Gesammelte Aufsдtze zur Dramaturgie



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nen Willen kraftvoll ausgesprochen hätte. - Und auf diese Tat hat man vergeblich gewartet, wartet man heute noch. Es ist wahr, er hat den «Baumeister Solneß» aufgeführt und eine neue Bearbeitung der «Komödie der Irrungen»; er hat dann wieder einmal die «Jungfrau von Orleans» neu inszeniert und einen feinen Akt der Ebner-Eschenbach dem Burgtheater gewonnen — lauter verdienstliche Dinge, die man ihm lobend nachsagen darf —, aber wo bleibt der Schienther, der Paul Schienther, der erste Kritiker Berlins, der Prologus einer neuen Zeit und neuer Kunstideale? Er hat nach den Berliner Erfolgen auch den «Cyrano» gegeben und das «Vermächtnis» — aber wer hätte das nicht getan? Wir aber hätten gerne etwas gesehen, was nur er tun könnte, er ganz allein.

Er ist nicht als reicher Mann nach Wien gekommen, der von seinem Vermögen leben konnte - er mußte gierig nach dem Erwerb des Tages haschen. Philippi ist jetzt der erlösende Gott des Burgtheaters. Der Direktor will Kasse machen. Er hat es selbst oft genug ausgesprochen. Das ist ein sehr berechtigter und verständiger Standpunkt. Nur darf er den Direktor nicht ängstlich und mutlos vorsichtig machen. Nur darf er nicht der ausschließliche Standpunkt eines Burgtheater-Direktors sein; und schließlich ist es noch sehr die Frage, ob er nicht ganz wohl mit den künstlerischen Bedürfnissen des Hauses zu vereinigen wäre. Schienther, dem die Wiener Verhältnisse noch immer nicht ganz vertraut sind, übersieht eins, daß das Burgtheater seine klassischen Traditionen hat, die bei verständnisvoller Pflege die alte magnetische Kraft nicht eingebüßt haben. Er braucht den «Mädchentraum» nicht und den «Vielgeprüften» und die sonstige Tagesliteratur; eine interessante Neubesetzung von Hebbels «Nibelungen» füllt ihm das Haus viel sicherer. Er hat im Juni des vorigen Jahres (also in der ungünstigsten Theaterzeit) ein ausverkauftes Haus gehabt mit dem «Faust», als die Medelsky das Gretchen gab. Für «Minna von Barnhelm» mit Baumeister als Paul Werner war keine Karte zu bekommen. Das sollte dem Direktor doch eine richtige Weisung sein.

An der Rechtschaffenheit und Gediegenheit seines Wesens zweifelt niemand, aber mehr Wagemut, mehr Entschlußfreudig-

keit sollte er besitzen. Es ist wahr, es herrscht heute im Burgtheater ein Geist der Arbeitsamkeit, des künstlerischen Ernstes, der dem Hause seit Jahren fremd war. Wenn vor einigen Jahren das Gretchen einer anderen Schauspielerin zugeteilt wurde, dann mußten zwei Szenenproben genügen, um die Vorstellung vorzubereiten; der «Carlos» wurde nach einjähriger Pause ohne Probe wieder aufgeführt. Heute wird das Repertoire sorgfältig vorbereitet. Wenn der «Ministerial-Direktor» oder die «Schmetterlingsschlacht» in einigen Rollen neu besetzt werden, dann werden vier bis fünf Proben dem Stück gewidmet.

Und das ist symptomatisch. In jedem Sinne herrscht heute Ordnung und Fleiß im Hause. Aber das reiche, kunstbildende Leben fehlt. Leicht wird dem Direktor die Arbeit freilich nicht. Die Hartmann ist gestorben, wenige Wochen nachdem er kam; die Sandrock mußte er ziehen lassen — er hat auch einige junge Kräfte erworben, aber sie sagen, und wohl mit Recht, dem wienerischen Geschmack nicht zu.

