Philosophie -> Vernunft
Pietismus
I. Orthodoxie und P.
Das plötzliche Aufkommen des P. im letzten Drittel des 17. Jh.s, in der Welt des Barock, hat die ganze Orthodoxie lutherischer wie reformierter Prägung schockiert. Dabei vermag man der Orthodoxie eine unaufhörliche selbstkritische Besinnung nicht abzusprechen. Eine wachsende Unruhe über den herkömmlichen kirchlichen Betrieb ist bereits um 1600 wahrnehmbar. Sie steigerte sich im Laufe des Jh.s, vor allem in der sog. Reformorthodoxie, die hier voranging und bei der die Übergänge zum P. fließend wurden. Mannahm die englische Erbauungsliteratur mit ihrer puritanischen Gesetzlichkeit zu Hilfe, übersetzte sie unbefangen, nicht ohne sie zu »lutheranisieren«. Eine unbewegliche Frömmigkeit, die sich zu sehr an die reine Glaubens- und Trostpredigt gewöhnt hatte, suchte man dadurch aufzulok- kern und den Entscheidungsernst christlicher Existenz neu sichtbar zu machen. Es geschieht in einer Zeit, die sich immer stärker individualistisch-ethizistisch ausprägt. Doch blieb man im Rahmen der bisherigen Praxis. Man war bestrebt, durch diese Impulse die Kirche zu beleben. Kirche und Gemeinde blieben im Mittelpunkt. Man dachte an keine Sonderung. Die Fülle des -» Liedguts mit ihren »Ich-Liedern«, die damals entstanden (vgl. Paul Gerhardt u.a.), wurde hineingenommen in das gemeinsame Bekennen der ganzen Gottesdienstgemeinde. Die markantesten Vertreter der sog. Reformorthodoxie waren in Rostock und Straßburg wie in Gotha, in Hamburg und in Nürnberg zu finden. In Straßburg sind die Professoren Johann Schmid (1594-1658), Johann Dorsch (1597-1659), Joh. Konrad Dannhauer (1603-1666) und Sebastian Schmidt’(i6i7-1696) zu nennen, in Gotha die Theologen um den Herzog Ernst den Frommen (1601-1675), den »Bete-Ernst«.
Für Hamburg ist der volkstümliche Hauptpastor an St. Jakob Balthasar Schupp (1610-1661), für Nürnberg sind Johann Säubert (1592-1646) und Johann Michael Dil- herr (1604 — 1669) und in Rostock ist vor allem Pfarrer Theophil Großgebauer (1623-1661) mit seiner ■■Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion« (1661) zu erwähnen, nicht zu vergessen Johann Matthäus Meyfart (1590-1642), zuletzt in Erfurt, den man wohl einen Hauptträger der vorpietistischen Reformbestrebungen im Luthertum nennen kann. Er hat rückhaltlos die Schäden im akademischen Leben und im Pfarrerstand gegeißelt.
Im großen und ganzen hat die Orthodoxie viel getan, die Hausandacht, die schönste Frucht der reformatori sehen Lehre vom —> Priestertum aller Gläubigen, durch die schöpferische Leistung im Kirchenlied, durch eine Andachts- und Gebetsliteratur zu stärken. Die große europäische Bewußt- seinskrise war unter den Gebildeten durch die Zerstörung des geozentrischen Weltbildes (Kopernikus, Galilei) ausgelöst worden. Innerhalb dieser neuen Wissenschaftslage und angesichts wachsender Bibelkritik war die Orthodoxie nicht mehr in der Lage, wegweisende und befreiende Antworten zu geben. Statt dessen verteidigte sie immer verbissener die Verbalinspirationslehre, die sich auf die Richtigkeit aller historischen, geographischen und naturwissenschaftlichen Aussagen der —» Bibel versteifte. Andererseits öffnete sie durch ihren Intellektualismus selbst die Pforten zu der sie überflügelnden -»Aufklärung. Den aufkommenden theoretisierenden —» Atheismus bekämpfte sie im G runde vergeblich. Auf sie hörte man nicht mehr. II.
ses? Es muß ein von Gott gewollter Gegenpol vorhanden sein, damit sich das Licht offenbaren kann. Die Synthese erblickte er in der Christuswirklichkeit. Durch eine »echte Revolution des Herzens« soll die —» Wiedergeburt erfolgen. Böhme hoffte auf eine nach innen gerichtete Reformation, »das Leben aus dem Geist«. Sie kam nicht. Doch die Auswirkungen seiner Schriften sind bedeutsam genug geworden. Böhme-Kreise bildeten sich zuerst in Schlesien, später in England, seine Werke wurden in Holland gesammelt. So wurde er in ganz Europa bekannt. Man hat Böhme den Vater des radikalen P. genannt, der die unmittelbaren Geisterfahrungen neben die Schriftoffenbarung stellte. Spener hat sich nie zu einer Verwerfung Böhmes drängen lassen, Francke hat Böhmes Erstlingsschrift »Aurora« ins Russische übersetzen lassen, Gottfried Arnold hat ihn verteidigt, Zinzendorf kannte sich in Böhmes Schriften gut aus, die schwäbischen pietistischen Väter wie Michael —» Hahn und Oetinger lasen Böhme mit Begeisterung.
