Inhaltsverzeichnis Einleitung



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Abb. 14.2 Kreatives und diskursives Denken im kybernetischen Modell der TOTE-Einheit

Denken besteht der Test bereits in einer Prüfung des Bezugs zum Problem, doch ist der Test noch offen, er prüft nur den Bezug zur Thematik oder zum Gesamtfeld des Problems. Die Operation besteht aus mehreren simultan ablaufenden Prozessen, wobei auch irrelevante beteiligt sein können. Die Prozesse sind nicht bewusst. Beim diskursiven (konvergenten) Denken wird ebenfalls der Bezug zum Problem getestet, gleichzeitig aber auch geprüft, ob die Operation direkt auf das Ziel bezogen ist. Dabei läuft nur ein Prozess als Hauptsequenz ab. Er ist deshalb auch bewusst. Wichtig ist nun die Zusammenarbeit zwischen beiden TOTE-Einheiten. Die Ergebnisse der kreativen Operationen landen bei der Einheit des diskursiven Denkens, sofern der Test einen Bezug zum Thema erbracht hat. Dort wird geprüft, ob die Information für das Problem genutzt werden kann. Beide Formen des Denkens, wie man sie auch immer nennen mag, arbeiten zusammen. Die bloße Produktion von Ideen, Bildern, Klängen reicht nicht aus, um zu qualitativ hochwertiger Originalität zu gelangen.

Zusätzlich zu diesem Aspekt der zwei verschiedenen Formen des Denkens bzw. der Informationsverarbeitung sollten wir noch auf zwei spezifische Prozesse eingehen, die im Niveau weit auseinander liegen: die Assoziationen und analogisches Denken. Die Assoziationen benutzt man seit mehr als hundert Jahren in der psychologischen Forschung. Bei der Untersuchung kreativer Prozesse kann man mit Hilfe der Assoziationsmethode gewissermaßen online kreative Prozesse erfassen. Eine Methode besteht darin, zu einem Reizwort, z.B.Farbe, 2minlangalleBegriffeniederzuschreiben, dieeinemzudemReizwort einfallen. Während die Probanden zunächst vulgäre Assoziationen nennen, bei „Farbe“ etwa „rot“, werden mit fortschreitender Produktion die Assoziationen immer ausgefallener und origineller. Tabelle 14.1 bringt ein Beispiel für solche Assoziationsverläufe bei zwei Versuchspersonen.

Tab. 14.1 Zunahme ausgefallener Assoziationen mit fortschreitender Suche

Reihenfolge

Person A

Person B

1

rot

rot

2

blau

grün

3

gelb

lila

4

schwarz

braun

5

freundlich

rosa

6

wohnlich

falb

7

heiter

hell

8

überflüssig

dunkel

9

Form

Kleid

10

Teint

attraktiv



Abb. 14.3 Assoziationsverlauf bei kreativen und wenig kreativen Personen (Mednik, 1967, übernommen aus: Oerter, 1980, S. 308)

Wie Abb. 14.3 zeigt, verlaufen die Assoziationen bei Kreativen anders als bei weniger kreativen Personen. Letztere bleiben bei Begriffen mit hoher Assoziationsstärke hängen; wenn das Repertoire erschöpft ist, fällt ihnen nichts mehr ein. Die Kreativen produzieren von Anfang an weniger Vulgärassoziationen, aber dadurch auch zunächst weniger Assoziationen überhaupt. Im weiteren Verlauf bringen sie dann seltene und originelle Assoziationen. Mednick (1967) hat diese Methode für die Konstruktion eines Tests genutzt (RAT: remote association test).

Auf einer viel höheren und komplexeren Ebene gibt es als kreativen Prozess das analogische Denken. Es besteht darin, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Gegebenheiten zu erkennen oder zu folgern (analog = ,gleichartig‘ im Griechischen). So kann man den menschlichen Körper mit einem Fahrzeug vergleichen, das bei Ausfällen repariert wird, Ersatzteile bekommt etc. Eine andere Analogie wäre, den menschlichen Körper als Ganzheit zu betrachten und das Modell eines lebendigen Systems zu nutzen, bei dem Störungen an einer Stelle zu Veränderungen des Ganzen führen können.

Immer wenn unser Vorstellungsvermögen aussetzt, greifen wir zu Analogien. Da sich die Galaxien von jedem Punkt des Weltalls gesehen voneinander entfernen, eignet sich als Analogie die Vorstellung eines Luftballons, der aufgeblasen wird. Die Galaxien befinden sich auf der Oberfläche des Ballons, sodass von jedem Punkt aus gesehen sich die Galaxien voneinander entfernen. Zum Verständnis von Gravitation als Krümmung der Raumzeit in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie benutzt man als Modell ein Gummituch, das durch Masse (Sterne, Planeten) Eindellungen erfährt. Genauso gut und richtig wären Erhebung statt Einsenkungen im Gummituch, aber letztere entspricht eher die Alltagsvorstellung, dass Masse nach unten drückt.

