Lea Ritter-Santini: L’italiano Heinrich Mann, Bologna 1965
Übersetzt von Sabine Russ
Einleitung
Auf den letzten Seiten von Ein Zeitalter wird besichtigt (die Autobiographie im Fluß der Erinnerung, mit der gleichen Leuchtkraft der Essays als die Emigration und das Exil am schwersten und schmerzhaftesten waren - sie teilt mit Feuerbachs Mimesis das Bedauern und das Leiden daran, keinen Trost, keine Antwort, und vor allem keine Bestätigung aus den eigenen Werken ziehen zu können) - erinnert sich Heinrich Mann an den Besuch eines brasilianischen Diplomaten und seiner Frau aus der Toskana, den sie ihm in Frankreich machten.
Wir könnten anders sein ist der Titel des Kapitels der verlorenen Wünsche und der Klage. Während er dem freundlichen Geplauder der Dame, in Italienisch, folgte, fühlte Heinrich Mann die florentinischen und römischen Momente wieder hervortreten. „Ich dachte: Zehn Jahre meines Lebens habe ich mich in der Sphäre dieser Musik bewegt. Plötzlich fühlte ich, und so nah habe es nur diesmal gefühlt: Kein Unterschied, ob zehn Jahre oder eine Ewigkeit.“
Daß diese Ewigkeit nicht ganz vergessen wird, und auch nicht das Land, in dem sie gelebt worden war, bleibt sein geheimes Streben. In einem anderen Zusammenhang stellt H. Mann viele Jahre später (1946) fest: „... 1911, als eine heitere Komödie in Berlin die fünfzigste Aufführung erreicht hatte, ging der Autor zu einer italienischen Schauspielerin, Lydia Borelli, um ihr die Rolle zu bringen. Die Rolle paßte nicht für sie, wie er im Stillen auch wußte; er folgte nur dem Wunsch, eine Spur seines Daseins in diesem Land zu hinterlassen.“1 Arnoldo Mondadori hatte bei ihm anfragte, zum 40. Jahrestag der Gründung des Verlagshauses Mondadori sollte ein Katalog all seiner Autoren angefertigt werden, und bat ihn, einen seiner Autoren im Exil in Los Angeles, eine Autobiographie zu schreiben.
Als H. Mann 1893 zum ersten Mal nach Italien kam, war er nicht mehr als der „natürliche“ Bruder von Thomas; für die Literatur waren beide noch unbedeutend. In Italien würden sie auch noch lange Zeit wie Öltropfen im Meer einer anderen Gesellschaft schwimmen, immer auf der Suche nach sich selbst.
Heinrich wurde am 27. März 1871 in Lübeck geboren. Die Kindheit verbrachte er als Mitglied des Großbürgertums der Stadt mit den kleinen feuchten Gassen voller Wind, der vom Baltikum herüberweht. Die Patrizierfamilie war erfüllt von der Hochachtung und dem Bedürfnis nach Dekor, das immer von den in Profit umgesetzten wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgeht und von einer untadeligen, aber nur fast bürgerlichen Disziplin. Die Jugend durchlitt er mit dem Stachel der Schulzeit, die gerade in diesen Jahren nur die praktische Tyrannei eines Systems war, das nie Lehrerinnen mit „roten Federn“ gekannt hatte. All das wird ein paar Jahrzehnte später bekannt und exemplarisch werden, „zu lesen in jedem Handbuch - vor dem Hitlerregime“. H. Mann schrieb: „nachdem wir zwei dicke Bände lang hanseatische Kaufleute gewesen waren, brachten wir es endlich … bis zum Künstlertum“, und verwies damit auf die Geschichte der Buddenbrooks.