Die Tat fehlt noch immer, die dem Namen des Direktors für uns den Inhalt gibt. Vorläufig raten wir noch immer, was der einst berühmte Kritiker dem Burgtheater bringen wird. Wir wissen nicht mehr als vor einem Jahre.

«DIE ANFÄNGE DES DEUTSCHEN THEATERS»

In der Reihe der «Hochschulvortrage für Jedermann» ist einer erschienen, der in die Entstehungsgeschichte der deutschen Bühne einführt. Prof. Dr. Georg Witkowski behandelt das Thema: «Die Anfänge des deutschen Theaters». Mit der durch seine Aufgabe bedingten Kürze zeigt er, daß dieser wichtige Faktor innerhalb unseres geistigen Lebens erst spät sich seinen Platz in dem deutschen Kulturleben erobert hat. Im Mittelalter gab es in Deutschland kein eigentliches Theater. Der Inhalt der ernsten Dichtung, die in dramatischer Form auftrat, war der biblischen Geschichte entnommen, und seine Darstellung schloß sich dem Gottesdienste

an. Am Oster- und Weihnachtsfest wurden Szenen aus dem Alten und Neuen Testamente vorgeführt. Sie hatten nicht den Zweck, den jede wirkliche dramatische Dichtung haben muß, Seelenkämpfe um ihrer selbst willen vorzuführen; sie wollten die heilige Geschichte in lebendiger Anschaulichkeit vorführen. Ebensowenig kann man die komischen Aufführungen, die von Handwerkern und Schülern zur Fastnachtszeit gepflegt wurden, wirklich als dramatische Leistungen bezeichnen. Sie behandelten meist kleine Gerichtsszenen, eheliche Zwistigkeiten und derbe Spaße, die gewöhnlich vom Standpunkte des Städters die Bauern verspotteten... Die Darsteller zogen von Haus zu Haus, sagten ohne alle szenischen Mittel ihre Rollen her und entwickelten gewiß dabei ein sehr geringes Maß von schauspielerischer Kunst, denn woher sollte die den wackern Handwerkern und Schülern kommen? Nach der Reformation waren in Deutschland günstigere Verhältnisse für das Drama. Luther begünstigte die Schüleraufführungen, weil er des Glaubens war, daß sie einen guten Einfluß auf die öffentlichen Anschauungen haben. «Komödien zu spielen, soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich, daß sie sich üben in der lateinischen Sprache, zum andern, daß in Komödien fein künstlich verdichtet, ab-gemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet, und ein jeglicher seines Amts und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wohl anstehe und was er tun soll, ja, es wird darinnen fürgehalten und für die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Ämter und Gebühre, wie sich ein jeder in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel.» In der Folgezeit blühte das Schuldrama. Viel aber konnte dies nicht erreichen, denn die Anschauungen vom Wesen der dramatischen Technik waren von der primitivsten Art. Über einen auf mehrere Personen verteilten Dialog kam man nicht hinaus. Der Anstoß zu einer wirklich dramatischen Kunst in Deutschland ging von den Engländern aus. Bei ihnen entwickelte sich eine solche am Ende des sechzehnten Jahrhunderts mit bewundernswerter Schnelligkeit. 1576 wurde in London das erste

Theatergebäude errichtet, und am Ende des Jahrhunderts gab es in dieser Stadt mehr derartige Kunstinstitute als heutzutage. Und ebensoschnell entwickelte sich das englische Drama von einfachen Spielen mit religiöser und sittlich-didaktischer Tendenz zu den Meisterschöpfungen Shakespeares.

