Gesammelte Aufsдtze zur Dramaturgie



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Anschaulich tritt der Gegensatz zwischen Tieck, dem Dramaturgen, und Tieck, dem Dramatiker, in dessen scharfer Verurteilung der Dramen des reifen Schiller zutage. Wie ein Hohn auf die eigene Produktion erscheint es, wenn Tieck das Walten des Schicksals in der «Braut von Messina» mit bitteren Worten tadelt. Denn Schiller hat versucht, dem dunkel waltenden Schicksal einen Schein

von Notwendigkeit zu geben; während ihm Tieck selbst in seinem «Abschied» und «Karl von Berneck» in der Gestalt des Zufalls eine wüste Herrschaft einräumt.

Die Ablehnung des Romantischen gegenüber dem Natürlichen, Menschlichen spricht sich bei Tieck am schroffsten aus in seiner Kritik der antikisierenden Richtung Schillers und Goethes. Er ist überhaupt ein Feind des Humanismus, der die antike Bildung und Anschauung in das moderne Leben hineinträgt. Er verspricht sich ein Gedeihen der Kunst nur, wenn sie ihren Inhalt aus dem Boden des Nationalen saugt. In «Goethe und seine Zeit» spricht er sich gegen den Humanismus aus: «Es wäre zu wünschen, daß ein ebenso genialer Kopf wie Rousseau oder Fichte war, mit derselben scharfen, womöglich noch schärferen Einseitigkeit als diese über den geschlossenen Handelsstaat und den Schaden der Wissenschaften geschrieben haben, dartun möchte, welchen Nachteil uns die Kenntnis der Alten gebracht hat. Wie alles bis dahin noch in Erinnerung Bestehende zum Verächtlichen herabgesunken, wie alles neue, gute und richtige Bestreben gehemmt, wie das Eigentümliche, Vaterländische oft durch eine verkehrte Anbetung und halbes Verständnis der Alten ist vernichtet worden.» Und in seinem dramatischen Märchen: «Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen» spottet er, indem er Gegenstände, die aus dem Volksmärchen entlehnt sind, zum Beispiel die Siebenmeilenstiefel, ironisch in antikem Lichte darstellt: «Glauben Sie mir, diesen Stiefeln sehe ich es an, daß sie noch aus der alten Griechenzeit zu uns herübergekommen sind; nein, nein, solche Arbeit macht kein Moderner, so sicher, einfach, edel im Zuschnitt, solche Stiche! Ei, das ist ein Werk von Phidias, das laß ich mir nicht nehmen. Sehn Sie nur einmal, wenn ich den einen so hinstelle, wie ganz erhaben, plastisch, in stiller Größe, kein Überfluß, kein Schnörkel, kein gotisches Beiwesen, nichts von jener romantischen Vermischung unserer Tage, wo Sohle, Leder, Klappen, Falten, Püschel, Wichse, alles dazu beitragen muß, um Mannigfaltigkeit, Glanz, ein blendendes Wesen hervorzubringen, das nichts Ideales hat; das Leder soll glänzen, die Sohle soll knarren, elendes Reimwesen, diese Konsonanz beim Auftritt; .. ich habe mich nach den



Alten gebildet, die lassen uns in keiner unserer Bestrebungen fallen.» Dies lässt Tieck den Hofschuster Zahn sagen.