Von mit den Büchern und Manuskripten - auf geheimen Transporten von München vor der Konfiszierung nach Prag gerettet, weit weg von dem Deutschland der Nazis, bei denen H. Mann als Erster der feindlichen Literaten galt - bleibt bis heute nur ein seltsames Notizheft auf Karton, mit einer Reihe von 35 Bleistiftzeichnungen, ohne Datum und Ortsangabe: Die ersten 20 Jahre: 1875-1891. Autobiographische Zeichnungen, so liest man auf der Archivkarte (Nr. 461 TN IV). Man sieht das Innere des Salons Makart, die Umrisse von Vorhängen und Konsolen, manchmal schwerfällig, manchmal unsicher skizziert, sowie die Zeichnung des gierigen und verwunderten Gesichts eines Jungen, gekleidet wie ein Seminarist, der hinter einem Vorhang verborgen den geheimen Kuß eines wilhelminischen Offiziers und einer opulenten Dame beobachtet, von der nur noch das Stiefelchen zu sehen ist. Dann derselbe kleine Junge, ein bißchen größer und eine andere Dame verehrend, auf einer Zeichnung, die an die Ironie des Humoristen Zille erinnert (in Mann etwas höher gebildet, da das Subjekt bürgerlicher Herkunft ist, und nicht der Beinkratzer Berliner Wäscherinnen in den Hinterhöfen).
Die Zeichnungen dieser ersten 20 Jahre sind nicht eigentlich die Bilder, an die sich das Publikum inzwischen gewöhnt hatte, um jedes Mitglied der Familie Mann den Buddenbrooks zuzuordnen. Darin steckt der Geist des „Simplizissimus“ und die satirische Rebellion von Th. Th. Heine. Rückblickend und in großer Verzweiflung, später meist bescheiden, gezügelt und immer in die Anonymität fliehend, hatte sich H. Mann, wenn man ihn nach biographischen Bezügen fragte, nur in diesen Zeichnungen selbst wiedererkannt, wie man ihn nur in der Wahrheit mancher Briefe wiederfindet oder in der Verkleidung seiner Romanfiguren: unruhig, schüchtern, erstickt von den Plüschmöbeln, besessen von weiblicher Gegenwart, versucht, die Welt zu entdecken. Das Kind, die 1929 entstandene autobiographische Novelle, ist vielleicht die einzige, die vollständig die kindlichen Eindrücke sammelt. Der Unbekannte von 1906, der der Frau des Konsuls im Garten nachspioniert, könnte deshalb die gleiche verängstigte Verwunderung des Knaben der Zeichnung haben.
Eine Fotografie hält ihn als Kind fest: blond und freundlich, in schwarzem Samt, neben einem Tischchen voller Zinnsoldaten, die wahrscheinlich die Uniformen des 70er Krieges tragen. Noch war ihm der Bruder Thomas nicht nahe (er wurde 1875 geboren). Er war der Erstgeborene, dann folgten nach Thomas, Julia (1877), Carla (1881), die Heinrich am meisten lieben wird. Als fast 20 Jahre später der letzte der Familie Mann, Viktor, geboren wurde, hatte sich Heinrich, der sich bereits in Dresden aufhielt, schon erwachsen und als Literat gefühlt, so daß er als Motto für die Taufe Verse von Wieland auswählte.
1890 arbeitete er in Berlin beim Verleger Samuel Fischer und besuchte, ohne die Absicht ein akademisches Studium zu absolvieren, Vorlesungen der Philosophie und der Philologie an der Universität. Als nordischer Gentleman und empfindsamer „homme de lettres“ war er entschlossen, einer Berufung zu folgen, deren Fähigkeiten er in sich fühlte, ohne gleich die Ausdrucksmittel zur ihrer Umsetzung zur Hand zu haben. Nach dem Tod des Vaters 1891 besaß er die finanziellen Möglichkeiten, ohne sich als Deserteur der Rasse distinguierter und reicher Kaufleute fühlen zu müssen. Er folgte der Mutter, die den Süden der feuchten grauen Hansestadt vorzog, nach München.