Die Kunst, die sich da entwickelte, trugen wandernde Schauspielertruppen auch nach Deutschland. Im Jahre 1586 findet sich eine solche Truppe unter William Kempes Führung am Dresdner Hofe ein. Von dieser Zeit an tauchen diese Komödiantengesellschaften an den verschiedensten Orten auf. Sie führen englische Stücke auf, zum Teil allerdings in einer unerhörten Verballhornung. Aber auch von Deutschen wurden Stücke verfaßt, die solche Gesellschaften dann spielten. Der Führer einer solchen Truppe spielte meist die Hauptrolle, die eine komische Person darstellen mußte. Die Stücke, die gespielt wurden, mußten in eine Form gebracht werden, die es diesem Führer gestattete, als diese typisch gewordene komische Figur auftreten zu können. — Von diesen Aufführungen haben wir Kenntnis fast nur durch die Ratsprotokolle und Steuertabellen der Städte, die uns zeigen, welche Lasten die Behörden den Wandertruppen auferlegten. Eine Theaterkritik oder ähnliches gab es m dieser Zeit noch nicht. — Den hiermit angedeuteten Charakter hatte die dramatische Kunst in Deutschland die letzten Jahre des sechzehnten und das erste Drittel des siebzehnten Jahrhunderts hindurch. Witkowski teilt einen Theaterzettel aus Nürnberg mit, der uns einen Blick auf das tun läßt, was geboten wurde: «Zu wissen sey jedermann, daß allhier ankommen eine gantz newe Compagnie Comoedianten, die niemals zuvor hier zu Land gesehen, mit einem sehr lustigen Pickelhering, welche täglich agieren werden, schöne Comoedien, Tragödien, Pastorellen (Schaffereyen) und Historien, vermengt mit lieblichen und lustigen Interludien, und zwar heut werden sie präsentirn, eine sehr lustige Comoedi genannt

angefangen werden.» Zu dem Ausdruck Pickelhering, das heißt Bückling, sei gesagt, daß sich die erwähnte, im Mittelpunkt der Darstellungen stehende komische Figur Namen beliebter Nahrungsmittel gab: Hans Wurst, Hans Knapkäse, Stockfisch und so weiter. — Nach 1631 traten andere Zustände ein. Die englischen Truppen verlieren sich; an ihre Stelle traten «hochdeutsche Komödianten».

Es sei noch besonders auf Witkowskis Schilderung der damaligen Bühne hingewiesen:

«Schon lange zuvor ist der weite Raum des Hofes, der eine sehr große Menschenzahl faßt, dicht gefüllt. Vorn an der Tür haben die Eintretenden eine Tafel gefunden, darauf geschrieben steht, daß der Platz für die Person sechs Kreuzer kostet. Sonst haben die Engländer oft mehr gefordert, das ist aber diesmal nicht gestattet. Das Publikum, das die immerhin hohe Summe erlegt hat (die deutschen Truppen bekamen nur einen halben Kreuzer), sitzt vor der Bühne und um die Bühne herum, die mit der heutigen wenig Ähnlichkeit hat. Sie bestand aus einem kleinen Gerüst, das an der Rückwand des Hofes aufgeschlagen war und nur einen geringen Teil derselben einnahm. Es war auf drei Seiten offen, nur hinten war es mit Teppichen verhängt, vor denen man ein kleineres erhöhtes Gerüst sah, zu dem Treppen hinaufführten. Dieses diente einem doppelten Zwecke. Einmal wurde seine Plattform stets verwendet, wenn man einer Erhöhung, einer Stadtmauer, eines Hügels oder Turmes bedurfte. Dann aber diente sein Innenraum dazu, um eine zweite Bühne auf der Bühne zu schaffen, auf der namentlich die Szenen, welche in den Gemächern der Häuser spielten, dargestellt wurden. Diese zweite Bühne war mit Dekorationen ausgestattet und durch einen Vorhang verschließbar, so daß sie verwandelt werden konnte, während auf dem vorderen Teil der Szene gespielt wurde; eine äußerst praktische Einrichtung, die dem Aufbau der Dramen sehr zugute kam. Später wurde die Breite der Bühne über die ganze Rückwand des Gebäudes, in dem man spielte, ausgedehnt und so die heutige Gestalt unseres Theaters hergestellt, das weit von dem einstigen einfachen und doch so sinnreichen Gebrauch der Engländer entfernt ist.