Die moderne Welt, das moderne Leben sind grundverschieden von denen der Griechen, meint Tieck. Deshalb verurteilt er das Herüberziehen der antiken Weise in die moderne Dramatik, wie es Goethe, Schiller und die beiden Schlegel forderten. Auch an den Griechen schätzt Tieck dasjenige vor allem, was sich in der Darstellung und Auffassung dem Modernen nähert, wie zum Beispiel die Dramen des Euripides, während sich die Gräkomanen mehr zu Sophokles und Äschylos hingezogen fühlen, in denen das Spezifisch-Griechische zum reineren Ausdruck kommt. Das Lob, das Goethe und Schiller dem Aristoteles spenden, ist Tieck gründlich zuwider. Er sieht einen Grundunterschied zwischen den Lebensbedingungen des griechischen und des deutschen Dramas. Bei den Griechen kam es auf die Ausgestaltung der Fabel, der Handlungen an; bei den Modernen ist die Herausarbeitung der Charaktere die Hauptsache. «Das neuere Drama ist offenbar vom alten wesentlich verschieden, es hat den Ton heruntergestimmt, Motive, Charakterzeichnung, die Zufälligkeiten des Lebens treten mehr hervor, die Gemütskräfte und Stimmungen entwickeln sich deutlicher, die Komposition ist reicher und mannigfaltiger und die Beziehung auf das öffentliche Leben, die Verfassung, Religion und das Volk ist entweder zum Schweigen gebracht oder steht zum Werke selbst in einem ganz anderen Verhältnis. Die Bedeutung des Lebens, dessen Verirrung, das Individuelle, Seltsame ist mehr zur Sprache gekommen; und diejenigen Autoren, die zuweilen den runden, vollen Ton der alten Tragödie haben anschlagen wollen, sind fast immer in Bombast und den Ton des Seneca verfallen.»

Tieck stellt das moderne Charakterdrama dem alten Situationsdrama gegenüber. Im Mittelpunkte seiner dramaturgischen Ausführungen steht der Gedanke, daß das moderne Drama die Aufgabe habe, die Charakteristik und Realistik zu pflegen. Deshalb wendet er sich gegen den Schillerschen Idealismus und wird nicht müde, ihm den Shakespeareschen Realismus entgegenzustellen.

Die eigentlichen Schäden der antikisierenden Richtung findet Tieck in den späteren Goetheschen und Schillerschen Dramen. Die Jugendwerke beider Dichter haben seinen fast uneingeschränkten Beifall. Er bedauert, daß Schiller von der Bahn, die er in seinen «Räubern», Goethe von derjenigen, die er in seinem «Götz» eingeschlagen, sich entfernt haben. Und er erhebt gegen den ersteren den schweren Vorwurf, daß er, «sowie er gewissermaßen erst unser Theater gegründet hat, auch der ist, der es zuerst wieder zerstören half.» «So weit von der Wahrheit wie in der hat sich unsere Bühne wohl noch nie verirrt, und es bleibt ein unbegreiflicher Irrtum des großen Dichters, auf diese Weise, die das Schauspiel aufhebt, statt es zu ergänzen oder zu verklären, den Chor der Alten für uns ersetzen zu wollen.» Dagegen läßt Tieck den Eisheim zum Leonhard in dem «Jungen Tischlermeister» von den «Räubern» sagen: «Du weißt, wie ich dieses kecke, verwegene, zum Teil freche Gedicht liebe, mehr als die meisten meiner Landsleute, die Schiller verehren. Es ist ein übertrotziges Titanenwerk eines wahrhaft mächtigen Geistes, und ich finde nicht nur schon ganz den künftigen Dichter darin, sondern glaube sogar Vortrefflichkeiten und Schönheiten in ihm zu entdecken, Ankündigungen, die unser geliebter Landsmann nicht so erfüllt hat, wie wir es nach diesem ersten Aufschwung erwarten durften.» Man vergleiche damit etwa Tiecks Urteil über «Wilhelm Teil»: «Wenn manche, selbst bedeutende Kritiker dieses Werk für das beste, für die Krone Schillers haben erklären wollen, so kann ich so wenig mit diesem Urteil übereinstimmen, daß ich vielmehr das Schauspiel im Schauspiele vermisse, und daß, wie ich glaube, die ganze Virtuosität und Erfahrung eines gereiften Dichters dazu gehörte, um aus diesen einzelnen Szenen und Bildern, aus diesen Reden und Schilderungen, fast unmöglichen Aufgaben und Begebenheiten, die meist undramatisch sind, scheinbar ein Ganzes zu machen. und sind Kunstwerke in einem viel höheren Sinne, und das Fragmentartige des beweist sich schon darin, daß man ohne Nachteil, vielleicht mit Gewinn den Schluß weglassen und die Szene der Liebe ausstreichen könnte, die durchaus nicht mit dem Tone des Ganzen zusammenklingen will. Dieses

Werk ist eben ein Beweis, wie leicht wir Deutschen uns an Gesinnung und Schilderung begnügen.»

