Ludberga bis 23 95



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Ludberga – oder: Depeschen aus Eden“

Elija Rijeka und Melanie Faber

CD-Integralversion

(Windows )
Ein "Fax-Briefroman" (in 229 Briefen) mit Erzählungen, Poesie und Tagesereignissen aus den Jahren 1995/96, entstanden in Ludbreg, Podravina, Nordwestkroatien.

[für ein Fortsetzungsmedium oder als Bildschirm-Lesebuch geeignet].

Inhalt ca.575 Seitenausdruck A4, 50Ze, 80Sp, je nach Inhalten typographisch unterschiedene Textblöcke;

als Option Illustrationen in Fotografie oder s/w-Zeichnung;

zum Sujet diverse TV-Mitschnitte Kroatia I-III, Bayern II und DRS III. (August 1997, Sendung "Tiramisu") als Video einsehbar.

Nach verschiedenen Gesichtspunkten gekürzte Ausschnitte: "Ludbergiaden" (90S), "Leseprobe" (100S), "Unheilige Hobelspäne aus dem Paradies" (200S) in Ausdruck oder auf CD über Erasmus Weddigen erhältlich.


Bearbeitung:

Erasmus Weddigen,

Bern CH 3004, Asterweg 7

Tel. & Fax: 0041 / 31 / 302 07 52

Mail: erasmus.weddigen@bluewin.ch

Klappentext:
Zwischen der "Sturm-" Wiedereroberung der Krajina und dem prekären Frieden von Dayton verbringt Autor E.R. über ein Jahr im kroatischen Kleinstädtchen Ludbreg, um als Berater und Ausbilder das dortige Restaurierungszentrum zur Behebung der Kriegsschäden am barocken Kirchengut zu betreuen. Vom Ende der Welt schreibt er an seine Freundin M.F. täglich Briefe, bzw. Faxdepeschen der verschiedensten Inhalte, die jene – etwas seltener – beantwortet: "Faun" fabuliert über seine Arbeit, flicht in schonungsloser Offenheit psychologische und erotische Gespinste, streift die desperatesten Argumente, vom Wetter bis zum Künstlerportrait, vom Kriegsbericht bis zum Fiebertraum; er beginnt Geschichten und Legenden auszuhecken, an denen "Nymph" in ihren Antwortbriefen zuweilen weiterwebt. Es wird die Stadtpatronin und Winzerin 'Ludberga' erfunden, die wie ein Weinrausch die Köpfe der Ludberger erobert; es wird Ludbreg zum Mittelpunkt der Welt erklärt und seine imaginären Antipoden verulkt, eine Strasse umbenannt, ein Monument gesetzt, ein Brunnen für das zur Stadt erhobene kroatische "Schilda" gebaut: die anfängliche Eulenspiegelei gerät zur jährlich öffentlich begangenen Institution. Ein verschlafenes Städtchen wird aus seiner Lethargie gerissen, das beginnt, Ludberga zu adoptieren und den "Weltmittelplumps" für die verschiedensten persönlichen Eitelkeiten, vornehmlich aber touristischen und medialen Zwecke auszubeuten. Am Ende entdeckt man, dass es eine echte Heilige Lutberga oder Liutbirg bereits gibt; tant mieux..
"Ludberga" kann man von nach lesen, oder aber darin diagonal nach Sujets und Themen blättern, denn das Schriftbild ändert mit dem Inhalt der chronologisch datierten Brief-Texte: Ernst oder Ulk, Beruf oder Moral, Tagesgeschwätz oder Erotik, Erzählung oder Politik lassen sich nach Wunsch trennen, wie sie sich ursprünglich realzeitlich mischten.

E.R., Exotheriker, Philhister und Restaurator, 1941* in Schlesien, lebt in B. ebensogut wie in V. oder M. oder R., in Schilda oder in Ludbreg. Bis anhin kennt man von ihm nur kunsthistorische Forschungen, Essays und Künstlerportraits. M.F. 1969* aus S. ist Restauratorin in einem etwas grösseren Ludbreg/Seldwyla im Herzen der Schweiz...

L U D B E R G A
oder:
Depeschen aus Eden.


Elija Rijeka & Melanie Faber



PROLOG

Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

aus dem wir nicht vertrieben werden können

Jean Paul


Ludbreg ist ein städtisches Nest unweit jener Vierländerregion, die man in der Kunstschmiede der Geschichte aus dem alten Territorium der austromagyarischen Monarchie geformt hat, das sich heute Slowenien, Österreich, Ungarn und Kroatien teilen. Wenn man bei uns im fernen Westen den Namen der barocken Provinzhauptstadt Varaždin, fünfzehn Meilen weit westlich von Ludbreg, hört, summen ältere Semester die kitschige Operettenmelodie aus der 'Gräfin Mariza' von Emmerich Kálmán, doch wenige wissen, dass Varaždin einst – wenn auch nur für kurz – vor ihrem fatalen Abbrand, Hauptstadt Kroatiens war. Ebensoweit von Ludbreg liegt östlich Koprivnica, das Städtchen, das nur der kennt, der mit einer unendlich geduldigen Bahn von Paris etwa über Venedig, Zagreb und Budapest nach Moskau fährt und sich wundert, warum man da hält. Um nach Ludbreg zu gelangen, versteht sich! Auf Ludbreg wurden sogar die Päpste Julius II und Leo X aufmerksam, als 1513 die wundersame Heiligblutwandlung von 1411 legitimiert werden wollte, an deren Jubeltag und Kirmes, dem ersten Sonntag im September, jährlich eine halbe Hundertschaft an Tausenden frommer Besucher einströmt, sich hier mit Devotionalien fürs ganze Jahr, oder fürs ganze restliche Leben einzudecken. Das einstige Castrum Jovia am zutode meliorierten Bednja-Flüsschen lässt sich von den südlich gelagerten Weinberghöhen recht gut überblicken, zumal ein einziger gluckenhafter Kirchturm Ludbregs geometrische und spirituale Mitte bezeichnet und sonst ein weiter flacher Bogen die pannonische Tiefebene verrät, an dessen Nordrand man den Plattensee vermutet und bei klarem Wetter rahmen den Horizont die slowenischen Berge. Aber Ludbreg ist nicht nur Kirche, Habitat, Schuhfabrik, Chemie- und Gewerbebetriebe und seine frisch und überfromm ins Freie gekleckerte Betonkultstätte; am nordöstlichen Rande liegt seit eh das Schloss Batthyány in dessen Kapelle einst das Ludbreger önologische (Wirtschafts-) Wunder stattfand: ein impotenter quadratischer Klotz mit Innenhof und umgenutzten davorliegenden Flügelbauten. Das lange als Konfektionsfabrik geschändete Bauwesen zerbröselte in seinem Dornröschenschlaf, bis die Kriegshandlungen des zerfallenden post–titoistichen Jugoslawien 1991 der Anlage neues Leben einhauchten: die alarmierten Doyen der bayerischen Kirche und Denkmalpflege hatten ein anfänglich fast privates Auge auf den verdämmernden Bau geworfen, als es galt, den kriegsgeschädigten Kirchenobjekten, die beherzte Hände aus besetzten und unbesetzten Gebieten vor der serbischen, mehr als unkatholischen Soldateska retteten, eine geeignete Zufluchtsstätte zu finden.

