Evangelisches Gemeindelexikon



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Soziale Frage

  1. DIE S.F. IM ZUSAMMENHANG DER INDUSTRIEL­LEN REVOLUTION

Als s.F. bezeichnet man zusammenfassend den mit der europäischen industriellen Re­volution des 18. und 19. Jh.s verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und gei­stigen Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Situation der vorindustriellen Gesellschaft kann durch überwiegend von der Landwirtschaft bestimmte Struktur, ständische Ordnung und zentrale Stellung einer meist geheiligten Tradition gekenn­zeichnet werden. Mit der industriell-arbeits­teiligen Fabrikproduktion, die Handwerk und Manufaktur als den bisher überwiegen­den Produktionstyp ablöste, änderte sich das gesellschaftliche Gefüge radikal (»Revolu­tion«). Wesentliche Kennzeichen der indu­striellen Gesellschaft sind neben der me­chanisierten Fabrikproduktion: Verstädte­rung, Trennung von Wohn- und Arbeitswelt, Änderung von Stellung, Form und Funktion der —> Familie, Expansion von Handel und Gewerbe, Verwandlung der Mehrzahl der Bevölkerung in unselbständige Arbeitneh­mer, Untergliederung der Arbeitnehmer­schaft in verschiedene Schichten wie Ange­stellte und Arbeiter, soziale Mobilität (ge­sellschaftlicher Auf- und Abstieg), Demo­kratisierung und Bürokratisierung. Der sich in relativ kurzer Zeit vollziehende Umbruch führte zu erheblichen Krisensituationen.

Arbeitslos gewordene Handwerker, Bauern und Landarbeiter strömten in die neu ent­stehenden großstädtischen Industriebezir­ke. Dem bisherigen Ordnungsgefüge und der damit verbundenen sozialen Sicherung ent­rissen, war dieses Industrieproletariat ge­zwungen, seine Arbeitskraft gegen mini­male Bezahlung zu oft unmenschlichen Be­dingungen (z.B. Kinderarbeit) bei fehlender sozialer Sicherung an die privaten Produk­tionsmittelbesitzer zu verkaufen. Es ent­standen große gesellschaftliche Widersprü­che und Spannungen. Denn im Gegensatz zu Demokratisierung und sozialer Mobilität als den Voraussetzungen und Kennzeichen der industriellen Gesellschaft verfestigte sich durch Vergrößerung des Kapitalbesitzes der Unterschied zwischen den Privateigentü­mern an Produktionsmitteln und dem ab­hängigen Industrieproletariat. Die soziale Lage der Arbeiterschaft bildet deshalb das Kernproblem der s.F. Heute geht der Streit darum, ob in einem sozialen und freiheit­lich-demokratischen Rechtsstaat die Klas­sengegensätze prinzipiell überwunden seien oder ob es dazu des Alternativmodells des —> Sozialismus bedürfe.