Die ersten poetischen Versuche erfolgten bereits 1885. 1890 hatte er eine erste Novelle veröffentlicht, dann wurde er durch eine Krankheit zu einem Kuraufenthalt in Wiesbaden gezwungen. Im Herbst 1892 ist er in Lausanne, im Mai ‘93 in Paris, dann in Rom und Florenz. Er durchreist ganz Italien, um das zu finden, was die Beschreibungen der französischen Literaten und die unterhaltenden Ausbrüche Heines als die obligatorische Topographie des Novizen festgelegt hatten.
In Italien bleibt er und kehrt immer wieder dorthin zurück, beunruhigt oder begeistert. Er glaubt, sich zu Hause zu befinden, schreibt Romane, die er später - schon selbst zum Beispiel geworden, zum Meister der revolutionären und die eigene Zeit kritisierenden Generation, der Vorreiter des Expressionismus - nicht anders akzeptiert als zur Legitimation seiner Arbeit, da sie für ihn nur formativen Charakter hatten: Er war zu sensibel, um nicht zu erkennen, wie sehr seine literarische Emotionalität diejenigen Romane unter ihnen überflüssig gemacht hatte, die zahlreich in der Reihe der Romane mit psychologischen Konflikten entstanden waren, die zu dieser Zeit im neuromantischen Europa Mode waren (In einer Familie, München 1894).
1895 folgte ihm Thomas nach Italien. Das waren die Monate von Rom, Via di Torre Argentina 34, und die von Palestrina in der Pension Bernardini. Thomas kehrte nochmals zum Bruder zurück, 1900 nach Florenz, während Heinrich bereits am ersten Roman der Trilogie mit italienischem Ambiente arbeitete: Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy.
Italien, Florenz, waren für ihn Leidenschaft und Versuchung: In Florenz las H. Mann während der Pause im Theater, das ihm als Stimulans diente, aus Gewohnheit der ständigen Suche nach Inspiration einen Artikel in der Zeitung und übertrug ihn in den Roman, der ihm zum ersten wirklichen Erfolg vor dem Untertan führen sollte: Professor Unrat oder Der blaue Engel - das war 1905.
In Florenz, zwischen Fiesole und Settignano, wohnte auch die junge Frau, die nach der Schwester Carla vielleicht den größten Eindruck auf den jungen Heinrich gemacht hatte. Ihr Vater war Deutscher, die Mutter Südamerikanerin, wie auch in seinem Fall. Ines Schmied war sensibel und intelligent, sie wurde in die Hauptfigur des Romans Zwischen den Rassen (1907) transformiert. In Florenz, zwischen der Piazza della Signoria, wo er eine zeitlang auch mit der Schwester Carla gewohnt hatte, und dem Lungarno delle Grazie schrieb er Pippo Spano (1905), die lange Novelle, die erst Jahre später als das ironische Meisterwerk des „Renaissancedichters“ erkannt wurde, und den die Deutschen allerdings nicht verstanden. Aus Florenz kam Ginevra degli Amieri (1906). Der Held aus Jagd nach Liebe (1903) war vor der Münchener Bohème nach Florenz geflohen, nach Florenz kehrte der Autor zurück, nachdem er Venus (1902) beendet hatte. 1902 hatte Heinrich Mann in München Frank Wedekind kennengelernt. 1907 dann Arthur Schnitzler: beide blieben Freunde fürs ganze Leben. Die Isolation war vorbei und damit die wahren Lehrjahre des Unerfahrenen, die er in Italien verbracht hatte: Die Bilanz des Profits hat sich im berühmtesten Roman niedergeschlagen: Die kleine Stadt (1909), geschrieben zwischen Florenz, München und Venedig.
Nach Italien kamen die Münchener Jahre, Leopoldstraße 59. Thomas wohnte bereits in der patriarchalischen Villa der Poschingerstr. Aber Heinrich Mann war 1914 noch immer in Florenz: Das Archiv bewahrt die schüchternen und romantischen Briefe der freundlichen Pensionsinhaberin aus der Via de’ Tintori 67 auf, wohin er häufig zurückgekehrt ist.