Hunderte von sorgsam in Packpapier gewickelte Mumien, enthaltend die zumeist barocken Laren Kroatiens liegen heute noch in Dutzenden von improvisierten Depots im Lande und harren der konservatorischen Wiederauferstehung; so auch in Ludbreg, wo die Bayern dem Mutterinstitut in Zagreb einen voll funktionsfähigen Spross ins Nest legten, wo man seither zu kleben sucht, was noch zu rekonstruieren ist. Dort säugte, kleidete, belehrte und gängelte die Münchner Amme die jungen kroatischen Zöglinge, während das Schloss mit bayerischen Finanzspritzen und am staatlichen Tropf seine 4000 Quadratmeter zu regenerieren suchte, sie als künftige Laboratorien, Dormitorien, Lehrstätten und Lagerräume dem öffentlichen Kulturwohl zu überantworten. Da die Nabelschnur nach München nur in sporadischen Schüben ihre nährende Flut vermitteln konnte, fand man für eine erste Genesungsperiode den Krankenpfleger, am Bette des jungen Patienten zu wachen, mitunter in der Figur des Schreibenden, von Hause Kunsthistoriker und Restaurator, dem das Exil am Ende der Welt nicht nur die Möglichkeit bot, Neuland und ihre Bewohner, eine Kultur und ihre Probleme, eine Aufgabe und ihre disparaten Perspektiven, einen Berufswinkel mit ungeahnten Erfahrungen zu entdecken, sondern auch privatim das Jahrzehnte verschlafene Organ zu aktivieren, das dem vergessenen Briefeschreiben vorsteht. Denn was tut man, wenn die nahen Pfade der Umgebung abgeschritten, die Monumente besucht, die Weinberghäuschen, Wirtshäuser und Cafés leergetrunken, der Kollegen Geburtstage gefeiert, deren Familien begrüsst, die Honoratioren kennengelernt, der Papierkram erledigt, die Rapporte abgeschickt, die Telefonate getätigt und die letzten mitgebrachten Bücher gelesen sind? Ist ein idealer Adressat greifbar und das, hélas, wird immer seltener, kann man Briefe schreiben in der Hoffnung, sie würden beantwortet, was neue Briefe generiert, bis sich eine gutgeölte Maschinerie etabliert, die wachsend beachtlichen Spass macht. WAS man sich schreibt, ist eigentlich von ebenso geringem Belang, als das WIE; denn nach kurzer Zeit schreibt MAN nicht mehr, sondern ES, dem man sich in Gottvertrauen überlässt und dessen Produkte man kopfschüttelnd am Morgen danach besieht. Voraussetzung ist, dass der Austausch der Briefe blitzartig vonstatten geht und die Zündung des Anderen, so sie zündet – gibt es doch hundert Gründe für deren Ausbleiben – immediat ist: nur das moderne Faxgerät – das noch jüngere Mailing fand noch keineJüngerschaft - war dazu in der Lage und ich muss gestehen, ohne diese Errungenschaft vom Jahresanfang sässe ich noch heute an Seite fünf und kaute an einem Bleistiftstumpf. Wenn aus der Aneinanderreihung jener fast zufälligen Depeschen letztlich ein Buch wurde, so ganz im Sinne des obengenannten Jean Paul, der zutreffend meinte "Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde." So hatte das Elaborat auch ursprünglich keinen Titel; und der verdichtete sich nur etappenweise in:

LUDBREG, ...ODER DIE KUNST DER FÜGUNG, dann: ...NEUERE [NARRHEITEN] WAHRHEITEN ÜBER DEN SÜNDENFALL ein Titel, jahresletzlichen Monats 95 geändert in: LUDBREG, ODER: TELEGRAMME AUS DEM PARADIES, endgültig umgetauft in:

LUDBERGA – ODER: DEPESCHEN AUS EDEN.

Die angebetete Muse, Nymph (oder verniedlichende Varianten) aus hier nicht weiter verfolgbaren Gründen spitzbenamt, war ein Wunder an Empfang, wenn auch zunehmend rarerer Sendung im fernen B. Wenn ich bedenke, dass mein letztes amouröses Billett etwa von 1989 datiert und kaum zählenswerte Vorgänger besass, muss die Qualität und Intensität der musischen Inspiration beachtlich gewesen sein. Deshalb will ich mich hüten Uneingeweihten Zivilstand und Adresse der Beflügelnden zum pegasischen Missbrauche preiszugeben...