  1. KIRCHE UND S.F.

Der häufig zu hörende pauschale Vorwurf, die Kirche habe angesichts der s.F. versagt, wird den geschichtlichen Vorgängen nicht gerecht. Die offizielle Amtskirche freilich verhielt sich insgesamt passiv. Es kam zu ei­ner weitgehenden Entfremdung zwischen Kirche und Arbeiterschaft. Der entschei­dende Fehler von Kirche und Theologie an­gesichts der s.F. lag aber nicht auf karita­tivem, sondern auf theologischem Gebiet. Die Amtskirche war von ihrer geschichtli­chen Verfassung und ihrem Selbstverständ­nis her ganz in die ständische Ordnung ein­gegliedert. Der durch die industrielle Revo­lution bedingte Verfall der ständischen Ord­nung und die mit den neuen Klassengegen­sätzen verbundene Not, wurden als Abfall von der göttlichen Natur Ordnung interpre­tiert, umso mehr, als er auch die traditio­nelle gesellschaftliche Position der Kirche unterhöhlte. Mit Hilfe der Ordnungstheolo­gie wurde die ständische Gesellschaft zum gottgewollten Normalfall von Gesellschaft erklärt. Eine Heilung konnte man nur im Zurück erblicken. - Ganz anders verhielten sich einzelne Christen und Gruppen, die von der -> Erweckungsbewegung (z.B. J. H. -»■ Wiehern 1808-1881, Chr. Blumhardt 1842-1919) her kamen und aufgrund einer lebendigen —> Reich-Gottes-Hoffnung für die Zeichen der Zeit und die Zukunft aufge­schlossen waren. Wenn die Bindung der da­maligen Amtskirche an die ständische Ge­sellschaft auch in diesen Kreisen nicht im­mer ganz durchschaut wurde, so war man sich doch dessen bewußt, daß man un­glaubwürdig wird, wenn man den Armen das Evangelium verkündigen will, ohne ihnen zuvor in ihrer materiellen Not geholfen zu haben. Des weiteren hatte man erkannt, daß es nicht nur kirchlich-karitativer Hilfe, son­dern ebenso staatlich-struktureller Gesell­schaftsreformen bedarf, um die Not zu be­heben (vgl. Wicherns berühmte Programm­rede zur —»Inneren Mission auf dem Witten­berger Kirchentag 1848). Da sich die verfaßte Kirche abseits hielt, wurden freie —» Vereine und Kongresse zur normalen Organisations­form christlich-diakonischer und -sozialpo­litischer Arbeit. Auf dieser Basis konnten die Gesellschaftsstrukturen zwar nur indirekt, z.B. über die Sozialgesetzgebung, beeinflußt werden, jedoch ist der moderne Sozialstaat zweifellos nicht ohne die Impulse aus der christlichen —> Diakonie denkbar.

Lit.: G. Brakeimann, Die s.F. des 19. Ih.s, 1975S — ders., Kirche, s.F. und Sozialismus, Bd. 1: Kirchen­leitungen und Synoden über die s.F. und Sozialis­mus 1871-1914, 1977 (mit Bibliographie) -



  1. SXandes, Der entfesselte Prometheus. Techno­logischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, 1973

Mayer

Sozialismus

1. BEGRIFF

Unter S. im weitesten Sinne versteht man eine Lehre, die größere soziale Gerechtigkeit in der Verteilung des Besitzes und des Ein­kommens fordert. Der S. bildet damit einen Gegensatz zum Liberalismus. Während der Liberalismus das Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen durch freie Entfaltung der einzelnen in einer gut funktionierenden Konkurrenzgesellschaft bei einem Mini­mum staatlicher Regulative erwartet, macht der S. gerade dieses Konkurrenzsystem mit seinen ungleichen Ausgangschancen (z.B. durch kapitalistische Produktionsweise, Erbrecht) für die Unfreiheit der Bevölke­rungsmehrheit verantwortlich und will den wirtschaftlichen Prozeß durch bewußte Planung zum Wohle aller steuern.

S. darf nicht mit Kommunismus verwech­selt werden. Während die Zentralidee des Kommunismus die allgemeine Güterge­meinschaft, also die Abschaffung des Privat­eigentums ist, will der S. das ->• Eigentum beibehalten, fordert vielmehr eine andere, gerechtere Verteilung des Eigentums. Zen­tralidee ist die des genossenschaftlichen Ei­gentums, vor allem an unbeweglichen Gü­tern.

Karl Marx (1818-1883) jedoch hat S. und Kommunismus in der Weise verbunden, daß er S. zur Vorstufe des Kommunismus erklär­te, zur ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft nach der proletarischen Revo­lution. Seither herrscht Begriffsverwirrung. Während sich heute im Ostblock für den Marxismus-Leninismus die Bezeichnung »Wissenschaftlicher Kommunismus« durchgesetzt hat, sprechen die in westlichen und neutralen Ländern beheimateten Kommunisten weiterhin vom »Wissen­schaftlichen Sozialismus«. Daher muß bei

der Rede über den S. immer zurückgefragt werden, ob und inwieweit die marxistische Ideologie vorausgesetzt wird.