Aber das wichtige Prinzip der Vorder- und Hinterbühne finden wir schon bei ihnen, es ist sozusagen hier schon die Urzelle der jetzigen Bühne gegeben.»

In Deutschland selbst entstanden zur Zeit, als das Theaterwesen unter dem Einflüsse der Engländer stand, nur dramatische Dichtungen, welche für das wirkliche Theater wertlos waren. Sie lehnten sich an die Griechen und Römer an. Erst an Moliere und an die von ihm entwickelte französische Kunst schloß sich auch in Deutschland wieder Fruchtbares. Einem völligen Verfall des Theaters in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts folgte durch Gottsched, der im Verein mit der genialen Bühnenkünstlerin Neuber wirkte, ein Aufschwung. Wenn man sich auch in Deutschland von dem französischen Einfluß wieder freigemacht hat: in dieser Zeit kann dieser Einfluß nur als ein äußerst günstiger bezeichnet werden.

NOTIZ

Ibsen als Tragiker



Im Februarheft der Zeitschrift «Bühne und Welt» wurde ein Aufsatz Johann Hertzbergs (Stockholm, in freier Übertragung von E. Brausewetter) veröffentlicht, der «Ibsen als Tragiker» behandelt. Er erscheint als ein bedeutsames Kapitel der modernen Dramaturgie. Der Verfasser führt aus, daß man in der hergebrachten Ästhetik drei Arten von Tragödien unterscheide: Schicksalstragödien, in denen das Fatum von überirdischen oder mystischen Mächten gelenkt wird; Charaktertragödien, in denen das Schicksal des Helden von seinem eigenen Charakter abhängt; Situationstragödien, in denen die Katastrophe eine notwendige Folge gewisser allgemein-menschlicher Verhältnisse ist. Bei Ibsen findet sich keine dieser drei Arten streng festgehalten. Seine Tragödien - und Hertzberg sieht in Ibsen vorzüglich einen Dichter des Tragischen -zeigen eine Stilmischung. Man kann sie zum Teil zu der einen,

zum Teil zur anderen Art zurechnen. - Obgleich nicht in einer ganz klaren Art, weist Hertzberg doch darauf hin, daß dies eine Folge der aus den modernen Erkenntnissen sich ergebenden Weltanschauung ist. Wir können heute kein waltendes Schicksal anerkennen. Wo ein naives Gemüt ein solches sieht, da sind für uns Naturgesetze vorhanden. Dadurch fließen für uns die beiden Vorstellungen des Schicksals und des aus den Situationen sich ergebenden notwendigen Zusammenhanges ineinander. Betrachten wir einmal die «Gespenster». Das Tragische folgt aus der Situation mit naturgesetzlicher Notwendigkeit. «Frau Alving und Oswald sind in eine allgemein-menschliche, tragische Situation gestellt, die auf dem unlösbaren Gegensatz zwischen dem Drang des Menschen nach voller Freiheit und Selbstvertrauen und seiner hilflosen Unterlegenheit unter die furchtbaren und unerbittlichen Gesetze der Erblichkeit beruht. Andererseits dagegen erinnern sie sehr an die antike Schicksalstragödie. — Sie haben keine Schuld auf sich geladen, die solch eine schreckliche Schickung erklären kann.» - Dieses «Erklären-kann» ist nicht vollständig. Die Erklärung kann allerdings keine moralische sein, aber sie ist im vollsten Sinne des Wortes eine naturgesetzliche. Weil er die aus den alten Weltanschauungen fließenden künstlerischen Stilarten im Sinne der modernen Weltanschauung umwandelt: deshalb steht uns Ibsen so nahe. — Man sollte also gar nicht, wie Hertzberg es tut, von einer Vermischung der alten Arten und Stile sprechen; man sollte vielmehr von der Schöpfung einer ganz neuen Art der Tragik sprechen: von der Tragik, die aus der Naturnotwendigkeit sich ergibt. Wenn Hertzberg sagt: «In unserer Zeit ist man zu der Erkenntnis gekommen, daß nicht ein einzelner Faktor das Schicksal bestimmt, sondern viele zusammen», so müssen wir hinzufügen: Sie wirken eben zusammen im Sinne der Natur, in der jede Tatsache aus dem Zusammenwirken vieler Elemente entsteht. Die älteren Weltanschauungen gingen nicht von dieser Erfahrung, sondern von einer vorgefaßten Meinung aus, die ihnen irgend einen der Faktoren: Schicksal, Charakter, Situation besonders in die Augen springen ließ.