___ ___ ___

ES begann mit dem vorletzten Tag des Januar im kaum angebrochenen Jahre des HERRN 1995, als, vom Reisekater und dem Schauder vor dem unbekannten Neuen überwältigt, aus obigem Anlass notorisch Faun Signierender, zum ersten Male in die privatime Notebook-Tastatur griff, gegenüber Nymph, dazumal in ganz gegenseitiger Leihgabe, sein Los in der Fremde zu beweinen. Das sah nach einigen Stunden angestrengten Meditierens so aus:

(1) Ludbreg, Dienstag 31.1.1995; 21.30

Nymph, meinster,

auch wenn ich Dir in die Muschel seufzte, es sei heute, nach 1111 Kilometern von B. nach L. zu spät, irgendwelche Worte aus dem von Eindrücken überreizten Kopf zu destillieren, zu Sätzen zu bündeln und in die Tasten zu hämmern, lässt mir der Gedanke, der mich den langen Weg über immer wieder neu befiel, trotz des kristallinen Himmels, der braungedörrten Wiesen, der unendlichen Hügelketten mit den winzigen Weinbergflecken, gekrönt von unzähligen noch winzigeren Weinberghäuschen, den überschwemmten Wiesen, in denen sich ein bodenloses Blau spiegelte, trotz der nicht endenwollenden Strassendörfer mit ihren bröckelnden Fassaden, vor denen Schulkinder der bulligen Busse mit ihren schiefen Mäulern harrten, jene samt ihren bunten Tornistern zu entführen, trotz des hektischen Schlängelns zwischen gammligen Lastwagen und ungeduldigen Nahverkehrern, – keine Ruhe, dass mir die Stunde schlüge, in der ich, wie vor Jahren schon versprochen und unendliche Male aufgeschoben, Dir zu schreiben ernsthaft zu erwägen hätte, mit dem Ende, es auch wirklich zu tun, ungeachtet der warnenden Erfahrnisse mit früheren Briefen und deren selten empfänglichen Empfängerinnen – denn nur solche waren die Meten meiner einstigen so unvermeidlich strandenden Versuche – und mit der Absicht, die unsichtbare Hürde meiner atavistischen Bedenken und Ängste mit einem Anflug von amokverdächtigem Mute zu nehmen, die Schwellen doch so unbegründeter Seelenhemmnisse abzuräumen, vom Eise des Aberglaubens befreit in die heiteren Ebenen herzlicher Offenheit hinab– und hinauszugleiten (wie es mir auf meiner Reise geschah, als ich die schroffen Karstgebirge hinter mir liess, die Auen mit den mächtigen, struwwelpetrigen Weiden, die niemand mehr schneidet, bis sie an der eigenen Haarfülle vermorschen, erreichte und unter die fahlen Schilfe tauchte entlang der träge sich dahinmäandernden Bäche, deren geböschtes Unterholz, noch vollbehangen wie welker Christbaumschmuck vom Unrat emporgestrudelten Schmelzwassers der jüngsten Gewitter, mir die Sicht auf die fernen weissgekalkten Kapellen verwehrten) und Dir nun den ersten gültigen Brief zu verehren, da ja jener ferne allererste als solchen zu bezeichnen nicht angeht, war mir damals doch von Dir über Dein denkwürdiges Geburtsdatum hinaus nur das wenige bekannt, das Du über Dich selbst zum Behufe der Bewerbung und noch nicht der Werbung, wie es mir nun, nach Jahren überreichster und beglückendster Erfahrungen eigentlich anstünde, berichtetest; gültig auch, weil er gleichsam Billett, Eintrittskarte sein will, in ein Zwiegespräch mit Dir über die entmutigenden Distanzen und Trennungszeiten hinweg, die uns so unausweichlich bevorstehen, hoffend, dass diese Art des Dialogs, von dem ich nicht weiss, ob und wie er zustande kommen wird und der voraussichtlich seismographisch die Holper– und Stolperpfade meiner Stimmungen aufzeichnen wird, ungeachtet der ästhetischen Makel, der zuweilen wortkargen Kürzen oder überschwenglichen Längen, des unvermeidlichen Seelengebrösels an Selbstmitleid, Heimweh (hélas, auch dieses muss ich mir, und was schlimmer ist, Dir eingestehen!), Unlust und beruflicher Verzagtheit, Dir nicht widerwärtig ist oder wird, oder dank der Manierismen, wie sie hier unter meinen Zeigefingern zur eigenen Verwunderung fast ohne Nachhilfe, nicht einmal der hier so berüchtigt kroatisch–alkoholischen, die ja schon zu viele Stunden zurückliegt, soeben entstehen, Deine Geduld überfordert, womit Absicht und Sinn der wohlgemeinten Übung gänzlich fehlgeleitet wären und uns zur Rückkehr ans bequemere, aber auch vulgärere Telefon, an das mein Herzklopfen sich nimmer wird gewöhnen können, nötigte – kurz, Liebste, wie ich Dir nur in einem einzigen flüchtigen Satze zuwerfen wollte, als sei's eine vom anfahrenden Zuge verwehte Kusshand, lass Dich von diesem bitte, bitte nicht abhalten, mir ein noch so kurzes Wörtchen der Antwort zurückzurufen, -schreiben, -faxen, was immer auch Dein von mir so umgarntes Herz erlaubt, – Faun, Deinster!