Mit dem ersten großen Krieg beginnt der berühmte Bruderkonflikt: Die Betrachtungen eines Unpolitischen und der Essay über Zola (1915). Heinrich, der Pazifist mit seiner fixen Idee einer europäischen Union und Thomas, der in Friedrich und die große Koalition der Deutschtümelei der Nationalisten gefolgt war, stehen sich an der intellektuellen Front gegenüber: Ihre Differenzen hatte Deutschland sehr früh auszunutzen gelernt. Die deutsche Niederlage gab Heinrich recht, und das Europa der 20er Jahre entdeckte seine Verdienste, als im Spätherbst 1918 Der Untertan, dessen Veröffentlichung schon 1911 und 1912 im Simplizissimus und 1914 in Zeit im Bild verboten worden war, plötzlich in einem Monat zigtausende Exemplaren verkaufte.
„Stofflich, stilistisch, besonders in meinen Anschauungen der Zeitgenossen griff ich um einiges vor. Daher war von 1900 bis 1916 mein Erfolg immer nur „literarisch“. Wie Wedekind, der es mir sagte, habe ich 15 Jahre gebraucht, um populär zu werden.“ [Brief an A. Kantorowicz, 3. März 1943, Anmerk. d. Übers.]
Plötzlich verkauften sich ca. 1 Million Exemplare der ersten sechs Romane der „frühen Phase“ H. Manns. Der Verkauf half ihm, die Inflation zu überstehen. Zwischen 1920 und 1925 wurde er auch in indirekter Weise politisch aktiv. Er publizierte eine Reihe brillanter und polemischer Essays zur intellektuellen Situation Deutschlands, zu den deutsch-französischen Problemen (aber keiner davon erreichte die kritische Klarheit von Geist und Tat, 1910, und anderer, die er den französischen Autoren Stendhal, Flaubert, Choderlos de Laclos widmete) und die zwei Bände, die die „wilhelminische Trilogie“ vervollständigten: Die Armen (1917) und Der Kopf (1925). Im Sommer 1924 verbrachte er die Ferien mit der Familie in Riccione - er hatte 1914 eine tschechische Schauspielerin, Mimi Canova, geheiratet und hatte mit ihr eine Tochter, Leonie. Sie wohnten am „Lido“, und dort erinnerte man sich, wie er am Meeresufer sitzend Notizen machte. Auf den Gerichtsschreiber Lannas, getreu seiner Methode nach Vorbildern zu arbeiten, geht H. Manns Figur des Gerichtsschreibers Bülow zurück. Die verwöhnte Tochter Alice in Der Kopf bittet um Italienischunterricht und liest Ariost.
Zwischen Berlin und München, in den Jahren 1910-1925, war er auch ein erfolgreicher Theaterautor: Varieté (1910), Der Tyrann - Die Unschuldige (1917 fast identisch mit den gleichnamigen Novellen), Schauspielerin (1911), Madame Legros (1913, die Arbeit mit dem vielleicht größten Einsatz), Brabach (1917), Das gastliche Haus (1924). 1927 kehrt er mit Mutter Marie zum Roman zurück, später folgten Eugenie oder die Bürgerzeit (1928), worin die Erinnerungen an Lübeck zurückkehren, ans Meer und einige Familienangelegenheiten. In Die große Sache, ein experimenteller Roman von 1930, der Jugend des Zeitalters der Technik gewidmet, scheint H. Mann nur eine Möglichkeit der Verwirklichung des eigenen Lebens geltend zu machen: die Arbeit, die Beziehungen oder das Verbrechen. Das ist vier Jahre nach der langen, merkwürdigen und höchst modernen Novelle Liliane und Paul.