«WIENER THEATER 1892-1898»

Im Himmel soll mehr Freude sein über einen Bekehrten als über neunundneunzig Gerechte. In dem Himmel der Ästhetik, in dem der Wiener Kritiker Ludwig Speidel Hauptheiliger ist, muß daher die Freude groß sein über die Bekehrung des einstigen Hauptketzers Hermann Bahr. «Diese Sammlung von Rezensionen, die ich, von 1892 bis 1898, erst in der über Wiener Theater geschrieben habe, soll zeigen, wie ich von unsicheren, aber desto heftigeren Forderungen einer recht vagen Schönheit nach und nach doch zu einer reinen Ansicht der dramatischen Kunst gekommen bin und das Theater, was denn sein Wesen ist, erkannt habe. Dies verdanke ich Ihnen allein. Durch Ihre Worte ist mir der Sinn aufgegangen, von Ihnen habe ich gelernt, was das Drama soll, durch Ihre großen Forderungen bin ich von den Launen frei geworden. Und Sie haben mich auch gelehrt, was unser, der Kritik, dieser

Menschen» geschrieben hat. Hermann Bahr hat seine Jugendbildung ganz aus der modernen Richtung geholt. Es gab eine Zeit, in der er der Kritiker der «Moderne» par excellence war. Und jetzt hat er sich zu den Anschauungen des ästhetischen Konservatismus bekehrt. Es gibt dafür nur eine Erklärung: Bahr hat niemals aus dem innersten Grund seiner Seele heraus die «Moderne» vertreten. Er hat sich ihre Schlagwörter angeeignet und mit ihnen gewirtschaftet. Er hatte immer eine starke Neigung und auch Begabung, dafür nette glatte Formeln zu finden, was die moderne Kunst will. Aus dem Wesen seines Innern kamen diese Formeln nicht. Ein dialektisches Spiel hat er getrieben. Deshalb wird ihm auch die Bekehrung leicht. Sein Entwicklungsgang ist kein natürlicher. Als er jung war, hat er die Ästhetik der Vischer und Spei-del nicht verstanden. Aber er hat sie bekämpft. Andere gingen gerade von dieser Ästhetik aus. Sie haben sich auf Grund dieser Ästhetik mit den berechtigten Grundsätzen der Kunst auseinandergesetzt. Aus der Einseitigkeit dieser Grundsätze heraus haben sie zunächst die Aufgaben der neuen Kunst nicht verstanden. Heute verstehen sie ihre Forderungen. Sie beurteilen das Neue nach dem Maßstabe, den ihnen die gute alte Ästhetik geliefert und den sie entsprechend fortgebildet haben. Dadurch sind sie zu einem gerechten Urteile gekommen. Sie können sich nicht zu Speidel bekehren. Denn die Arbeit ihres Lebens ist, über Speidel hinaus, zu einer modernen Ästhetik zu kommen. Wenn sie über die «Moderne» urteilen, so hat ihr Urteil das Element der alten Ästhetik in sich, das berechtigt war.