(2) Ludbreg, Mittwoch 1.2.1995; 18.30

Nymph,

soeben hat mir meine wohl nicht genügende Eitelkeit die Zehn-vor-sechs-Uhr-Sendung des dritten kroatischen Fernsehens – soweit zählt man hier mittlerweile im Medien-Kilt des gebeutelten Balkanstaates! – meinen minutenlangen Auftritt zu sehen vereitelt, der es morgen mit sich bringen wird, dass ich nicht mehr unbesehen und unerkannt durchs Städtchen zum Schlosse schleichen kann, musste man doch meine alles andere als rühmliche Ankunft publikumswirksam begehen, auch wenn das einäugige Ansurren der Cameranden wohl pure Koinzidenz gewesen sein wird. Den Unsinn, den ich in meiner Verwirrung sagte, dolmetschte gnädiglich bessernd unsere clevere Dokumentaristin, während die männliche Belegschaft sich heimlich die Haare glättete, die Schürzenschösse knöpfte und nach wirkungsvollen Beschäftigungs-Perspektiven äugte, einen Satz, ein Würdewort im Munde lautlos wiederkäuend, das es vielleicht choreographisch treffend anzubringen gäbe...

So wird für Sekunden Ludbreg zum Auge des Zyklopen, lässt den dicken Bürgermeister seine halbentpflasterten Betonpromenaden vergessen, denen der staatliche Segen wohl erst im nächsten Jahrtausend die versprochenen Kandelaber angedeihen wird, deren Kabelstränge wie welke Tulpen aus den Bürgersteigen spriessen, an die vierzehn ebenso unfertigen Stationskapellen gemahnend, die vor der Stadt die zementene Grotten-Apside der heiligen Trinitas umstehen (inzwischen von zwei Eselsohrtürmchen überhöht –), von der aus ein jährlicher Kardinalsbesuch die unabsehbare Pilgermenge segnen wird, von welcher sich auch die letzte Seele Ludbregs den Schimmer eines Gnadenpfennigs erhofft, der wiederum geeignet wäre, dereinst die Promenaden mit dem kränklichen Jodlampenlicht der erträumten Sparbirnen zu erleuchten...

Gäbe es den wuchtigen ein wenig ins Abseits geschobenen Schlosskubus nicht, der sich über die geduckten Althäuser, aber auch über Titos rosttriefende Flachdächer und Sozialbalkons erhebt, würde nur der fugenhaft zweimal gezwiebelte Helm über seinem ein wenig zu massigen Kirchturm dem woherauchimmer und warumauchimmer Anreisenden die Existenz eines mehr als dörflichen Anwesens vermelden: denn schon im Winkelblick der Kirchhofmauern biegen die Strässchen ab in löchrige Feldwege, gesäumt von ihre Altersruhe längst verdienten Lastwagen, von den Leichen ausgeschlachteter Karossen volkseigener Stile, den Hasenställen und wellblechenen Unterständen von weit zusammengetragenen Holzes und dann und wann von müde gebeugten Mieten gegrauten Maisstrohs oder grünbemoosten Heu’s hinter altersschwanken Bretterzäunen.

Der sich des neuen Konsumstandes bewusste Städter flieht das ausgelebte Zentrum einstöckiger Erben der Puszta-Katen und zieht, gewaltige vierhundert Meter hinaus, entlang der öden Achsen an die Peripherie zwölftonigsten Freistil- und Freizeitgestaltens; weiter hinten, schon in die verwaisten Wiesen hinein, reiht der Staat seine Zündstoffschachteln und die kleinen Schulter-an-Schulter-Anliegen fürs kleine Beamtenglück und wenn ihm die nun vogelfreie D-Markwirtschaftlichkeit misslingt, nistet er zur Not die Ämter auch mal untermietend hinter Glasveranda, Vorgärtchen und Garagenrollos ein. So fand ich den Gemeindejuristen umringt von rustikalem Neuwert-Mobiliar und einer konkaven Zeile hochlehniger Zeugensessel auf drei mal vier Meter Mittelstandsalon, von dem ein gut Teil der staatseigene PC-Driver-Drucker-Tabulatur-mit Monitor, Walkman und Maus verschlang. Noch roch's nach Verputz und Dispersionen und statt der Akten im Antikbüffet stand jene unverwechselbare Flasche Slibowitz, aus der man auf den leeren Magen brennende Eide zu schwören genötigt ist. Mit wehenden Schnäpsen wurde ich der Gemeinde einverleibt, der Fremdenpolizei aktenkundig, dem Verkehrswesen fahrbewilligt und der Schlummermutter steuerverpflichtet; nur Müllent-, Wasser-Versorgung und Friedhofsverwaltung wollten mich noch nicht, noch nicht... Übrigens ist besagtes Mietmütterchen Marija Pomper des Namens, mit allem wen sie behaust, was sie laust, wen sie beknaust, vor wem sie sich graust usw. einen Schlenker ins Anekdotische wert, doch werde ich Dir dies mit Musse im nächsten Briefe berichten. Faun.

(3) Ludbreg, Donnerstag 2.2.1995; 19.30

Nymphchen, soeben belauschtes,

stand ich doch schon auf der Schwelle, die hellhörigen, aber bereits in Mondlicht getauchten Säle und Treppen des Schlosses zu verlassen, in dem heute so nachhaltig Staub aufgewirbelt wurde, dass nun alles von einem lehmgelben Laken überlagert ist und das von polternden Balken und schaufelnder Geschäftigkeit erdröhnt hatte, als gälte es, die letzten guten gräflichen Geister der Batthyány aus den Mauern zu verscheuchen, da triebs mich doch noch mal, zum Hörer zu greifen, das ferne Glück zu versuchen und siehe da, höre da...