Übereinstimmend mit diesen Auslassungen Tiecks sind seine folgenden über Goethe: «Ich habe Goethe in seinen Jugenddichtungen unendlich bewundert und bewundere ihn noch; ich habe soviel zu seinem Lobe gesprochen und geschrieben, daß, wenn ich jetzt so viele unberufene Lobredner höre, ich noch in meinem hohen Alter in Versuchung kommen könnte, zur Abwechslung einmal ein Buch gegen Goethe zu schreiben. Denn darüber wird man sich nicht täuschen können, daß auch er seine Schwächen hat, die die Nachwelt gewiß erkennen wird.» «Niemals dürfen wir zugestehen», heißt eine andere Äußerung, «daß Goethe späterhin in seiner Begeisterung, Dichterkraft und Ansicht höher gestanden habe als in seiner Jugend... Sein Streben nach dem Vielseitigen hat seine Kräfte zersplittert, sein bewußtvolles Umblicken hat ihm Zweifel erregt und auf Zeiten die Begeisterung entfernt.»

Dagegen hebt Tieck an den Dramen der Stürmer und Dränger den Stempel des deutschen Geistes und den wahrhaft modernen Charakter hervor. Recht hineinblicken in Tiecks Auffassung läßt uns sein Urteil über Heinrich von Kleist. Dessen tiefes Eindringen in die dargestellten Charaktere, seine wahrheitsgetreue Realistik weiß er nicht oft genug hervorzuheben. Besonders charakteristisch sind seine Aussprüche über den «Prinzen von Homburg». Er tadelte das Publikum, das sich daran gewöhnt hat, alle Helden nach einer gewissen Schablone gezeichnet sehen zu wollen. Der allgemeine Begriff eines Helden hat den Blick dafür getrübt, daß eine individuelle Heldenfigur einmal auch so sein kann wie der Prinz von Homburg. Ein Held soll, nach jenem allgemeinen Begriffe, vor allem den Tod verachten, das Leben gering schätzen. Aber Kleist habe einmal einen Helden gezeichnet, aus dessen Seelenbeschaffenheit seine Todesfurcht verständlich ist.

In richtiger Weise zeichnet Bischoff das Verhältnis Tiecks zu Lessing. An diesem Verhältnisse wird zugleich anschaulich, wie sich Tieck zu dem Naturalismus stellt. Lessing, meint Tieck, habe mit Eifer gegen das Verschrobene und Alberne eines konven-

tionellen Idealismus sich gewendet. Aber er sei dadurch in den Irrtum verfallen, die Natur als solche darstellen zu wollen. Er wurde auf diese Weise der Erfinder und Einrichter des häuslichen, natürlichen, empfindsamen, kleinlichen und durchaus untheatralischen Theaters. Denn Tieck wollte trotz seines realistischen Glaubensbekenntnisses niemals die bloße Natürlichkeit auf der Bühne sehen, sondern die vertiefte, in ihrem Wesen erkannte Natürlichkeit. Deshalb erschienen ihm Kleists Figuren, die ihre Seele offenbar werden lassen, dramatischer als Lessings Personen, die aus einzelnen Beobachtungen zusammengefügt sind.

