Nikolaus Ludwig von Zinzendorf
zwischen dem P. und der Orthodoxie zu vermitteln suchte, als er in dem orthodoxen Wittenberg Jura studierte und Francke und Löscher zu einem freilich ergebnislosen Merseburger Religionsgespräch zusammenbrachte, reihte er selbst sich hier nicht ein. Auf seiner Kavaliersreise nach Paris lernte er das friedliche Nebeneinander der Kirchen- tümer in den Niederlanden kennen. In Paris schloß er eine nicht konfliktfreie Freundschaft mit dem jansenistisch gesonnenen, freilich zögernden Kardinal de Noailles, Erzbischof von Paris (1651-1729). Sie fanden sich in dem Mysterium des »Leidens und Verdienstes Jesu« aufs tiefste verbunden. Der von Westeuropa auf ziehenden Idee der —> Toleranz öffnete er sich und wurde ihr überzeugter Vertreter. In Pierre Bayles (1647 — 1706) »Dictionnaire historique et critique«, dem Standardwerk der frühen Aufklärung, war er daheim. Mit Bayle stimmte er dem reformatorischen Menschenverständnis zu, erkannte die Bestechlichkeit der Vernunft in Glaubensfragen und war für eine saubere Trennung von -> Vernunft und Glaube im Gegensatz zu einer Verbindung von Theologie und natürlicher Theologie, wie sie damals schulmäßig betrieben wurde. Zur Glaubensgewißheit gab es für ihn nur den Weg zu Jesus Christus. »Ohne Jesus wäre ich ein Atheist«. Seine ganze Theologie ist christozentrisch. Immer stärker hielt er sich in seiner theologischen Entwicklung an Luthers Theologie des Kreuzes. »Der Mann am Kreuz und sein stellvertretendes Strafleiden« war Richtpunkt in seinem Denken, Reden und Schreiben. »Ich kenne nur eine Passion und das ist ER«. Aufbruch zu Christus und zu den Brüdern war für ihn wesentlich. »Der Christ geht immer in Kompanie«. Die Realisierung dieser Grundüberzeugung seines ganzen Lebens wurde ihm ungesucht in der Herrnhuter Brüdergemeine zuteil, die als Grüpplein mährischer Glaubensflüchtlinge, Nachfahren der im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen zertretenen alten Brüder-Unität, in seiner Standesherrschaft Berthelsdorf Zuflucht fanden (1722). Die Gefahr einer Separation überwand Zinzendorf, der 1727 sein ungeliebtes Staatsamt in Dresden aufgab und nach Berthelsdorf-Herrnhut übersiedelte. Am 14. August 1727 erwuchs aus einer Bußbewegung ein elementares Zueinander von unauflöslicher Bindekraft zwischen den zerstrittenen Ansiedlern Herrnhuts. Mit diesem Datum beginnt eine Bruderschaft als »Erneuerte Brüder-Unität« ein Modell gelebten Glaubens, ganz unsentimental, in einem verhaltenen Enthusiasmus, in den vielfältigsten Formen des Mit- und Zueinander in den »Chören«, nach Geschlecht und Familienstand getrennt, in kleinen Gebetsbruderschaften, den »Banden«, und als Lerngemeinschaften in »Klassen« geordnet, oft variiert. Urchristliche Ämter wie das Ältestenamt wurden erneuert. Die Lospraxis wurde eingeführt und die Mitverantwortlichkeit aller in Synoden praktiziert.