Tief auf Spener hat der »eigentliche Stammvater des württembergischen P.«, Johann Valentin Andreä (1586-1654) gewirkt. Seine Schriften zur Kirchenreform »Theophilus« und die Utopie »Christianopolis« enthalten eine Fülle von Ideen, die der werdende P. aufgriff. Andreäs persönlicher Schüler war der bedeutendste Lehrer der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard in Jena (1586-1637). Am tiefsten jedoch pflügte Johann Arndt (1555-1621) - zuletzt in seiner lutherischen Rechtgläubigkeit anerkannt und als Generalsuperintendent in Celle wirksam - durch sein Andachtsbuch »Vom wahren Christentum«, den Boden der Frömmigkeit auf. Unbedenklich akzeptierte er den breiten Strom der katholischen Mystik, nicht ohne sie einer strengen lutherischen Revision zu unterziehen. Seine »Vier Bücher vom wahren Christentum« sind das lutherische Erbauungsbuch schlechthin geworden und verbreiteten sich über ganz Europa und Nordamerika. Arndt trat gegen den barocken Weltpessimismus auf durch den Hinweis auf die Herrlichkeit des Schöpfers und daß der Mensch der »Zweck der ganzen Welt« bleibe. Er darf in der Wiedergeburt seinen ursprünglichen Adel wiedererwarten. So entstand auch eine regelrechte Arndt-Schule von Erbauungsschriftstellern. Man wird auch nicht übersehen dürfen, daß der P. sich immer wieder auf Luther selbst berief. Luthers elementares Drängen zum lebendigen Glauben, überhaupt die Schriften des jungen Luther wurden aufgegriffen. Spener war einer der besten Lutherkenner seiner Zeit, Francke und Zinzendorf bekannten sich zu Luther.
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Der Pietismus. Was sich jedoch als pieti- stische Erneuerungsbewegung Bahn brach, ist von der altgläubigen Theologie nie akzeptiert worden. Obwohl es sich bei dem P. um eine Minderheit von Theologen und Laien handelte, brach er rasch in nichttheologische Bereiche ein und übte einen erstaunlich intensiven Einfluß auf die Breite des kulturellen und geistigen Lebens aus. Er wurde zu einem »»Träger des Fortschrittes« auf vielen weltlichen und in kirchlichen Gebieten. Das hängt mit der immer wieder in der Forschung vernachlässigten Tatsache zusammen, daß es der P. am Beginn des langsam einsetzenden Prozesses der -> Säkularisation verstand, das Gespräch mit jenen zu führen, die sich bereits innerlich vom herrschenden Kirchentum abgesetzt hatten, sich sozial- wie kirchenkritisch äußerten und von Glaubenszweifeln bedroht waren. Ob es sich um Spener, Francke oder Zinzendorf, um Bengel oder Oetinger handelte, sie griffen immer wieder das Wort aus Joh 7,17 auf und ermunterten zu experimenteller Erprobung des Glaubens. Dabei wußte der P., was Luther immer wieder ausgesprochen hatte, daß die letzten Entscheidungen nicht im Intellekt fallen, sondern in den tieferen Bezirken des Willens, und daß richtig über die christliche Lehre unterrichtet zu sein, noch nicht heißt, daß nun auch richtig gehandelt wird. Der P. forderte die Totalhingabe und verwendete dazu als tragendes seelsorgerli- ches Prinzip den Ruf nach —» Wiedergeburt und —> Bekehrung. Es wird dabei schwerlich gelingen, dem P. eine Abkehr vom lutherischen Hauptartikel der —» Rechtfertigung nachzuweisen. Die pietistischen Führergestalten waren »nicht so sehr theologische Dogmatiker als vielmehr theologische Pragmatiker«. Auch die Pragmatik kann theologische Qualität besitzen, a) Philipp iakob spener, *13.1.1635 Rappolts- weiler, 15.2.1705 Berlin, entstammte einer frommen elsässischen Juristenfamilie. Die wichtigsten Stationen seines Lebens: drei Jahre war er Freiprediger am Straßburger
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