Wenn ich in meine Mietklause durch die Veranda vom Garten her hereintrete, den Essraum durchquere, bleiben mir vier Möglichkeiten virtueller Wahl: ins Badezimmer zu huschen, geradeaus in die Küche zu stürzen, meine Einkäufe aus einem der kioskartigen Alles-für-Jeden-Lädelchen in Kühl- und anderen alterskrummen Kunstholzschränken loszuwerden, rechts hinauf in den uns Gästen vorbehaltenen Stock zu steigen, oder aber vom strengen Auge der einjährigen Tankstellenwart-Witwe Marija angesogen, geradewegs ins Wohnzimmer zu tänzeln, die wenigen Worte der Begrüssung zu stammeln, die mein kroatisches Gedächtnis behalten hat. Mit mütterlicher Genugtuung wird stets die unfreie Wahl mit einem schwärzlichen Seufzer quittiert, dieweil das andere Auge unbeirrt eine jener bunten Tele-Novelas verfolgt, die von kroatischen Lettern zerteilt, mit amerikanischer Grazie über den Bildschirm wuseln. Ihre schwarzen Blusen und Röcke dürften einst für magerere Zeiten oder einen amöneren Körperbau geschaffen worden sein, allein sie heben sich vom abgegriffenen Plüsch der Pfühle und vom verlebten Farbengemisch der Langhaarteppiche nicht ungewichtig ab und kein Grund der Welt erlaubte Monna Marija etwa zu übersehen, hat sie doch ihr sechstes Jahrzehnt mit einer Stillampe der 50er sparsam beleuchtet und der Rückweg vom Ausweg in die Küche wäre jäh durch ihre imposante Präsenz versperrt, wollte man sich dort eigenmächtig tummeln. Messer und Gabel würden einem unweigerlich entrissen, um höflichst an den richtigen, versteht sich, selben Ort gelegt zu werden, der Hahn von neuem geöffnet, den Abwasch für den Gast zu besorgen, der es gewagt hätte, die angestammten Rollen zu vertauschen. Der kroatisch-ungarisch-türkische Kaffee ist ihr fast einziges Kommunikationsmittel, wann immer es zu einer Begegnung gereicht, auch wenn sie sich stets verwundert ausschweigt, wenn ich unkanonisch Milch in das Fingerhuttässchen hineingiesse, um doch noch einmal schlafen zu können...

Aber sie besitzt drei erwachsene Töchter die ihrem wachsamen Auge nur so weit entkommen konnten, als sie zu zwei Dritteln in Zagreb Chemie studieren durften und sich nun bereits zu ebenso vielen Dritteln in der Nähe ansiedeln; die älteste hübscheste im Hause mit dem Mercerielädelchen nebenan, so nah, dass man die Wände berühren könnte, die hagerere, mit derselben schüchternen bis verschmitzten Herzlichkeit noch immer im Bannkreis der Alma Mater, nämlich im folgenden Häuschen, nachdem ein ebenfalls zweites Kind getauft und die Schienen für ein langes Hausfrauenunglück gelegt sind...; die jüngste, noch unbemannte, mir noch unbekannte, geht einer Ingenieurs-Professur entgegen, wohl weil man keinen Platz mehr finden wird für ein viertes Häuschen, der Strasse zu...!

Noch sind Kinder, Männer und Katzen der so nahegelegenen Familien von beängstigender Frische, Froh- und Freimut, näht man mir mein geschlitztes Laken, winkt man mich strahlend ans Telefon und lässt man mich den Hauswein vom eigenen taschentuchgrossen Weinberg probieren, dessen biologische Güte jede noch so abgrundtiefe Säure vergessen macht, obwohl er aus einer Fragolino-Traube gekeltert, Anlass, sich nach Latium zu sehnen gäbe.

Faun für heute.

(4) Ludbreg, Freitag 3.2.1995; 15.45

Nymph,

dieweilen das Schloss sich leert – man arbeitet ex officio von sieben bis drei –, Darvin Butković, unser morgenmuffliger „CHEF“, müsste eigentlich immer nachsitzen, was an Freitagen für ihn jedoch eine besondere Zumutung zu sein scheint; am heutigen zumal sollte sich schwiegerväterlicherseits sein Schicksal in Varaždin besiegeln, weil eine versteckte Kamera ihn im Dienstwagen mit hundert durch eine Ortschaft hatte rasen sehen und nur die guten Beziehungen des zwar unpolitischen, doch im Rotary-Club engagierten Schwähers ihn aus der Klemme befreien dürfte (sofern es Darvin nicht gelingt, vor der Hermandad seinen unprägnanten Hinterkopf auf jenen bayerischen von Uli Weilhammer falschzumünzen; und der ist schliesslich ahnungslos und fern...) –...

...

(2/3.2.1995)



Allerbester (so klein, damits bei Euch kein Unbefugter lesen kann)

Hier das 'fast' versprochene Wörtchen. Die Wanduhr hat soeben Mitternacht geschlagen (ja, sie schlägt leider mal wieder und lauter als je zuvor – wahrscheinlich kompensiert sie ihr jahrelanges Schweigen) und ich komme geradewegs vom Kino nach Hause, na ja, nicht so ganz auf dem direktesten – Du weisst schon...