Die Zeit, in der er zum „verhinderten Franzosen“ geworden ist - um die Definition von René Schickele zu akzeptieren, der das Leben des Freundes und Schriftstellers zu gleichen Teilen zwischen Frankreich und Italien aufteilen wollte - hatte schon begonnen. Seine politische Position war bereits klar und kämpferisch gegen den Nationalsozialismus Hitlers gerichtet. 1932 ergeht seine letzte und unnötige Warnung an Deutschland mit dem Bekenntnis zum Übernationalen, veröffentlicht in Die Neue Rundschau. Von einigen Aktivisten wurde er als Kandidat für das Präsidentenamt vorgeschlagen: H. Mann lehnte ab und sprach sich für Hindenburg aus. Nur wenige Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, gelang ihm die Flucht nach Frankreich, nachdem ihn die Akademie von Berlin, die ihn frenetisch zum ersten Präsidenten gewählt und von Benn an Manns 60. Geburtstag mit einer „klassischen“ Rede gefeiert, ausgeschlossen hatte. Als Nummer 1 auf der Liste Nummer 1 wurden seine Bücher unter den ersten auf den Plätzen Berlins und anderer Städte verbrannt.
Karl Lemke, der ihn gefragt hatte, in welcher Art seine Texte in der Biographie zu bearbeiten seien, die er zu schreiben gedachte, antwortete Heinrich Mann mit raschen und präzisen Bemerkungen: „Zu beachten ist das Maß der Zeit und des Ortes im Roman: es geht vom Baltikum zum Mittelmeer und von 1900 bis 1949, und dann z. B.: Die kleine Stadt, 1909, Bekanntschaft mit Italien seit 1893, oder auch Henri IV, 8 Jahre Aufenthalt in Frankreich, der damals Exil hieß. Früher nannte man es Reise oder Besuch. Das Exil war fruchtbar.“ [Zitat noch nicht nachgeprüft. Anmerk. d. Übers.]
Das französische Exil schuf Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935) und Die Vollendung des Königs Henri Quatre (1938). Als es für Heinrich Mann notwendig wurde ins „richtige“ Exil nach Amerika zu gehen, mit der langen und traumatisierenden Flucht über die Pyrenäen, barg die dortige Atmosphäre keine Inspiration oder Beruhigung für denjenigen, der der Meister der neuen deutschen, nicht konservativen literarischen Generation der 20er und 30er Jahre gewesen war. Viel zu europäisch und viel zu sehr an eine französisch-latinische Tradition gebunden, litt er stark unter der Beleidigung des Vergessens und der Einsamkeit. Los Angeles und Santa Monica blieben ihm zutiefst fremd und unbekannt. Seine Werke waren nicht bis zum amerikanischen Publikum durchgedrungen. Er blieb ein Fremder mit trostloser finanzieller Situation und nur der Bruder des „großen“ Thomas Mann. So war er in das alltägliche Leben geworfen worden - er fühlte sich nur wohl in den Pariser Restaurants oder den römischen Straßen - in einer Stadt, die „vielleicht nur die Autofahrer kennenlernen können, aber auch die nicht besonders.“ [Zitat noch nicht nachgeprüft. Anmerk. d. Übers.]
Der Spötter der wilhelminischen Gesellschaft, der das Schicksal Italiens und Deutschlands vorhergesehen hatte, lange bevor es sich erfüllte, vollendete, vergessen und verbittert (die Lebensgefährtin Nelly Kröger, von der sich viel in Ein ernstes Leben wiederfindet war tot) einen kühnen Roman, schwierig und ganz in den Erinnerungen der Vergangenheit unter der Sonne Nizzas lebend: Mit Der Atem komponierte er seine Autobiographie, die Aufarbeitung der Epoche, die ihn in Italien auf der Suche nach seiner pädagogischen Provinz gesehen hatte, als er noch groß gefeiert wurde in der Hauptstadt des Reiches, klarsichtig und aktiv während des französischen Exils, gerettet aber und verzweifelt in der neuen Welt. Die politische Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt (1947) erschien zuerst in Rußland, bevor sie in Deutschland herauskam: in Italien wird sie ignoriert. Und dabei ist sie vielleicht eines der wichtigsten Werke eines europäischen Schriftstellers, das je geschrieben wurde, der dem Leiden der Entwurzelung, dem Zusammenbruch der Welten und der Epoche an die er geglaubt hatte ausgeliefert war.
