Dörte Severin
„Vor-SICHT", ruft meine Mutter, „lauf nicht so schnell die Treppe runter, sonst fällst du noch hin!"
„Zeige mir die Schneemänner mit einer roten Nase", verlangt die Frühförderin von mir, „konzentriere dich, sonst verlierst du die Über-SICHT!"
„Immer müssen wir auf dich Rück-SICHT nehmen", maulen meine Mitschüler, wenn sie im Sportunterricht Volleyball spielen wollen.
„Diese Lupe würde dir wirklich helfen", erklärt die Beratungslehrerin, „dir fehlt einfach die Ein-SICHT!"
„Bei deiner katastrophalen Nacht-SICHT solltest du besser einen Blindenstock benutzen", empfiehlt der Mobilitätslehrer, „sonst kannst du dich leicht verletzen!"
„Es war nicht meine Ab-SICHT, dich zu kränken", sagt eine ältere Frau, als sie mir im Bus einen Platz angeboten hat, „ich wollte dir nur helfen."
„Sie hat es doch nicht so gemeint", beruhigt mich mein Vater, „du solltest etwas nach-SICHT-iger sein."
„SICHT, SICHT, SICHT", schreie ich, „wisst ihr denn nicht, dass ich SICHT-behindert bin?"
Dennoch: ich SEHE,
die Aus-SICHT auf mein Leben ist vielversprechend.
Ich bin zuver-SICHT-lich.
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„Wenn es keine Widerstände gäbe, bräuchte es uns nicht"
Wie Josef Adrian mit Ideen und Gedanken den Aufbau und die Arbeit des Mobilen Dienstes Sehen in Niedersachsen unterstützt hat.
Die Anfänge des Kennenlernens mit Josef Adrian bleiben im Dunkeln. War es auf dem Würzburger Kongress 1983 oder in der Gründungsphase des Landesförderzentrums in Schleswig im Rahmen von Veranstaltungen der Universität Hamburg? Die Begegnungen mit ihm waren und sind geprägt von Humor, Vision, unnachgiebiger Überzeugungsstätigkeit und Engagementfür eine integrative und inklusive Pädagogikfür junge Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit. Der persönliche Kontakt mit Rat, konzeptionellen Hinweisen und Unterstützung für die niedersächsischen Belange der sich entwickelnden Mobilen Dienste der Landesschulbehörde im Förderschwerpunkt Sehen ist kontinuierlich geblieben. Zu Beginn der 90er Jahre wurde Josef Adrian zu einer schulinternen Mitarbeiterfortbildung einer niedersächsischen Förderschule Geistige Entwicklung eingeladen und hielt einen Vortrag zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an allgemein bildenden Schulen, zur Organisation integrativer Settings und zur Umwandlung von Förderschulen zu Förderzentren. Auch wenn es hier hauptsächlich um Schülerinnen und Schüler mit Unterstützungsbedarf im Bereich Geistige Entwicklung, Lernen und emotionale und soziale Entwicklung ging, konnte er überzeugen und durch seine zutiefst inklusive Haltung Lehrkräfte für die Idee begeis-tern, Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten an allgemeinen Schulen zu unterstützen und damit dafür zu sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler eines Einzugsbereichs an der für sie zuständigen regionalen Schule lernen und arbeiten können. In dieser Zeit der sogenannten „Integration" keimte bei manchen niedersächsischen Lehrkräften im Mobilen Dienst Sehen die Hoffnung auf, das Schleswiger Modell auf niedersächsische Verhältnisse übertragen zu können. Niedersachsen hatte bis 1990 in der Fläche kein Angebot für den FörderschwerpunktSehen. Als sich dann ab Mitte der 90er Jahre der Mobile Dienst Sehen in den einzelnen Regionalabteilungen Niedersachsens zu formieren begann, war Josef Adrian immer wieder ein fester Anker bei inhaltlichen und organisatorischen Fragen. Der Mobile Dienst Sehen wuchs schnell, immer mehr Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung oder Blindheit wurden bekannt, immer mehr Lehrkräfte nahmen ihre Beratungsarbeit auf. Konzepte wurden erstellt, regionale und überregionale ganztägige Dienstbesprechungen eingerichtet, Fortbildungen initiiert, organisiert und durchgeführt. Der Input kam dabei häufig von Referenten aus dem Team des Landesförderzentrums Sehen in Schleswig, deren Teilnahme durch die Leitung ermöglicht wurde. In dem Maße jedoch, in dem die Aufgaben Zunahmen, häuften sich auch bestimmte Schwierigkeiten in der Beratung und Unterstützung. Wenn wir darüber mit dem immer an unseren Fortschritten interessierten Josef Adrian sprachen, hörten wir von ihm den Satz: „Wenn es keine Widerstände gäbe, bräuchte es uns nicht!" In diesem Satz zeigt sich einmal mehr die tiefe inklusive Haltung, die er in sich trägt. Für jede einzelne Schülerin bzw. für jeden Schüler, die bzw. der sehbehindertenspezifischer Unterstützung bedarf, muss jeweils genau analysiert werden, welche Unterstützung und welche Hilfen sinnvoll sind. Im Rahmen der Umsetzung dieser Maßnahmen gilt es alle am Prozess Beteiligten einzubeziehen, Gespräche zu führen und Überzeugungsarbeit zu leisten, so dass ein wirksames inklusives Setting entstehen kann. Nach 25 Jahren Tätigkeit hat der Mobile Dienst Sehen in Niedersachsen den notwendigen Bedarf an sehbehinderten- und blindenpädagogischer Unterstützung in der Fläche nachgewiesen. Für die inhaltliche fachgerechte
