2. Musik im Industriezusammenhang
Der Begriff Musikindustrie konnte sich in den 1920er Jahren etablieren7 und beschreibt die „Gesamtheit der an Musik gebundenen Prozesse der industriellen Produktion und Verbreitung von Trägermedien“8. Es besteht weitgehend Einigkeit darin, dass es „die Plattenfirmen sind, die das Machtzentrum der [Musik-]Industrie besetzen“9. An dem gesamten Produktkreislauf sind allerdings weit mehr Akteure beteiligt als nur die zentrale Tonträgerindustrie (Labels, Musikverlage, Studios und Presswerke). Neben dem Groß- und Einzelhandel geraten insbesondere die Massenmedien Rundfunk und Fernsehen sowie diverse Begleitmedien (Zeitschriften, Werbung etc.) in ihrer absatzprägenden Funktion ins Blickfeld. Der musikalisch-kreative Prozess wird meist außerhalb der Musikindustrie im engeren Sinne verortet, und die Künstler bilden in diesem Zusammenhang eine eigene Interessengruppe, die von kollektiven Verwertungsgesellschaften, die treuhänderisch die Erlöse aus Rundfunk, Konzerten und Leermedien unter den Urhebern verteilen, vertreten wird.
Die Musikindustrie hat sich seit der Weltwirtschaftskrise 1929-33 und insbesondere in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem hochgradig integrierten und global organisierten Industriezweig entwickelt, der von wenigen, meist der Elektronik- oder Medienbranche angehörigen Unternehmen dominiert wird.
Die fünf großen Plattenfirmen („Majors“ oder „Major Labels“) nahmen wie erwähnt 2002 etwa 75% des Tonträgermarkts ein10, wobei sich auf Universal Music11 25,9% des Umsatzes, auf Sony Music12 14,1%, auf Electrical and Music Industries Ltd. (EMI)13 12,0%, auf Warner Music14 11,9% und auf die Bertelsmann Music Group (BMG)15 11,1% verteilen.
Diese oligopolistische Struktur kann trotz Umstrukturierungen in Krisenzeiten, die meist mit der Einführung neuer Medien und kulturellen Brüchen zusammenhingen16, und z.T. spektakulären Übernahmen als maßgebliche Schablone der Musikindustrie bis in die 50er Jahre zurückverfolgt werden. Der Schluss von der monolithisch angelegten Gesamtstruktur des Tonträgermarkts auf seine Inhalte, kulturellen Wirkungen und Kalkulierbarkeit ist allerdings nicht zulässig. „Überzogene[n] Vorstellungen von der Manipulationskraft dieses Zusammenhangs“17 steht der Fakt entgegen, dass sich die Erfolgsquote mit einem Anteil von 10% an den jährlich veröffentlichten Produktionen (7% kostendeckend, 3% mit Gewinn, der die übrigen 90% verlusthaften Veröffentlichungen finanziert) seit Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr verändert hat18.
Um den Prozess operationalisierbar zu machen, geht die Musikindustrie nicht von vorhandenen Musikbedürfnissen aus, sondern versucht, „für ein auf Tonträger am Markt präsentes Stück Musik so kontrolliert wie möglich ein Publikum aufzubauen“19. Die Marketing- und Promotionmechanismen und vielfältigen Chartssysteme erfüllen deshalb Schlüsselfunktionen für die Tonträgerfirmen.
Die Independents sind dadurch gekennzeichnet, dass sie im Gegensatz zu den Majors kein eigenes Vertriebsnetz besitzen und auf Verträge mit unabhängigen Vertrieben angewiesen sind. Ihre Formen erstrecken sich von Ein-Personen-Enthusiasten-Unternehmen bis zu sog. „Major-Indies“, die in verschiedenem Grade den Marktmechanismen folgen. Während für die großen Labels das Material „nicht in seiner besonderen musikalischen Gestalt, sondern nur als Verkörperung eines Bündels verwertbarer Rechte von Interesse“20 ist, entwickeln sich die meisten Independent Labels aus einer bestimmten Szene heraus und konzentrieren sich auf eine Musikrichtung. Sie gelten als musikalische Innovatoren, die neue Marktnischen erschließen und Künstler aufbauen. Die schwerfälligen Majors folgen in die neuen Absatzgebiete mit Nachproduktionen, Künstlerübernahmen oder ganzen Labelaufkäufen.