Gerade schrieb er an Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen, einem Roman in Dialogform, der Fragment blieb (1960 in Berlin veröffentlicht), als er am 12. März 1950 in Santa Monica starb. Er hatte die Rückkehr in die Deutsche Demokratische Republik vorbereitet: die Akademie von Berlin rief ihren Präsidenten zurück, der nicht ohne Bedenken und Befürchtungen zögerte, die Trümmer seines Pariser Platzes wiederzusehen.
Heinrich Mann ist heute auf einem städtischen Friedhof neben Bert Brecht und J.R. Becher im Herzen Altberlins, neben dem Schiffbauerdammtheater, begraben. Viel lieber jedoch hätte er eine Spur seiner Existenz in Italien hinterlassen.
Diese Arbeit ist nicht nur aus der Lektüre seiner biographischen Notizen für den Verleger Mondadori entstanden, obwohl sie bei den Recherchen geholfen hatten. Sie wurde angeregt von der Irritation über eine verlängerte Lücke in der Kritik, die sich jahrelang nicht darum gekümmert hat, auch die jüngste Germanistik nicht, und von den Problemen deutscher Interpreten, die die franko-italienische Welt Heinrich Manns zu rekonstruieren versuchen. Diese Arbeit ist nicht dem „Romanisten deutscher Herkunft“ gewidmet, wie sich der Schriftsteller in Frankreich oft nannte. Statt dessen will sie die thematische Komplexität des „verhinderten Italieners“ aufdecken und ihr ein Maß zuordnen, das sich nicht mit Verkürzungen begnügt. Es handelt sich nicht darum, eine einfache Persönlichkeit wiederzugeben, um dann damit die Reihe der begeisterten Entdecker zu zitieren, den „pélerins passionné“, die notwendig sind, um unserer Kultur Ehre zu machen. Sein Name fehlt in keiner Literaturgeschichte des letzten Jahrhunderts, aber er ist einer der Schriftsteller, die gerne für Examensarbeiten herangezogen werden, um seine Beziehungen aufzudecken, die, wenn sie sich als zu schwierig oder zu kompliziert erweisen, mit dem Ergebnis eines ästhetischen Urteils der Unterlegenheit aufgelöst werden, dessen zweiter Vergleichsterminus unweigerlich der Bruder Thomas ist. Es war notwendig dieses Klischee einmal aufzubrechen, das inzwischen zu einem Stereotyp geworden ist und das Heinrich immer irritiert zurückgewiesen hat, wenn man ihn auf seine Nachfolge D’Annunzios im 19. und 20. Jahrhundert angesprochen hatte. Er war weder ein Schüler D’Annunzios, noch der nordische Gentleman, der nach Italien gereist ist, um die Kunst kennenzulernen, noch um der kapitalistische Realität Deutschlands zu entfliehen, oder der vom „großen Schatten“ der Familie erstickte Bruder.
In Deutschland ist man jetzt gerade dabei zu entdecken, von welcher moralischen Integrität, Kraft und Klarheit die politische und literarische Persönlichkeit Heinrich Mann gewesen ist: allerdings nur langsam. Der Europäer in Nazideutschland, der nie Kompromisse eingegangen ist, und der leichte Umgang mit der franko-latinischen Welt hatten ihm eine menschliche Wärme gegeben, die es ihm leider nie ermöglichte, in die Sphäre eines „Zauberers“ zu entfliehen. Lavinia Mazzucchetti, die ihn bereits zur Zeit des Essays Zola im Bruderstreit mit Thomas verteidigt hatte, bemerkte später: „Die großzügige „Freundschaft“ ist von Thomas Mann mit sparsamer Konsequenz demjenigen geschenkt worden, der ihm Sicherheit, unverbrüchliche Treue und offenes Verständnis entgegen gebracht hat; aber nur derjenige hat recht gehabt, der schrieb, daß er selbst nur beim Bruder Heinrich die wahre Freundschaft kennengelernt habe.“ Diese Freundschaft ist vorbehaltlos, unkonventionell, begnadet mit der Großzügigkeit der Intelligenz, die weder soziale noch professionelle Unterschiede macht: sie konnte in den Berliner Kabaretts oder am Kurfürstendamm oder in München in der Torggelstube entstehen, so wie z. B. mit Frank Wedekind.