Ein Ergebnis der Anschauungen Tiecks über das Drama sind seine Ausführungen über die Schauspielkunst. In dem großen Kampfe zwischen der Hamburger und Weimarer Richtung schlug er sich auf die Seite der Streiter, welche die erstere verteidigten und übten. Er wollte nicht Deklamation, sondern Charakterdarstellung, nicht das Schöne, sondern das Bedeutungsvolle. Er soll sich mit scharfen Worten gegen Goethes Ansicht von der Schauspielkunst gewendet haben. Spöttische Bemerkungen hat er wohl gemacht über die Regeln, wie sie der Weimarer Dichter und Theaterleiter verteidigte: daß alles schön dargestellt sein solle, daß das Auge des Zuschauers durch anmutige Gruppierungen und Attitüden gereizt werden solle, oder daß der Schauspieler zuerst bedenken möge, nicht das Natürliche herauszuarbeiten, sondern es idealisch vorstellen solle. Viel näher als Goethe steht in dieser Beziehung Tieck den modernen Anschauungen. Er hatte kein Verständnis dafür, daß der Darsteller immer drei Viertel vom Gesicht gegen die Zuschauer wenden müsse, nie im Profil spielen, noch den Zuschauern den Rücken zuwenden dürfe. Künstliche Deklamation und falsche Emphase nennt Tieck ein solches Spiel. Er lobt dagegen Schröder: «Die Einfachheit und Wahrheit ist es, was Schröder charakterisierte, daß er keine bestechende Manier sich zu eigen machte, niemals in der Deklamation ohne Not in Tönen auf- und abstieg, niemals dem Effekt, bloß um ihn zu erregen, nachstrebte, nie im Schmerz oder in der Rührung jene singende Klage anschlug, sondern immer die natürliche Rede durch nchtige Nuancen führte und nie verließ.»

Hinreißend soll Tieck als Vorleser gewesen sein. Er hat gerade dadurch bewiesen, wie hoch er eine stilistisch vollendete Art der Rede trotz seiner Forderung der Natürlichkeit schätzte.

Überhaupt darf man Tiecks Bestrebungen nicht verwechseln mit den Forderungen nach einer völligen Abstreifung alles dessen, was die Bühne ihrer Natur nach verlangt. Er hatte für die Möglichkeiten des Theaters einen feinen Sinn. Charakteristisch ist, was er über die Dekorationen sagt: «Warum soll die Bühne nicht geschmückt sein, wo es paßt, durch Aufzug, Tanz erheitern? Warum soll ein Gewitter nicht natürlich dargestellt werden? Es ist nur die Rede davon, daß dies nicht die Hauptsache werde und den Dichter und Schauspieler verdränge.» Das Ideal, das Tieck für die Bühne vorgeschwebt hat, ist ein Mittelding zwischen der altenglischen Bühne mit ihrer Schmucklosigkeit und der modernen Entfaltung aller möglichen raffinierten Mittel, die nur die Empfänglichkeit für die eigentliche Dichtung abstumpfen. Er brachte im Jahre 1843 Shakespeares «Sommernachtstraum» mit Hilfe der dreistöckigen Mysterienbühne zur Aufführung, weil durch diese Einrichtung die unzähligen Verwandlungen vermieden werden, welche jeden Zusammenhang zerstören und eine Empfindung, die eben im Entstehen war, vernichten.

Am enthusiastischsten hat Devrient, der Verfasser der «Geschichte der deutschen Schauspielkunst», die Verdienste Tiecks um die deutsche Dramaturgie anerkannt. Während der Ausarbeitung dieses Werkes, am 24. März 1847, schrieb Devrient an Tieck: «Die Geschichte der deutschen Schauspielkunst, welche ich zu bearbeiten unternommen habe, bringt, je weiter und tiefer ich forsche, alles, was ich von Ihnen je über das Wesen unserer Kunst vernommen habe, mir wieder frisch in die Gedanken und läßt so vieles, was mir sonst Zweifel machte, zu völliger Überzeugung werden. Mit dem, was Sie über die Entwickelung der deutschen Bühne hier und da in Ihren Werken ausgesprochen — leider ist es nur viel zu wenig für mein Bedürfnis -, fühle ich mich immer mehr und mehr in Übereinstimmung geraten, so daß ich Ihre Anschauungen als die allerunfehlbarsten habe erkennen lernen.»