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Besuch der European Agency of Special Education:
Das Bild zeigt die Gruppe der europäischen Besucher mit Vertreterinnen des Bildungsministeriums von Schleswig-Holstein, des IQSH und der Leitung des LFS (2008)
Argumentation hat sich Josef Adrian in dieser Zeit immer hilfsbereit und offen für Gespräche gezeigt. Im Jahr 2011 ist es in der Regionalabteilung Lüneburg gelungen am Studienseminar für Sonderpädagogik ein Fachseminar für Beeinträchtigung des Sehens zu eröffnen. Anwärterinnen und Anwärter konnten nun erstmalig in Niedersachsen zu Sehbehinderten- und Blindenlehrkräften ausgebildet werden und dies ausschließlich in inklusiven Settings. Auch hier gab es Widerstände, kritische Stimmen waren vor allem aus den Reihen der entsprechenden Förderzentren zu hören. Auf einer Zusammenkunft von Leiterinnen und Leitern der Blindenbildungseinrichtungen Norddeutschlands ergriff Josef Adrian Partei und machte deutlich, dass es keiner Schule für Blinde und Sehbehinderte bedarf, um eine gute Ausbildung im Förderschwerpunkt Sehen anzubieten. Inklusive Settings, in denen Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigung des Sehens beschult werden, und eine fundierte Aufbereitung praxisrelevanter Themen im Fachseminar Sehen bieten einen mehr als ausreichenden Rahmen, um angehende Lehrkräfte adäquat auf ihre zukünftigen Aufgabenbereiche vorzubereiten und sie zu guten Blinden- und Sehbehindertenlehrkräften auszubilden. Nachdem immer mehr Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf an allgemeinen Schulen beschult werden, gibt es in Niedersachsen zunehmend Bestrebungen, auch auf organisatorischer Ebene eine Struktur zu schaffen, um die Inklusion vor Ort, im Landkreis oder der kreisfreien Stadt zu unterstützen. Neben einer guten regionalen Zusammenarbeit ist es aber gerade für einzelne Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung und Blindheit in einem, zwei oder drei Landkreisen beraten und unterstützen, notwendig, sich überregional mit anderen Sehbehinderten- und Blindenlehrkräften zu vernetzen. Im Rahmen dieser Debatte hat Josef Adrian auf einer Veranstaltung mit der niedersächsischen Kultusministerin sehr deutlich machen können, dass es aufgrund der geringen Prävalenzrate der Schülerinnen und Schüler mit Sehbehinderung und Blindheit und der daraus resultierenden geringen Anzahl der
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Lehrkräfte im Mobilen Dienst Sehen einer überregionalen Steuerung und Organisation innerhalb der Regionalabteilungen In Niedersachsen bedarf. Eine überregionale Struktur mit Dienstbesprechungen und Fortbildungen garantiert mit Hilfe eines Kompetenztransfers und fachlichem Input den Erhalt der Fachexpertise, so dass die vielfältigen Aufgaben Im Mobilen Dienst Sehen wirksam von den Kolleginnen und Kollegen wahrgenommen werden können. Josef Adrian zeigte auf, dass die Mobilen Dienste Im Förderschwerpunkt Sehen nur mit Hilfe überregionaler Anbindung die notwendigen fachspezifischen Bildungsangebote, z. B. auch In Form von Schülerkursen, bereit halten können, die an der allgemeinen Schule fehlen, um allen Schülerinnen und Schülern mit Sehbehinderung oder Blindheit die vollständige Teilhabe an Ihrer wohnortnahen Schule zu ermöglichen. Dennoch hat die Politik und die landesschulbehördllche Vertretung des Landes Niedersachsen für die Mobilen Dienste Im Förderschwerpunkt Sehen bis heute keine adäquate Struktur In Schulgesetzgebung und Erlassen geschaffen. Die Verleihung des Jakob Muth-Preises an das Landesförderzentrum Sehen in Schleswig ist sowohl Bestätigung als auch Aufforderung und Vorbild für eine notwendige zukunftsträchtige Inklusive Pädagogik Im Förderschwerpunkt Sehen in Niedersachsen. Diese Haltung, die eng mit Josef Adrian verbunden Ist, wird uns auch weiterhin In der niedersächsischen Arbeit begleiten.
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