Die Filme, nicht jenen, den wir eigentlich sehen wollten, dafür aber zwei andere, waren recht ausgefallen; skurril bis zum grausigen Ende der eine von Rebecca Horn: eine gestrenge Frau tritt in eine grossartige New Yorker Wohnung und scheucht einen auf einem winzigen Klavier die Titelmelodie aus dem "Dritten Mann" klimpernden Kauz aus dem blendendweiss gestrichenen Paradies, um fünf wahrhaftig "kleinen Mädchen" das Balletttanzen beizubringen und hernach mit einem blinden, steifbeinigen Gigolo einen Tango zu zelebrieren. Daneben bewegen sich, zumeist in Zeitlupe, Zwillinge, die für vier Wochen von der Hausbesitzerin – nur als Stimme präsent – einquartiert worden sind und nun das Treiben der anderen beobachten, besser: belauschen. Die eine telefoniert dauernd mit dem Musikus, während die andere stets alles betastet und beäugt. Zwischendurch schreiben sie – sich in jedem Satze abwechselnd – an einem Roman (dessen Sinn ich nicht ganz begriff – es war englisch; aber die Idee überzeugte: vielleicht könnten "Seelenzwillinge" ein gemeinsames Oeuvre schreiben?). Als sie endlich Hunger verspüren, tritt ein von der verreisenden Hausherrin versehentlich nicht abbestellter japanischer Koch mit einem riesigen Picknickkorb beschwert herein und überlegt, während er kunstvoll rohen Fisch zerlegt, wie etwa in der Folge auch die Frauen zuzubereiten wären. Einzig ihre Duplizität hindert ihn alsbald schilfflötespielend, zu den spitzlangen Vorlegemessern zu greifen und ebenso kunstbesessen deren knackige Schenkel zu schlitzen. (nein, noch ist's nicht das angekündigte, grauslige Ende) – es kommt schlimmer: von der Decke des hellen Saales baumelt vor einem Erkerfenster eine Schaukel herab, die der stumme Zwilling des öfteren beschaukelt. So auch an einem Nachmittage, als der Blinde, auf seine Tanzstunde wartend, sie mit schrulligen Geschichten zu unterhalten sucht. Da man ob der Hitze besagtes Fenster öffnet, doch fröhlich weitergeschaukelt wird, der Blinde etwas abgewandt, munter weiterplappernd nach einiger Zeit bemerkt, dass es verdächtig ruhig geworden sei... da liegt die Stumme – aus dem Fenster katapultiert – schon auf dem Pflaster. Aus purer Verzweiflung bleibt dem Blinden nur, mit der soeben erschienenen Tanzlehrerin zum letzten Tango anzusetzen...

Mittlerweile ist es halb neun Uhr morgens und Du kannst Dir vorstellen, wie miserabel sich ein ungestreichelter Nymph fühlt. Ich habe erneut deine ulkigen Briefe gelesen, die sich aber nicht gegen Deine Nähe eintauschen lassen.... hci ebeil hcid... Nymph.
...

lese ich erneut Deine munteren Zeilen von heute morgen, die ich Venijas flinken Händen entriss, die das Dokumentieren ja nicht lassen können und die auch meine roten Ohren flugs mitgestempelt, sortiert und in einen Ordner gepackt hätten, wäre ich nicht gerade an der Schreibmaschine gesessen, kroatische Texte zu Echterdings Ehren und Ohren in europäische Verständlichkeit zu bringen...



und ich durchforste sie nun schon zum x-ten Mal, bereiten sie mir doch endloses Vergnügen; zum ersten wegen der Neuheit, von Dir überhaupt etwas zu lesen, was über die schulischen Texte, die mir ja auch schon zunehmend Bewunderung abgewinnen, hinausgeht – weit hinausgeht und ebenso weit hineingeht... und zweitens, wegen des so farbigen Fabulierens, das mir Deine Schilderung nahe bringt, als sässe ich selbst vor der Leinwand (hélas, wäre es nur so...!).

Warum sollten "Seelenzwillinge" nicht einen Roman schreiben können? Fast wäre mit Deiner Antwort ein kleiner Anfang gemacht! Die Brüder Goncourt und andere haben schliesslich den Beweis erbracht, so dass man am Ende ihre Hände nicht mehr unterscheiden konnte...

Inzwischen ist es bald sechs, nach endlosen politischen Lamentelen seitens eines der Mitarbeiter, die noch dageblieben sind und die, wie Amateurkunstmaler Ivan, sich genötigt fühlen, ihren Weltschmerz und ihre Verbitterung dem Neuling mit Hand- und Fussgebärden zu erklären...
Nymph, bester, ich schliesse, um Dir mal das vor mir Liegende zu senden; vielleicht bist Du da und hörst mich am Drucker rumoren; bis halb sieben bin ich wohl noch im Schloss und trolle mich dann, um mir ein karges Abendbrot zu suchen, – viel Auswahl gibt es ja nicht und ohne Deine Gesellschaft wird Essen ein pures Ernährungsanliegen. Was gäbe ich dafür, Dir eine Zwiebel schneiden zu dürfen, einen Gin zu mischen, oder mit Dir einen Gioioso auf die Mondsichel anzutrinken!

Lass Dich umarmen (niemand sieht's!!) vielleicht höre ich noch von Dir! hci ebeil hcid - welch herrlicher balkanischer Dialekt! Faun.