VON DER VORTRAGS KUNST

So sehr wie die Schauspielkunst liegt auch die Kunst des Rezitators im argen. Wir nehmen im wesentlichen die gleichen Mängel in beiden wahr. Hier wie dort meistens das Bemühen des Reproduzierenden, aus dem Kunstwerk «etwas zu machen», das heißt den Dichter sich und dem Streben nach Erfolg unterzuordnen. Bei dem Schauspieler ist uns dieser Mangel verständlich, denn wir müssen zugeben, daß selbst da, wo ein Drama der scharfen Akzentuierung durch den Schauspieler entraten kann, das grobsinnige Publikum dem Lichter aufsetzenden Darsteller gern einen starken Erfolg bereitet. Daß wir dem gleichen Mangel in der Vortragskunst begegnen, ist uns weniger verständlich und dünkt uns auch weniger entschuldbar. Weniger entschuldbar deshalb, weil hier die Klippen nicht bestehen, die im Drama und in seiner szenischen Darstellung dem Reproduzierenden die Aufgabe erschweren. Weniger verständlich, weil wir anzunehmen geneigt sind, daß diese ihren ganzen Vorwürfen und ihrer Aufgabe nach schamhaftere Kunst nur Jünger auf ihren Weg lockt, denen genügend Entsagungsfähigkeit und ein hervorragendes Verständnis für ihre Einfalt und Zartheit eigen ist. Aber die praktischen Erfahrungen beweisen uns, daß die wenigsten Vortragenden begriffen haben, daß die Meisterschaft hier an das künstlerische Bescheiden gebunden ist. Sie sind meistens noch beruflich an die Schauspielkunst mit ihren ganz anderen Aufgaben gebunden, sie sind nicht immer ihre feinsinnigsten Vertreter und schleppen ihre Äußerungsweisen und gar ihre Mängel als Verbrechen in die neue Kunst hinein. Es ist peinlich und Entsetzen erregend, wie sie uns häufig durch Einfalt und durch zarte Stimmung hervorragende Werkchen dramatisch pointiert und materialisiert oder gar durch starke Gesten unterstützt zu Gehör bringen. War es so wirklich einmal einem Kunstwerk vergönnt, in dieser lebhafteren Weise in Erscheinung zu treten, sich einem größeren Kreise, der vielleicht mit diesem Augenblick in ein Verhältnis zur Kunst zu bringen war, zu offenbaren, so wurde nun seine Seele mit groben Händen gewürgt, mit Knitteln totgeschlagen. Diese Vortragsweise trägt nicht dazu bei, lebendige,

befruchtende Beziehungen zwischen der Kunst und dem Volke herzustellen, nach denen beide Teile brünstig schreien.

Erfahrungen sagen uns, daß der Schauspieler, der sich nicht genügend von den Bühnenmitteln lossagen kann, der schlechteste Interpret für Dichtungen ist, die keine mimischen Aufgaben stellen. Mit unverwischbaren Eindrücken segneten mich durch ihren Vortrag Menschen, die diese Interpretation nicht berufsweise betrieben, feinsinnige Nachempfinder oder selbstschöpferische Naturen, die manchmal nur bescheidene Stimmittel, nicht reichliche Modulationsfähigkeit und keine ausgebildete Technik besaßen, von denen man wohl sagen konnte, daß sie nicht «über ihrer Aufgabe standen». Man fühlte, daß sie noch bei dem Lampenlicht von der Stimmung des Kunstwerks gepackt waren. Mit einem schlichten, edlen, natürlich-menschlichen Ton trugen sie die Partien vor, die so ihren allein richtigen Ausdruck fanden, denen andere aber eine emphatische Prägung gaben. Wie ganz anders hoben sich von diesem ruhvollen Grunde kleinere Wallungen ab, wie bewegungweckend konnte da eine leiswehe Anspielung wirken, und welche unerhörte, uns aufwärtswirbelnde Steigerung ließ dieses Haushalten mit dem Pathos zu! Ach, hier erwies sich auch mit so unfehlbarer Gewißheit, daß es nicht erlogene Schmerzen waren, die Dichter und Rhapsode in ihre Sprache legten. Der Rhapsode muß im Leben herzlich lachen und bitterlich weinen gekonnt haben, er muß Naivität sich ins Mannesleben hinübergerettet haben, er muß nicht allzuviel berufsmäßig Lachen und Weinen wecken müssen; Erlebnis muß ihm das Kunstwerk sein, er muß weinen, beben und donnern können, ohne zu winseln oder zu poltern, dann folgen wir ihm willig an die ungewohntesten Stätten, zu den Inseln der Glückseligen oder zu den Schrecken des Orkus. Eine derartige Teilnahme kann von einem Berufsinterpreten kaum erwartet werden; von einer Sensation in die andere geschleudert, stumpfen sie ihn endlich ab; es gehörten auch allzu starke Naturen dazu, die nicht von einer derartigen ungemüder-ten Teilnahme aufgezehrt werden sollten. Nur geniale Schauspieler, deren universeller Geist es ihnen leicht macht, die spezifische Berufssphäre zu verlassen, schlichte, liebenswürdige Mimen, die