Hermann Bahrs Ästhetik hatte dieses Element nie m sich. Und seine neue Ästhetik wird wohl nicht weniger oberflächlich sein als seine alte. Sie erscheint weniger als Fortentwickelung denn als Bankerott. Er wird nunmehr in nette glatte Formeln bringen, was Speidels Ansicht ist, wie er früher in nette glatte Formeln gebracht hat, was Ibsens Meinung ist.

DAS DEUTSCHE DRAMA DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS

Dr. Siegismund Friedmann, Professor an der R. Academia Scienti-fico-Letteraria in Mailand, hat sich die Aufgabe gestellt, die Geschichte des deutschen Dramas nach Schiller darzustellen. Die von Ludwig Weber besorgte Übersetzung seines Buches ist soeben erschienen (Erster Band. Leizpig 1900). Wir haben es mit einer literarischen Erscheinung zu tun, die in der Anlage und Durchführung ihrer Aufgaben als eine bemerkenswerte Leistung bezeichnet werden darf. Wer eines Führers bedarf, um sich in der deutschen dramatischen Literatur nach Schiller und Goethe zu orientieren, kann in diesem Buche einen zuverlässigen und im höchsten Maße anregenden finden. Aber auch wer bereits ein ausgereiftes selbständiges Urteil besitzt, wird sich mit Interesse in Friedmanns Auseinandersetzungen vertiefen. Ein Mann von energischer, feiner künstlerischer Empfindung spricht zu uns. Von einer hohen Warte herab werden die Dramatiker: Heinrich von Kleist, Christian Dietrich Grabbe, Christian Friedrich Hebbel, Otto Ludwig, Franz Grillparzer geschildert. Friedmann ist es vortrefflich gelungen, die literarischen Porträts dieser Persönlichkeiten in individualisierender Charakteristik herauszuarbeiten. Er hat die Gabe, auf die Eigenart des einzelnen Geistes einzugehen und ein geschlossenes Bild von ihm zu gewinnen, ohne in die Unart vieler moderner Charakteristiker zu verfallen, welche die Persönlichkeit durch allerlei Nebensächliches ihres bürgerlichen Daseins zu kennzeichnen suchen. Einen ästhetischen Kritiker und einen geschichtlichen Betrachter lernen wir kennen. Der eine beeinträchtigt den andern nicht. Eine gründliche Kenntnis der deutschen literaturgeschichtlichen Leistungen verleiht dem Buche eine außerordentliche Gediegenheit. Und es wirkt besonders wohltuend, daß der Autor nicht ein zopfiger Gelehrter ist, sondern ein freier, weltmännischer Beobachter. Eine gerechte Würdigung einer solchen Arbeit kann nur derjenige üben, der zu beurteilen vermag, welche Fülle von Studien vorangehen müssen, um zu solcher Freiheit des Urteiles zu gelangen. Was den Fehler so vieler

literarhistorischer Bücher bildet, daß uns ihre Verfasser mit einer Masse von unverarbeitetem Stoffe überschütten, das ist hier ganz vermieden. Friedmann gibt die Ergebnisse, ohne uns durch Vorführung der Stadien abzustoßen.

Der Verfasser findet überall die springenden Punkte, um uns in die Seele der Persönlichkeiten zu führen, die er schildert. Charakteristiken wie diejenige von Kleists «Penthesilea» oder Hebbels «Gyges und sein Ring» sind Meisterstücke. Die an der Grenze zwischen pathologischer Exzentrizität und philosophischer Tiefe wie über einem Abgrunde schwebende Gestalt Kleists, die herbe Psychologenkunst Hebbels, der grüblerische Genius Otto Ludwigs, die von einer gewissen Phiüstrosität nicht freie Klassizität Grillparzers: sie kommen alle zur vollen Geltung und anschaulichen Darstellung.