Neue Gottesdienstformen in den festlichen Gemeindesälen entstanden, die —» Losungen kamen auf. Sehr schnell erwachte ein »Streiterdienst«, Boten zogen als Missionare zu den an die Ränder der Zivilisation gedrängten Eskimos, zu den Hottentotten, zu den Indianern, zu den Negersklaven in Amerika. Unter schweren Opfern an Menschenleben wurde diese Missionsarbeit ausgebaut. Zinzendorf selbst ließ sich nach einem Rechtgläubigkeitsexamen in Stralsund in Tübingen 1734 in den theologischen Kandidatenstand aufnehmen, um Verdächtigungen als »Laienprediger« auszuräumen. Auf seinen Erweckungsreisen durchwanderte er Deutschland, die Schweiz, war daheim in Holland, England und Dänemark, bereiste die baltischen Länder, Rußland, Amerika und Westindien. Nach dem Muster Herrnhuts entstanden »Dörfer des Heilandes«, geschlossene Siedlungen in Dänemark, Holland, England, in Nordamerika, seit 1742 auch in Schlesien und vorübergehend in der Wetterau. Die enthusiastische Periode der »Sichtungszeit« (1743-1750) wurde schnell überwunden, die Wetterauer Gemeinden aufgelöst.
Nach Kursachsen konnte der Graf nach elfjähriger Verbannung 1747 zurückkehren. Herrnhut war endgültig durch die Anerkennung als Augsburger Konfessionsverwandte mit eigenem Religionsexerzitium innerhalb der Landeskirche gesichert.
Durch seine Tropenidee, nach der er in den verschiedenen Konfessionen unterschiedliche Erziehungsformen (Tropen) sah, mit denen Christus die Ausbreitung seiner Christenheit betrieb, ermöglichte er ein gutes Miteinander zwischen Gliedern reformierten wie lutherischen Bekenntnisses in seinen Gemeinden wie auch den Zusammenhang mit den großen Kirchen. In seinem Bi- helverständnis öffnete er sich den berechtigten Anliegen der aufkommenden Bibelwissenschaften und bewahrte seine Brüdergemeine mitten im Strom der Aufklärung in ihrer Bibelfestigkeit wie in ihrer Ausstrahlungskraft auf die —> Stillen im Lande. Die Auswirkungen Zinzendorfs wie der »Erneuerten Brüderunität« auf Kirche und Gesellschaft im 18. Jh. sind intensiv.
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DER wUrttembergische p.
In fast allen deutschen Territorien hat sich der P. bemerkbar gemacht, am meisten gehemmt in Hannover, doch nur in Württemberg ist er bleibend tief eingewurzelt. Dem alemannischen P. benachbart, dem überragende Führer fehlten, der aber aufs Ganze gesehen nüchtern, eminent praktisch und weltklug blieb, die typisch schweizerische reformierte Strenge milderte, sich von einer apokalyptischen Überreizung fernhielt, zeigte sich der schwäbische P. dagegen grüblerisch und der Spekulation zugeneigt. Den puritanischen Erbauungsbüchern gegenüber zurückhaltend, öffnete man sich lieber der Theosophie Böhmes. Spontan entstanden auf Speners »Pia desideria« hin viele Erbauungsversammlungen. Sie fanden nach anfänglicher Behinderung 1743 einen von der württembergischen Staatskirche klug gewährten, wenn auch regulierten Entfaltungsraum innerhalb der einzelnen Gemeinden, der sie aus unfruchtbarer Polemik herausführte. Die entscheidende Gestalt wurde Johann Albrecht Bengel (1687-1752), Präzeptor an der Klosterschule in Denkendorf, später Prälat. Sein Griechisches NT von 1734 war die erste textkritische Ausga
be. Die Grundsätze seiner Texterforschung sind bis heute gültig. Durch Bengel wurde zugleich der Sperriegel, den Luther gegenüber der Apokalyptik und dem Chiliasmus im NT angebracht hatte, zurückgeschoben und das letzte Buch der Bibel kirchlich für den allgemeinen Gebrauch legitimiert. Seitdem wurde die Offb zu einem Lieblingsbuch des P. Im württembergischen P. entfremdeten sich Theologie, Kirche und Kirchenvolk nicht. Bengel, der die biblizistisch-heilsge- schichtliche Betrachtung der Bibel entfaltete, gelangte durch seine Berechnung des Zeitpunktes, an dem Christus wiederkommen würde, den er auf das Jahr 1836 fixierte, zu einer Autorität nicht nur im schwäbischen P. Er blieb dabei nüchtern. »Sollte das
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