2. VERTRETER SOZIALISTISCHER IDEEN VOR MARX



werden frühsozialisten genannt. Zu ihren führenden Köpfen zählten u.a. der französi­sche Graf Claude H. Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Robert Owen (1771-1858). Ihr soziales Engagement speiste sich aus radikal-demo­kratischen, moralisch-humanistischen und christlichen Motiven, verbunden mit dem Fortschrittsoptimismus der —» Aufklärung. Aufgrund der genannten Begriffsverwirrung werden oft auch Frühkommunisten als Frühsozialisten bezeichnet. Die wesentlich ältere Bewegung des Frühkommunismus kann von der persischen Sekte der Mazdaki- ten (um 500 n.Chr.) über die mittelalterliche Sekte der Patarener, die Wiedertäufer der Reformationszeit bis zur Französischen Revolution verfolgt werden. Hervorragende Köpfe waren u.a. Francois N. Babeuf (1760-1797), Louis A. Blanquij 1805-1881), Wilhelm Weitling (1808-1871) und Etienne Cabet (1788-1856). Ihnen allen war die Idee eines goldenen Zeitalters gemeinsam, das nicht nur, wie im griechischen Mythos, am Anfang der Menschheitsgeschichte steht, sondern an den Horizont der Zukunft proji­ziert, zum politischen Ziel erklärt wird und mit allen Mitteln, auch mit Gewalt, anzu­streben ist.

Frühkommunismus war immer eine Ange­legenheit von sektenhaften Zirkeln. Er ist seiner Herkunft nach der agrarischen Kul­turstufe zuzuordnen. Der Frühsozialismus dagegen war Ergebnis der industriellen Re­volution, er wollte eine Antwort auf die —» soziale Frage geben und wurde sehr bald zu einer Massenbewegung. Die politische Tak­tik von Marx bestand darin, seiner kommu­nistischen Überzeugung durch den An­schluß an die sozialistische Massenbewe­gung die notwendige Durchschlagkraft zu geben und dennoch zugleich die sozialisti­sche Idee gegenüber der kommunistischen abzuwerten, indem er sie zur Vorstufe des Kommunismus erklärte.

Seit Marx ist der S. mit den Ideen des —» Mar­xismus verwoben. Es gab immer wieder Ver­suche, diese Klammer aufzubrechen. Vor al­lem Eduard Bernstein (1850-1932) hat den S. auf die evolutionär-demokratische Praxis konkreter Reformarbeit zurückführen und von der marxistischen Utopie mit ihrer revo­lutionären Praxis lösen wollen. Ähnliches beabsichtigt auch der »demokratische Sozia­lismus«, der an die Stelle der einmaligen pro­letarischen Revolution die stete Reformar­beit im Bick auf Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde setzen will. Diese Haltung wird von marxistischen Sozialisten und Kommunisten als »Revisionismus« verwor­fen.


  1. CHRISTENTUM UND S.

Versteht man S. im weitesten Sinn als ein Engagement für größere soziale Gerechtig­keit, so lassen sich sozialistische Ideen nicht nur ohne weiteres mit dem christlichen Glauben verbinden, sondern folgen geradezu aus diesem. Speiste sich schon der Frühso­zialismus z.T. aus christlichen Motiven, insbesondere bei Philippe J. B. Buchez (1796-1865) und Pierre Leroux (1797-1871), so findet man nachmarxi­stisch eine Verbindung bei Christoph —» Blumhardt (1842 -1919) und bei der Schwei­zer »Religiös-sozialen Bewegung«, die von Leonhard Ragaz (1868-1945) und Hermann Kutter (1863-1931) getragen wurde und auch Karl Barth (1886-1968) beeinflußte. Blumhardt war von 1900-1906 Abgeordne­ter der damals als atheistisch geltenden So­zialdemokratischen Partei im Württember- gischen Landtag. Er sah im S. ein »Feuerzei­chen« des sich nahenden —» Reiches Gottes, das der christlichen Gesellschaft Gericht ankündigt. »Und wenn die christliche Ge­sellschaft sich einem Gericht gegenüber­sieht, so möge sie nicht trotzen, sondern sich besinnen, was ihr von Wahrheit entgegen­tritt. Ja, es ist Wahrheit, daß der Geiz die Wurzel alles Übels ist.« In seinen späteren Jahren lebte Blumhardt zurückgezogen und bekannte sich zu der Einsicht, daß »das All­umfassende des S. in Christus, der allen Menschen gleich hoch gegenübersteht« iii der Gegenwart keinen »Boden zur Verwirk­lichung« habe.