Rühmend hervorheben möchte ich, daß Friedmann ein echtes Gefühl dafür hat, wieviel von einer genialischen Persönlichkeit der Zeit angehört und wieviel nur aus dem Grunde ihrer Individualität herausgeholt werden muß. In dieser Beziehung wird ja gerade von Literarhistorikern besonders viel gesündigt. Die einen stellen nur «Strömungen» dar und lassen die Persönlichkeiten innerhalb dieser Strömungen wie Marionettenfiguren erscheinen, die von den Fäden des Zeitgeistes gezogen werden, die andern übersehen das, was eine Persönlichkeit ihrer Zeit verdankt, mehr oder minder ganz. Keine literarhistorische Methode kann davor bewahren, in den einen oder den andern Fehler zu fallen. Einzig und allein ein richtiges Taktgefühl kann den Ausschlag darüber geben, was in einem Geiste originell, individuell, und was nur ein Ergebnis der Zeit ist, in der er gelebt hat. Und man muß gerade Friedmann das Zeugnis ausstellen, daß er diesen Takt besitzt. Er läßt sich in seiner Beurteilung nicht durch eine von vornherein feststehende Methode beeinträchtigen. Seine Methode ist in jedem einzelnen Falle ein Ergebnis der Sache.

Kleist hat in den beiden Gestalten Penthesilea und Käthchen von Heilbronn die beiden Pole der Weiblichkeit dargestellt. Das Weib «so mächtig im Aufopfern, in der Hingebung wie der Mann in der Tat und im Vollbringen, personifizierte er in seinem Käth-

chen von Heilbronn». In der Penthesilea ergibt sich gleichsam als Moral: «die Erklärung und die Verdammung jenes unmenschlichen, fabelhaften Staates, in welchem die Frauen die Männer aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen haben, es ist die Verdammung der Frau, welche die - nach den Ideen Rousseaus und Kleists — sehr engen Grenzen durchbrechen will, die ihr von der Natur angewiesen sind». Nun deutet Friedmann taktvoll auf den philosophischen Ursprung dieser Entgegensetzung hin, einerseits ohne Kleists Individualität dadurch zu verwischen, andererseits ohne die Inhaltsfülle der individualisierten dichterischen Gestalten in abstrakte Schemen aufzulösen. «Das Gegenteil eines solchen Charakters, Penthesilea, die er selbst als — nach der dunklen Philosophie seines Freundes Müller, der gerade zu dieser Zeit (1808) das System des Gegensatzes aufstellte — mußte untergehen, denn sie stand nicht nur außerhalb der Natur, sondern auch jenseits der inneren Moral der Dinge.»

Mit schlagenden, kurzen Bemerkungen weiß Friedmann über geschichtliche Erscheinungen Licht zu breiten. Bei Besprechung der schrecklichen Erschütterung, die die Aussicht auf den nahen Tod in dem Prinzen von Homburg hervorruft, sagt er zum Beispiel: «Es handelt sich hier um eine Reaktion aus der physischen Seite, denn gleich darauf überwiegen wieder die edlen Momente seiner Natur über die rebellischen Sinnesregungen, und der Prinz zeigt sich in seiner ganzen sittlichen Kraft, in dem Glänze seiner Großmut. Durch diese augenblickliche physische Schwäche lehrt uns der Dichter, die Selbstopferung besser zu schätzen, die der Held nachher vollbringen wird, und ihn noch mehr zu bewundern in seiner stolzen und moralischen Größe. Er hat ihm die Marmorkälte genommen, welche die Helden des Theaters seit dem klassischen Altertum besaßen.» Hier ist gleich gut ein Charakter geschildert wie eine künstlerische Erscheinung. Um den Horizont Friedmanns zu kennzeichnen, dessen Weite sein Buch zu einem interessanten macht, möchte ich noch den Satz anfuhren, durch den er Kleist seine Stellung in der Weltliteratur anweist: «Durch das Individuell-Psychologische unterscheiden sich die Personen


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