung ab. Die Juden, gleich welcher Nationalität, mußten sich registrieren lassen. Die Wohnungen geflüchteter Juden wurden beschlagnahmt, ihr Eigentum konfisziert. Die Ausnahmebestimmungen setzten im Frühjahr 1942 ein. Alle Juden, auch französische Staatsbürger, mußten den gelben Davidsstern auf der linken Brustseite tragen. In Paris und Umgebung gab es allein gegen 300 bis 350.000 ausländische Juden: aus Polen, Rumänien, Rußland, aus den baltischen Staaten, aus Ungarn und Deutschland. Viele dieser Menschen hatten längst die französische Staatsbürgerschaft erworben, das Dekret erregte ungeheures Aufsehen, Panik und Schrecken bei der jüdischen Bevölkerung. In den ersten Tagen spielten sich erregende Szenen ab. Auf den großen Boulevards, in den jüdischen Quartieren, saßen auf den Terrassen der großen Restaurants Dutzende von Juden, auf der rechten Brustseite trugen sie ihre militärischen Dekorationen des ersten Weltkrieges, links den Judenstern. Das Publikum massierte sich vor diesen Gruppen und beklatschte sie stürmisch. Zahlreiche Studenten und junge Franzosen hefteten sich aus Protest den Judenstern an und zogen durch die Straßen. Die Deutschen machten mit diesen Kundgebungen rasch Schluß durch Verhaftungen und Verschickungen nach Deutschland. Sie legten dabei nicht selbst Hand an, die französische Polizei wurde eingesetzt und sie verrichtete die Arbeit gründlich.

Andere Ausnahmebestimmungen folgten. Cafes, Restaurants, öffentliche Plätze, Parkanlagen, Theater und Kinos wurden den Juden verboten. Zum Einkauf der Lebensmittel wies man ihnen die letzten Tagesstunden zu, nachdem die nicht-jüdische Bevölkerung ihre Einkäufe erledigt hatte. Wer den Judenstern nicht trug, riskierte die Denunziation des lieben Nachbarn. Aus Angst, sich zu kompromittieren, mieden große Teile der französischen Bevölkerung den Umgang mit Juden. So bildete sich eine Art unsichtbares Ghetto, das keine geographischen Grenzen kannte. Die Herrenmenschen verfolgten bewußt eine psychologische Zer-mürbungstaktik. Sie ließen Gerüchte von Massenverhaftungen durchsickern, die dann ein oder zwei Tage später wieder dementiert wurden. Tausende von sich bedroht fühlenden Juden versteckten sich für eine oder mehrere Wochen bei Bekannten und Freunden, mieteten sich ein Hotelzimmer, um einer Razzia zu entgehen. Da nichts geschah, kehrten sie nach einiger Zeit wieder in ihre alten Wohnungen zurück. Dieses Spiel wiederholte sich öfters, es entstand eine trügerische und unerträgliche Sicherheit, noch hofften viele, die Deutschen würden in Frankreich keine Massenverhaftungen wagen. Wer die Mittel und die Verbindungen besaß, setzte sich in die freie Zone des Landes ab, tauchte dort unter oder schloß sich der Widerstandsbewegung an. Für den Fall von Massenverhaftungen unter der jüdischen Bevölkerung hatte unsere Gruppe vorgesehen, daß unsere drei jüdischen Mitglieder in unserem Pavillon Zuflucht nehmen sollten. Clara und ich hatten aber außerhalb der Gruppe viele jüdische Bekannte. Darunter zwei Schwestern aus dem rumänischen Czernowitsch, die in einem winzigen Zimmer als Putzmacherinnen ein kärgliches Dasein fristeten. Da sie uns besonders bedroht schienen, suchte ich sie auf und offerierte ihnen für den Notfall den Unterschlupf bei uns.