ihren Menschheitskern so beisammen haben, daß ein Berufsmarasmus nicht eindringen kann: diese zeigen sich auch geeignet, ein Kunstwerk zur Geltung zu bringen. Von ihnen kann jeder Rhapsode unendlich viel lernen. Denn es gibt spröde Kunstwerke, die unsern Sinn unerwärmt vorübergehen ließen, und wo es erst eines erfahrenen In-die-Tiefe-Dringers bedarf, um uns ein bedeutendes Leben aufzudecken. Eine einzige solche Gelegenheit hat uns vielleicht dazu verholfen, jedem ferner uns begegnenden Kunstwerk mit einer erweiterten Aufnahmefähigkeit gegenüberstehen zu können. Es hat Dichter gegeben, die erst eines solchen Apostels bedurften, um Geltung und hiermit die Bedingungen weiteren Schaffens zu erlangen.

Die Lyrik und die feinere Prosadichtung führen ein unbeachtetes Dasein, und es fehlt so ihren Schöpfern an einem blinkenden, höher lockenden Ziele. Es ist nicht wahr, daß der Dichter keine Anerkennung nötig habe. Das Gerede von der «Kunst als Selbstzweck» ist ein allen Sinns entbehrendes Ammengerede, das man mit dem Pennäler ablegen sollte, und im allgemeinen ist die Behauptung, daß die Lyrik der lebhafteren, durch den Vortrag gegebenen Äußerungsart entraten könne, eine unsinnige. Es gibt nur wenige im Volk, deren Imagination durch den Vortrag verletzt würde; bei den meisten Menschen hingegen wird eine sinnliche Hingebung an das Kunstwerk erst ermöglicht, und Form und Inhalt beleben sich ihnen. Vor allem: wenigstens auf diesem Boden bietet sich einmal eine Vereinigung des Dichters mit dem Volke. Eine jede derartige Berührung hilft dem Dichter von seiner Blutarmut. Denn die Inzucht unter den geistig und seelisch Schaffenden ist jammergroß und kann nicht bei allen auf den Ekel an unseren Kulturverhältnissen zurückgeführt werden. Jede Berührung wird auch auf ihre künftigen Kunstäußerungen lebenspendend wirken.

Die Kunst verlangt nach Gelegenheiten, sich lebhaft durch vermittelnde Organe äußern zu können. Mir scheint, daß das Wirken für die Kunst sich mehr in die Breite werfen muß. Die Zenrali-sation saugt Kräfte auf, ohne sie entsprechend nach außen zur Geltung zu bringen; mit dem Wirken des Einzelnen in seinem

Kreise wird ein sensibleres Publikum geschaffen werden. Wir brauchen mehr Rhapsoden, doch wir brauchen auch bessere Rhapsoden, als wir sie heute im allgemeinen haben. Die Möglichkeiten, zu wirken und edel zu wirken in dem Sinne meiner Forderungen, mehren sich auf dem angegebenen Wege. Er wird uns die Rhapsoden zuführen, die die Kraft haben, ein festlich versammeltes Volk zu fesseln. Dieser Weg wird Gutes für das aufnehmende Volk, für die Künstler und für die Künste bringen. Gesündere Wechselbeziehungen werden hergestellt werden.

Ich fühle selbst deutlich genug, daß meine letzten Sätze sich auf dem Felde von «wenn und aber» bewegen. Man braucht mich nicht darauf festnageln zu wollen. Ich meine aber, ich tat mein Teil, wenn ich offen von dem Jammer sprach, den wir alle fühlen. Wir wollen eine Rhapsodenkunst, eine große, wenn es sein kann, für die Festtagsbedürfnisse unserer Seele, doch zu jeder Stunde ist uns auch eine bescheidenere Heb, wenn sie nur edel und einfach ist. Ob groß oder bescheiden: hinaus mit den Mätzchen!