(5) Ludbreg, Samstag 4.2.1995; 10.00

Nymph, meinster,

unter dem gestrengen bis vorwurfsvollen Blick Marijas, die wie immer schon um sieben meinen Kaffee aufgeschäumt hatte und mich heute erst um neun erscheinen sah, nachdem sie die erkaltende Kanne in ihrer leicht geizigen Verzweiflung selbst ausgetrunken hatte und infolgedessen ihren hypertonischen Herzschlag am Geschirr, an Wäschestücken und am Mobiliar auszuleben gezwungen war, bereitete ich mein Samstagmorgenhaferflockenmus, das sich von dem anderer Tage kaum unterscheidet, noch je unterscheiden wird, sofern mir die importierten Naturalien nicht ausgehen und ich auf hiesige Genüsse ausweichen muss, die da sind: ein leicht schwammiges Halbweissbrot mit einer zweifellos gesunden Margarine, auf die ich noch immer Barbara Oettle's1 Hagebuttenmarmelade häufen kann, bis auch die den einheimischeren Abenteuern weichen wird. Die Kalorienarmut meiner Ernährung und die von Marija wachsam gesteuerte Zimmerwärme oder besser –kälte, sind untrügliche Mittel, meine eingebildeten Pfunde loszuwerden und meinen Bewegungsdrang zu fördern, der damit beginnt, stets zu Fuss und schwer bepackt mit Büchern und Notebückling zum Schloss zu stapfen; auch der eisige Rückweg in fast nächtlicher Grabesstille gegen sieben, unter einer noch zaghaften türkischen Mondsichel macht mir die letzten Stufen im Hausflur, durch den mich ein gruftiger Zug gen oben schiebt, federleicht, wärmt doch schon der Gedanke, dass vor Ankunft der deutschen Kollegen wenigstens mein Zimmer für die erste Stunde temperiert wirkt, ein Zimmer, das ob seiner stattlichen Grösse kaum für Bewohner ohne immerwährende Bewegung, spastische Natur oder sportliche Therapien geplant war. Da meine Garderobe vornehmlich aus weitärmligen Pullovern Deiner sorglichen Wahl besteht, werden meine Meditationen in parabolisch sich verkürzenden Kadenzen vom Überziehen weiterer Kleidungsstücke unterbrochen, bis ich nach langem Kampf die Waffen strecke und in meinen Schlafsack krieche. Da Verzicht auf Luxus, Bequemlichkeit und leibliche Überfülle inspirierend wirkt, gelingt es mir hin und wieder, den Finger nach der geduldigen Tastatur zu strecken, was den bereits schlummernden Bildschirm wiedererweckt, um Dir einen Gedanken, eine gelungenere Phrase, eine Korrektur zu übermitteln.
Mein Zimmer habe ich nun dreimal gewechselt; das erste, ein Schlafzimmer mit monumentalem Bett mit Platz für eine Garnison, aber nur geringer räumlicher Umgehungsmöglichkeit desselben, es sei denn einer solchen auf einen südwestlichen, im Sommer sicherlich freudvollen Balkon und Blick in kleinstbäuerliche Natur, überliess ich der erst morgen eintreffenden Sieglinde Pfefferkorn, weil eine so geräumige Bettkultur ohne entsprechende Benutzung allzu melancholische Gefühle weckt; S. wird, vielleicht mangels Impetus oder Erfahrung, davon weniger angekränkelt sein; überdies ist sie mit ihrem Maskottchen ja immer zu zweit. Die Nacht im zweiten, einstigen engen Kindernebenzimmer unter Zimelien der hier nacheinander aufgewachsenen Töchter Marijas, war wohl die trockenheisseste nach jener memorablen Hotelnacht im "Dubrovnik" zu Zagreb, wenn auch die interessanteste, was die Rekonstruktion der Viten ihrer Bewohnerinnen angeht. Muscheln und Gestein zeugten von Reisen an die Adria, Postkarten und Münzen von ferneren sonnenbeschienenen Gefilden, Puppen, Glückskäfer, Karten mit grossäugigen Putzischnutzen, Anstecknadeln, verbleichende Familienfotos an Wänden und in Alben geklebt, säuberliche Schulbücher, Kolleghefte über Mathematik und Chemie, ausgeschnittene Journale, Idole, Modemodelle und die letzten Kalenderblätter von 1984; schliesslich fast erotisch zu bezeichnende Plakate mit sich umarmenden Paaren unter offenbar verschiedenen klimatischen Bedingungen an Sand- und Felsenküsten, kurz eine unermüdliche Sammeltätigkeit, was sentimentalische Gedächtnisstützen angeht, ordentlich gehäuft, gestaltet, konserviert und abgestaubt, der Mutter überlassen zu ewigem Andenken der Tage, als ihre Autorität noch total und ihre Identifikation mit dem Nachwuchs noch inniger war. Gottlob versteht Marija nichts von Mathematik und Chemie; stöhnte sie doch gestern abend unter der Last der Steuerabrechnungen und versuchte sie, erfolglos zwar, mir heute früh wieder auf meinen knurrenden Magen ihren Schnaps aufzudrängen, der nach der ersten und hoffentlich letzten morgendlichen Erfahrung etwa fünf Stunden lang seine unguten chemischen Kettenreaktionen austobte.
Mein jetziger, dritter und wohl letzter Schlafplatz ist ein riesiger, infolgedessen nur sparsamst zu erwärmender Salon, dessen klimatisch sicherlich atmungsfreundliche Verglasung ich mit ächzenden Rolläden auf ein Drittel reduzierte und mich somit auch dem offenbar noch immer sozialistischen Wind durch Fugen, Falze und Wetterschenkel auf akzeptablem Niveau widersetzte. Vor einem niedrigen grossen runden Glastisch verrichte ich meine handschriftlichen Bücklinge während mein Nachtlager abwechselnd auf einem der kolossalen Diwane identischen Fabrikates stattfindet, gemäss Morgenstern mal westöstlich, mal südwestlich (nicht weil mich irgendwelche magnetischen Ströme und Adern beunruhigten, sondern aus Laune und dem Gefühl, die Diwane auch gleichmässig abzunutzen, wenn sie schon in beängstigender Zweisamkeit um mich herumstehen. Ein Billigholz–Büffett schliesst, mit wiederum tausenderlei Kram gefüllt, die letzte Wand; meine Neugier, was sich in der rechten Holzklappe verberge, büsste ich mit dem Abfallen derselben unter Zerstörung einer dahintergeschobenen Glasvitrinenscheibe, die nun dreiteilig und nicht gerade in regelmässigen und wiederverwendbaren Scherben des Stündchens harrt, wo ich Marija mein Ungeschick beichten werde... Da ich zur Verwunderung aller weiblichen Familienglieder auf das Ausfalten meiner Diwane verzichte, um unter deren Gewaltsamkeit keine Alpträume ausstehen zu müssen, lebe ich in Schlafsack und Decke in einem recht angenehmen Provisorium, das an einst erträumte Himalaya-Ersteigungen oder längstvergangene, aber meist verzichtete Jugendlager erinnert.
14.10. Soeben heimgekehrt von einem Ausflug mit Ivan, der mich im Dienstwagen durch die Tiefebene Pannoniens kutschierte, um mir das Schwemmland der Drau oder Drava, den Kanal und den grossen öden neuen Stausee, die umliegenden Weiler und Höfe, ein verfallendes Schloss mit Park, Weiher und einst stattlicher Kirche zu zeigen (in letzterer ein junger frierender Priester beim Brevierlesen, uns mit Genugtuung die frische Elektrifizierung des Gebäudes zeigend, die wohl dank einer guten Meile ausgebrochener Kanäle die unter Putz und Kalk gelegene einstige Ausmalung besserer österreichischer Barocktage für immer begraben haben wird). Die malerischen Tümpel, Kiesbecken und toten Arme der alten Drau mit ihrer scheuen Vogelwelt aus allerlei Enten, Reihern und Möwen, enthalten ein so klares Wasser, dass sich nie ein Fisch an die Oberfläche traut; die kaum auszumachenden, ästeüberhangenen Ufer mit ihren Weiden und Haselsträuchern, urtümlichen Birkenleichen und bemoostem Bruchholz dürften, gemessen an der ersten Pracht von Schneeglöckchenteppichen, die Ivan zum Pflücken eines rudimentären Sträusschens stimmte, im Frühling und Sommer fast ebenso farbenprächtig sein, wie die Friedhöfe zu Füssen der kleinen Dorfkirchen jetzt im winterlichen Grau der Hecken und Steinkreuze mit ihren immerblühenden Plastikkränzen, die weithin leuchten und den Eindruck erwecken, als würde hier ohne Unterlass und in Massen gestorben!
Befährt man die holprigen Feldwege, begegnet man selten einmal einem landwirtschaftlichen Gefährt geschweige einer Menschenseele, nur auf der Drau–Brücke rangelten sich gut vier Dutzend Fischer um den besten Angelplatz und unten in den Kiesbänken tummelten sich ebenso viele bemützte und wattiertvermummte Gestalten um sich die letzten Sonntagsbarsche zu erdulden...
Ivan darf man verzeihen, dass er ein mittelprächtig talentierter Maler ist, solange er die lateinische Bezeichnung so mancher Feldblume und so manchen Fisches kennt, über die Schönheiten seines Landes zu radebrechen versucht und glaubt, sich für jeden heimlich in Wald und Feld deponierten Müllberg entschuldigen zu müssen. Nur den Mistelbüscheln, die hie und da ganze Bäume in Rudeln befallen, ja sie zuweilen zur Aufgabe ihres Daseins zwingen, mag er weder magische, amouröse, noch mystische Kräfte abgewinnen, wie man mich dies in meiner Kindheit lehrte, hält er sie doch ganz naturkundlich oder sozialwissenschaftlich (wenn nicht politisch) für Parasiten...