Der große Schlag kam. Am 13. und 14. Juli sickerten Gerüchte durch, es stehe eine Großaktion gegen die Juden ausländischer Herkunft bevor. Sichere Meldungen kamen aus den Reihen der französischen Polizei, sie stellte die Listen der zu Verhaftenden zusammen. Stichtag sollte die Nacht vom 15. auf den 16. Juli sein. Nachrichten waren in die Zivilbevölkerung gedrungen, in Drancy, einem Ort bei Paris, sei ein großes Auffanglager vorbereitet worden. Diesmal brachten wir den Gerüchten Glauben entgegen; der 15. Juli war in ganz Frankreich Terminzahlung für die Mieten. Einige tausend Familien sollten noch ruhig ihre Miete bezahlen, nachher konnten sie den Weg in die Verschickung antreten.

Es lag keineswegs in der Absicht der Besatzungs behörden, die französischen Hausbesitzer zu verärgern. Ich benachrichtigte unsere zwei jüdischen Bekannten, sie versprachen vor Anbruch der Dunkelheit bei uns zu sein. Sie gaben mir das Versprechen, keinem Menschen das Versteck preiszugeben. Abends um 7 Uhr rückten sie an, nur mit einer Ledertasche, mit der sie sorgsam den Judenstern verdeckten. Seit einigen Tagen hatte ganz Paris Ausgehverbot nach abends 8 Uhr als Kollektivbestrafung der Bevölkerung für Attentate, die auf deutsche Offiziere verübt worden waren. Die drei Mitglieder der Gruppe waren bereits anwesend. Da unsere Schweizer Freundin bei ihrem Freund auf dem Lande weilte, hatten wir genug Platz. Um halb acht klingelte es. Vor mir standen zwei jüdische Frauen, die nach Rachel und Rita fragten. Die Schwestern hatten geplaudert, jetzt hatten wir Zuwachs. Bis kurz vor acht Uhr wiederholte sich das Spiel noch dreimal, jedesmal standen zwei jüdische Frauen vor der Tür und baten um Einlaß. Ich besaß nicht den Mut, sie zurückzuweisen, um diese Zeit wären sie sofort aufgegriffen worden. So waren wir, Clara und mich mitgerechnet, 15 Personen. Von Schlafen war natürlich keine Rede. In den verdunkelten Zimmern saßen die Frauen und Männer zusammen, leise flüsternd, auf jedes Geräusch von draußen lauschend und tauschten tausenderlei Vermutungen aus, was sich wohl im nächtlichen Paris abspielte.

Am frühen Morgen ging ich hinaus, um Informationen einzuholen. Die Judenrazzia war noch nicht beendet. An vielen Orten hatten sich jüdische Familien eingeschlossen und verbarrikadiert, weigerten sich zu öffnen. Im 13. Bezirk, Boulevard de l'Hopital, war ein Häuserblock in weitem Umkreis von französischer Polizei abgesperrt. Am Straßenrand standen mit Planen abgedeckte Lastwagen, aus den Häusern wurden Frauen, Kinder und Männer herausgeholt und in die Polizeilastwagen geschleppt. Viele der Juden wehrten sich verzweifelt und wurden im brutalen Polizeigriff abgeschleppt; Frauen kreischten, Kinder heulten. Hinter der Polizeisperre stand eine Menge neugieriger Gaffer, die teils lebhaft diskutierten, teils stumm dem Schauspiel zusahen. Aus den Fenstern der höher liegenden Wohnungen schrien jüdische Frauen der Menge zu: “Ihr seid Feiglinge”, hoben ihre Kleinkinder hoch, mit vor Wut, Angst und Entsetzen verzerrten Gesichtern beschimpften sie Polizisten und Zivilisten und forderten sie zum Widerstand auf. Es half nichts, die französische Polizei tat ganze Arbeit.