Die Verwertungskette von Musik mit Tonträgern21 spannt sich von der Schaffung des Werks (Textdichter, Komponisten, Musiker, Verleger) über die Aufnahme, Vervielfältigung und das Marketing (Labels) zum Vertrieb in den Handel. Die Majors integrieren im Regelfall die Bereiche vom Verlag über die Produktion zum Vertrieb. Im Gegensatz zur Filmindustrie, die eine mehrgliedrige Verwertungskette (Kino, DVD/Video, PayTV, Fernsehen) besitzt, ist das Kernfeld der Musikindustrie die Erstverwertung, der Tonträgerverkauf. Die öffentliche Wiedergabe ist vor allem in ihrer Werbewirkung relevant, an Konzerten und Sendungen sowie an den Einnahmen durch Leermedienabgaben sind die Plattenfirmen nur marginal über die Verwertungsgesellschaften, in Deutschland die GVL und GEMA22 (auf der Verlagsseite), beteiligt, während diese Erlöse für die Künstler einen wichtigen Teil des Verdienstes ausmachen. Vom Verkaufspreis einer CD verbleiben etwas mehr als ein Viertel im Einzelhandel, 40% bei der Plattenfirma und ca. 16% auf der Künstlerseite (10% Gage/Tantiemen, 6% werden von der GEMA verteilt, wovon der Verlag die Hälfte erhält) .
Der „industrielle Prozeß der Herstellung, Verbreitung und Verwertung von Tonträgern [ist] keineswegs [...] die unmittelbare Organisationsform der Musikkultur“23, und der Tonträger stellt auch in seiner Reichweite nur einen Ausschnitt der Vorgänge dar, in denen uns Musik gegenübersteht. So wird Radio (mit einem durchschnittlichen Musikanteil von 75%24) wöchentlich von 82,4% der deutschen Bevölkerung gehört, durchschnittlich 195 Minuten täglich, während nur 43,1% Tonträger anhören, im Durchschnitt 24 Minuten täglich25. Der Käufermarkt für Tonträger ist gesamtgesellschaftlich gesehen ein Minderheitenmarkt. Während 40,1% der deutschen Bevölkerung überhaupt einen oder mehr Tonträger im Jahr 2003 erworben haben, verteilt sich der Umsatz typischerweise ungleich, so dass die 4,1% Intensivkäufer (9 oder mehr Tonträger im Jahr) für 38% des Umsatzes sorgten26.
Die hier skizzierte Musikindustrie im engeren Sinne ist auch in ihrem ökonomischen Gewicht nicht der bedeutendste Zweig im übergeordneten Zusammenhang der Musikwirtschaft27. So wurde etwa im Jahr 2000 in Deutschland mehr Geld für Konzerte ausgegeben (2,8 Mrd. Euro) als für Tonträger (2,6 Mrd. Euro)28, und mit der Herstellung und dem Verkauf von phonotechnischen Geräten ein weitaus größerer Umsatz erzielt als mit Tonträgern29. Dies führt zu in einer komplexen Interessenlage, die sich teilweise auch innerhalb der vertikal integrierten Unternehmen konflikthaft ausdrückt.
Die Tonträgerindustrie verkauft nicht nur Unterhaltungsprodukte, sondern auch Bausteine für Identitäten. Im „Differenzkapitalismus der Neunziger“30 und des neuen Jahrhunderts steht sie damit in verschärfter Konkurrenz um das Budget für Luxusgüter, für Kleidung, Mobiltelefonen, Computerspielen, Filmen; zu anderen und neuen Kultur- und Medienbranchen. Während der Prozess der Musikindustrie am point of sale endet, erlangt die Musik erst in ihrer aktiven Nutzung im Alltag Bedeutung. Die Rezeption und die Bedeutungen, die dem klanglichen Material darin zugeschrieben werden, sind durch soziale und psychische Prozesse bestimmt, die nur schwer kalkulierbar sind. Und vor dem Hintergrund der technologischen Entwicklung sind die „Kernprodukte [der Musikindustrie,] [...] Träume und Emotionen“31 zunehmend auch von Einzelpersonen selbst produzierbar.
An dem Komplex Musikindustrie partizipieren somit verschiedene Branchen und Parteien mit divergierenden Interessen. Seine Form, Vorgänge und Konflikte ergeben sich aus einem schwer kalkulierbaren Wechselspiel aus kulturellen, gesellschaftlichen, technologischen und ökonomischen Entwicklungen.
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