NACHSCHRIFT

Die Frage, welche in dem vorstehenden Aufsatz behandelt wird, werden vielleicht manche Leser nicht als eine dramaturgische gelten lassen wollen. Dennoch glaube ich, daß die Angelegenheit hier an der rechten Stelle zur Sprache kommt. Die Kunst des Vortrags kann, wie die Dinge heute einmal liegen, nur im Zusammenhange mit der Schauspielkunst behandelt werden. Die Orientierung über diese heute so stiefmütterlich betrachtete Kunst verlangt vor allen anderen Dingen die Lösung der Aufgabe: Wie verhält sich die Vortragskunst zur Schauspielkunst? Der letzteren stehen ungezählte Mittel zur Verfügung, die der Vortragende entbehren muß. Man muß sich klarmachen, daß beim bloßen Vortrage eine volle künstlerische Wirkung nur wird erzielt werden können, wenn das Mimische durch anderes ersetzt wird.

Unsere Zeit scheint wenig geneigt, die Vortragskunst überhaupt unter die Künste zu zählen. Das ist begreiflich, wenn man bedenkt, daß gegenwärtig das Streben nicht nach Einschränkung der künstlerischen Mittel, sondern nach Erweiterung geht. Die Wagnerische Kunst möchte mit Aufwendung aller Kunstmittel ein Gesamtkunstwerk schaffen. Ist es nicht doch ein Zeichen für die künstlerische Armut der Zeit, daß man alles zusammenzutragen sucht, um zu sagen, was man sagen will? Die Ausdrucksfähigkeit eines geringen Umfangs von Mitteln so zu erhöhen, daß man mit ihnen offenbaren kann, wozu die Natur einen großen Aufwand nötig hat, scheint viel künstlerischer. Was hat die Natur alles zu Gebote, um einen Menschen vor uns hinzustellen! Wie wenig davon hat der Bildhauer. Er muß in das Wenige hineinlegen, was die Natur mit ihrem Vielen erreicht.

Ebenso muß der Vortragende in seine Rede legen können, was beim natürlichen Sprechen nur im Verein mit anderem zum Leben kommt. Die Seele, die beim natürlichen Sprechen sich im Innern der Brust zurückhält, muß ausfließen in das Wort. Wir müssen Empfindungen hören, wenn wir einen Vortragskünstler vor uns haben. Damit steht im Zusammenhange, was über den Sprechstil beim Vortrage zu sagen ist. Ein Vortragender, der «natürlich» spricht, ist kein Künstler. Die Steigerung der Sprachaus-drucksfähigkeit muß studiert werden. Es werden sich auf diesem Gebiete Dinge ergeben, die nicht minder mannigfaltig sind als die Lehren der Gesangskunst. Man kann heute hier noch nicht einmal den Dilettanten vom Künstler unterscheiden. Es ist unter solchen Umständen nur natürlich, daß das Publikum «sich nichts vortragen lassen will», sondern glaubt: «das kann man ja bequemer haben, wenn man die Sachen selber liest.» Man wird erst verstehen lernen müssen, daß dies genau so treffend ist, wie wenn man sagt: wozu brauche ich eine gemalte Landschaft zu sehen? Ich sehe mir lieber die wirkliche Natur an. Was uns an einem Bilde interessiert, ist nicht die dargestellte Landschaft, sondern die Art, wie mit Linien und Farben das dargestellt werden kann, was die Natur mit unendlichen Kräften erreicht. Das Gefühl für das Wie des Vortrags sollte erweckt werden.

Wir werden eine richtige Aufnahmefähigkeit für dieses Wie erst dann haben, wenn uns der Inhalt des Vorgetragenen bekannt ist. Mit dem Interesse an dem Vortrage hat das stoffliche Interesse an dem Inhalt nichts zu tun. In den Sprachorganen liegen die Mittel des Vortragskünstlers. Und um des Genusses willen, den uns das Sprechen gewährt, müssen wir einen solchen Künstler hören.


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