Am Boulevard Blanqui wiederholte sich dasselbe Schauspiel, doch gab es hier kurze, heftige Zusammenstöße. Jüdische Jugendorganisationen hatten sich in einer großen Mietskaserne verschanzt, verteidigten sich, warfen Flaschen, Steine und Stühle auf die Polizisten. Die Türen wurden mit Gewalt aufgesprengt und die Widerstrebenden in die Lastwagen gestoßen. Bleich, erbittert, standen Arbeiter umher, die erregt diskutierten, die Poli zisten beschimpften. Zuhause berichtete ich über das Gesehene. Für unsere “Pensionäre” im Pavillon schien es ratsam, vorläufig ihre alten Wohnungen zu meiden.

Unglücklicherweise hatte Clara in den letzten Tagen einen Rückfall erlitten und mußte mit starken Ischiasschmerzen wieder im Bett liegen. Wir hielten Kriegsrat. Die 15 Menschen mußten ernährt werden, wir hatten weder Lebensmittelreserven, noch Geld. Rings um Clara's Bett sitzend diskutierten wir hin und her. Ausnahmslos alle hatten sie ihre Lebensmittelkarten bei sich, wir legten das Geld jedes Einzelnen in eine gemeinsame Kasse. Auf die Straße durfte niemand, die Verbindung mit der Außenwelt hielt ich allein aufrecht. Mit dem Rad fuhr ich in die verschiedenen in ganz Paris verstreuten Lebensmittelgeschäfte, in denen unsere Bekannten eingeschrieben waren, da kaufte ich das Notwendigste zusammen und schleppte es nach Hause.

Die „innere Ordnung” hielt Clara vom Bett aus aufrecht. Sie zügehe die Zänkereien, sie verteilte die Hausarbeit, den Küchendienst, hielt auf Sauberkeit und Ruhe. Mit ihren unerschütterlichen Mut und ihrer Zuversicht verschaffte sie sich bei allen Gehör. Es galt eine Menge Einzelheiten zu berücksichtigen, um die Anwesenheit so vieler Menschen auch nur notdürftig nach außen hin zu verbergen. Die Wasserspülung durfte nicht bei jeder Gelegenheit funktionieren, da das Geräusch in den Nachbarpavillons hörbar war. Die rationierte Stromversorgung war ein Problem für sich. Zu starker Stromverbrauch erregte Verdacht, konnte eine Kontrolle auslösen. Wir führten in die Zähluhr vorsichtig einen dünnen Filmstreifen ein, der den Zähler, ohne Spuren zu hinterlassen, festhielt. Die Bleiröhre für das Gas drehten wir behutsam so weit ab, daß der Zähler nur langsam anzeigte.



Auf diese Weise hofften wir wenigsten für ein bis zwei Wochen durchzuhalten. Bis eine Abklärung der Situation eintrat. Nach meinen eingezogenen Erkundigungen stellte sich denn auch heraus, daß ein Teil unserer Zwangspensionäre in ihre Wohnungen zurückkehren konnten, in ihren Wohnblocks hatten keine Verhaftungen stattgefunden. Anders verhielt es sich mit den rumänischen Schwestern und drei anderen jüdischen Frauen. Alle hatten sie in jüdischen Quartieren gewohnt, wo die Polizeirazzia besonders gewütet hatte. Da längst nicht alle gesuchten Personen gefunden worden waren, standen viele Wohnungen unter dauernder Bewachung. Die fünf Frauen blieben vorläufig bei uns. Unsere Gruppe mußte natürlich zum Verbergen der Juden Stellung nehmen. Unsere politische Arbeit sollte nicht gestört noch gefährdet werden, die Pensionäre waren von jeder politischen Tätigkeit fern zu halten. Es gab lange Streitigkeiten, da einige Mitglieder der Gruppe die Meinung vertraten, unsere bisher sichere Wohnung werde durch das Verstecken von Menschen auf höchste gefährdet. Clara und ich, mit der Mehrheit zusammen, hielten an der Meinung fest, das Retten von Menschenleben gehöre ebenso gut zur politischen Tätigkeit wie irgend etwas.

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