Der „Italiener“ Heinrich Mann hat nicht so existiert, wie es sich das deutsche Publikum und die Interpreten vorgestellt haben, wenn sie seine Romane und Novellen lasen. Darin fanden sie den „gestenreichen Süden“, eine zu meridionale Opposition oder „Verwirrung“, die zwar tolerierbar war, weil sie unterhaltend und modern originell, und vor allem der hanseatischen Ernsthaftigkeit des Bruders entgegengesetzt werden konnten. Italien hat in Heinrich eine fundamentale, methodische Präsenz herausgebildet, die vielleicht in der späteren Geschichte seiner stilistischen Kühnheiten sekundär geblieben ist, da sie unmittelbar an die Lehrzeit gebunden scheint. Die Bindung an Italien während der Lehrzeit impliziert die handwerklichen Bemühungen um Bildung des Substrats und Stils und ist besonders wichtig für die Suche nach dem Ausgangspunkt des Schriftsteller, den Einstieg in die literarische Arbeit zu finden. Es handelt sich hierbei um die gleiche handwerkliche Ausbildung, die Thomas in der gemeinsamen Zeit in München oder in Italien erlernt haben kann, oder doch zumindest mit dem Bruder geteilt hat.
Ohne das im Nachlaß aufbewahrte Material wäre es mir nicht möglich gewesen, die Zeichnung wiederzugeben, die Art der „italienischen“ Struktur dieser Werke aus der ersten Zeit, und ohne die liebevolle Unterstützung von Enzio Raimondi und Marianello Marianelli hätte dieses Buch zwischen zwei Kulturen seinen Weg zum philologischen Ergebnis nicht gefunden.
Die Zitate sind ausschließlich in deutscher Sprache, sofern sie die unveröffentlichten Texte, Notizen und Bemerkungen betreffen, die sich im Heinrich-Mann-Archiv in Berlin befinden, auch wenn sie Varianten der Texten betreffen, die später in überarbeiteter oder anderer Form veröffentlicht worden sind. Texte von besonderer linguistischer und stilistischer Bedeutung, auch einige längere unveröffentlichte Passagen, werden im Anmerkungsapparat in Deutsch wiedergegeben.
Die Romane aus der frühen Schaffenszeit des Autors, außer Die kleine Stadt und Professor Unrat, sind nicht ins Italienische übersetzt worden. Texte und Zitate in Italienisch beziehen sich also nicht auf kürzlich veröffentlichte Übersetzungen, sondern sind immer, auch Die kleine Stadt, original [d.h. des Verfassers].
Von H. Mann sind in Italienisch erschienen: Der Untertan (Mailand, 1919; die Ausgabe ist voller Fehler und Auslassungen, die dazu führten, daß H. Mann gegen den herausgebenden Verlag Casa Sonzogno wegen Verfälschung und nicht bezahlter Tantiemen einen Prozeß führte. Der Untertan wurde dann in anderer Übersetzung 1955 in Turin veröffentlicht); Die Armen (Mailand 1919); Ein schwieriges Leben (Mailand, 1933); Professor Unrat (Mailand, 1934; wiederveröffentlicht dann mit dem Titel Der blaue Engel, Mailand 1955); Die Jugend des Königs Henri Quatre (Mailand, 1937 und 1945); Lidice (Mailand, 1949), Die Vollendung des Königs Henri Quatre (Mailand, 1953); Die kleine Stadt (Mailand, 1955).
Der Anhang bietet einige unveröffentlichte oder fast unveröffentlichte kurze Texte. Letztere sind in der Tat, auch wenn sie in Feuilletons der Berliner Zeitungen zwischen 1894 und 1918 erschienen sind, in keiner nachfolgenden Ausgabe gesammelt worden.
Dostları ilə paylaş: |