Womit ich eine Pause einzulegen liebe, auch wenn ich sie nicht mit Dir unter einem Mistelzweig verbringen kann; Du weisst um die alte Rechnung, die es noch immer Deinerseits zu begleichen gilt – was hier überdies zum ersten Male aktenkundig wird und womit Du wenigstens künftig keinen Grund von Vergesslichkeit oder Vergessenheit vorschützen kannst! Ci siamo? Dobro.
Werde versuchen, bisheriges in die Piepskiste einzugeben; noch weiss ich nicht, ob Dich die letzte Sendung intakt erreicht hat; sonst funke zurück, ob ich einen zweiten Versuch wagen soll. Lass Dich küssen und sag mir, ob meine Monologe Dich vielleicht langweilen sollten; ich könnte mir ja einen dramatischeren Stil angewöhnen; in der Küche steht noch ein Viertelchen Slibowitz. Dein Faun.

(6) Ludbreg, Sonntag 5.2.1995; 9.45

Meinste,

viel wird mir heute nicht aus den Fingern fliessen, ist mir doch so elend und dreht sich mir der Kopf, als sässe ich in einer Achterbahn. Mein Aufstehen geschah in immer neuen Versuchen, auf den Beinen stehenzubleiben und als ich endlich in Marijas Küche trat, wurde mir angesichts des türkischen Kaffees so schlecht, das ich gerade noch ins Bad übers Waschbecken gelangte. Jetzt im Schloss, von Ivan mit Tee bekocht, nachdem seine inständigen, aber erfolglosen Versuche, mir diverse Schnäpse einzuflössen, Kekse und Vitaminpillen, eine Knoblauchzehe über ein Schmalzbrot gerieben – Gott, mir wird schon übel, mich nur daran zu erinnern! – überlege ich, was mich in diesen Zustand versetzt haben könnte. Das nebelgraue und soeben sich einregnende Wetter nach den strahlenden Sonnentagen der letzten Woche wäre ein mir vertrauter Grund, aber die aus V. mitgebrachte Leberpastetentube vielleicht nicht mehr taufrischen Angedenkens, über die ich gestern abend zwischen zweierlei Lektüre einhaltend herfiel, mag indessen mitschuldig sein, auch wenn ich für gewöhnlich einen stählernen Magen besitze, wenn es gilt, die menschliche Natur als vom Vielfrass, der Hyäne, entfernter wohl vom Aasgeier abstammend, auszuweisen. Besagte Lektüre kann es auch nicht gewesen sein, obwohl nach der anregenden Anthologie "Zerrissenes Herz" über Bosnien–Herzegowina, ein lesenswertes Buch, das mir Buck in München gegen meinen "Vulkan" einhandelte, die zweite, nämlich Tolstois "Kreuzersonate" mich gehörig hergenommen hat und ich bis tief in die Nacht das messianische Drama bis zur Neige in mich hineinlöffelte. Gern würde ich wissen, wie dies auf Dich gewirkt hat; immerhin musst Du es in kaum mehr denn zwei Etappen verschlungen haben, wie ich die Absenz der für Dich so verräterischen Leselsohren deute... Mir gehen so manche Passagen wahrlich unter die Haut, als hätte Tolstoi hinter den ehelichen Schlafzimmergardinen gestanden!

...
(5.2.1995; 10.43)



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