Ragaz und Kutter knüpften an das realisti­sche Reich-Gottes-Verständnis Blumhardts an, vor allem Ragaz ging aber in der Verbin­dung von Christentum und S. insofern einen Schritt weiter, als er meinte, auf dem Wege über die Vereinigung von Christentum und S. werde sich das Reich Gottes verwirkli­chen. An dieser Stelle wird die Verbindung von Christentum und S. problematisch, weil vom Menschen her vorgeschrieben wird, auf welchem Wege Gottes Reich in die Welt kommt. Sie wird weiterhin auch dann pro­blematisch, wenn die Verknüpfung mit ei­nem von der marxistischen Ideologie abhän­gigen S. versucht wird. Während sowohl der »Bund der religiösen Sozialisten Deutsch­lands« (1924 -1933) wie der »Bund religiöser Sozialisten« (gegr. 1948 in Kassel) Christen­tum und marxistischen S. als eigenständige Größen ansehen, die sich lediglich gegensei­tig ergänzen, indem der S. der Kirche seine Ziele als geeignete Mittel zur Realisierung des Willens Gottes verdeutlicht und umge­kehrt das Christentum der sozialistischen Bewegung sittliche Kräfte zuführt und den Hoffnungshorizont lebendig erhält, erstrebt die internationale Bewegung »Christen für den Sozialismus«, die 1971 von Chile aus­ging, nach den Worten Dorothee Söll es eine direkte Verknüpfung von Christentum und S. als »neue christlich-sozialistische Identi­tät«. Bei Solle wird S. im Sinne des Marxis­mus verstanden und das Christentum ideo­logisch umgedeutet. Wie weit das für alle oder den überwiegenden Teil der »Christen für den S.« gilt, läßt sich heute noch nicht überblicken. Die Differenz zwischen Christentum und einem marxistisch ver­standenen S. bezieht sich vor allem auf das Menschenbild und die Zukunftserwartung. Während der vom Marxismus abhängige S. einen persönlichen Gott ablehnt und glaubt, wenn man die Gesellschaft ändere, würde auch der Mensch neu werden und mit ge­schichtlicher Notwendigkeit aus menschli­cher Kraft ein innerweltliches kommunisti­sches Friedensreich entstehen, weiß das Christentum, daß der Mensch nur durch die Vergebung und den Glauben an Jesus Chri­stus neu werden kann. Seinen Impuls zum Handeln schöpft der christliche Glaube aus der Erwartung des Reiches Gottes, das weder bloß zukünftig noch bloß jenseitig ist, je­doch nicht durch menschliche Anstrengung herbeigeführt werden kann, sondern allein durch Gottes schöpferischen Eingriff in die Weltgeschichte entsteht.

Lit.: G. Bartsch, Kommunismus, S. und Anarchis­mus. Wurzeln, Unterschiede und Gemeinsamkei­ten, 1976 - A. Pfeiffer (Hg.), Religiöse Sozialisten (mit Bibliographie), 1976 - J. M. Lochmann, Chri­stus oder Prometheus? Die Kernfrage des christlich-marxistischen Dialogs und die Christo­logie, 1972 - Christen für den S., Bd. 1 Analysen, Bd. 2 Dokumente, 1975

Mayer



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