Analogien finden sich auch in der Kunst. Im Jüngsten Gericht von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle wird der Himmel oben und die Hölle untern dargestellt. Die Verdammten „stürzen“ nach unten, die Seligen schweben nach oben. Schweben und Fliegen haben mit der Überwindung der Gravitation, das Stürzen und Fallen mit der unausweichlichenKraftderGravitationzutun. SoistdieDarstellungvonObenundUntenderAusdruck von Freiheit und Zwang.

Kinder bedienen sich des analogen Denkens in großem Umfang, denn es befreit sie von den Zwängen des Sozialisationsdrucks und den Einschränkungen des Alltags. Ein Stock wird zu einem Pferd, ein Stuhl zu einem Fahrzeug, ein Tisch zu einem Haus. Diese Gegenstände sind Analogien zu den realen Gegenständen, denn das Kind benutzt ihre funktionelle Ähnlichkeit: der Stock eignet sich eben zum Reiten, der Stuhl als Fahrzeug, weil man sitzt, und der Tisch zum Haus, weil man unter einem Tisch „wohnen“ kann. Die Konstruktion fiktiver Realitäten durch das Kind bedeuten kreative Leistungen aus der Not heraus. Mit ihnen befreit sich das Kind von den Zwängen des Alltags (s. Kap. 10).



Phasen des kreativen Prozesses

Graham Wallas hat schon 1923 vier Phasen des kreativen Prozesses vorgeschlagen, die Sawyer (2006) noch um eine erweitert hat: Vorbereitungsphase, Inkubationszeit, Erleuchtung/Gedankenblitze, Überprüfung/Bewertung und Ausarbeitung.

Die Vorbereitungsphase führt zur Zielsetzung, Problembestimmung und zur Bereitstellung von Mitteln zur Lösung des Problems. Sie kann also lange Zeit in Anspruch nehmen. WichtigfürdieseerstePhaseisteineklareundmotivierteZielsetzung, sonst„weiß“dasUnterbewusste nicht, wonach es suchen soll. Die „Tests“ in der TOTE-Einheit (s. Abb. 14.2) können nur durchgeführt werden, wenn sie eine Zielvorgabe haben. Die nachfolgende Inkubationszeit ist äußerlich eine Zeit der Ruhe, innerlich ein Rumoren und gedankliches Umherschweifen. Das Unterbewusste beschäftigt sich mit dem Problem, man trägt es mit sich herum. Es gibt viele berühmte Beispiele, dass sich der Einfall plötzlich und unerwartet einstellt. Kékulé soll die Ringformel im Halbschlaf (oder beim Aussteigen aus einer Kutsche) gefunden haben. Crick, der zusammen mit Watson die Doppelhelix der DNAStruktur gefunden hat, berichtet in seinem Tagebuch, dass er frühmorgens im Labor am Schreibtisch mit Modellen der Basenpaare spielte und beim Herumschieben die entscheidende Idee hatte. Dem Nobelpreisträger Schrieffer fiel die mathematische Beschreibung des supraleitenden Zustands 1957 in der New Yorker U-Bahn ein. Bardeen, Erfinder des Transistors, und Träger zweier Nobelpreise in Physik, hatte den entscheidenden Einfall für die Idee der Supraleitung bei einem von seiner Frau veranstalteten Abendessen, zu dem ein schwedischer Gast eingeladen war. Bardeen, der während des ganzen Abends einsilbig war, erklärte seiner Frau hinterher lächelnd, dass ihm während des Abendessens die entscheidende Idee gekommen sei (Beispiele nach Laughlin 2009).

NachderErleuchtung, demAha-Erlebnis, wieesdieGestaltpsychologengenannthaben, kommt die kritische Bewertung. Hält der Einfall einer Überprüfung stand? Wie oft glaubt man, etwas Neues gefunden zu haben, das sich dann als Flop herausstellt. Fällt die Prüfung positiv aus, geht es in der letzten Phase um die Ausarbeitung der Idee, und in diesem Zeitabschnitt ist meist harte Arbeit angesagt. Edison bemerkte einmal: Kreativität ist 5% Inspiration und 95% Transpiration.

Natürlich laufen diese Phasen nicht bei allen kreativen Leistungen in dieser Form ab. Sie beziehen sich mehr auf Beispiele, in denen lange Zeit nach einem Ergebnis gesucht wurde. Die Alltagskreativität, die spontan benötigt wird, hat allenfalls solche Phasen en miniature.

Die kreative Persönlichkeit

Wir alle sind mehr oder minder kreativ, aber wie bei anderen Merkmalen auch, variiert Kreativität in ihrer Ausprägung und Höhe. Im Folgenden sollen Ergebnisse über Persönlichkeitsmerkmale von Hochkreativen dargestellt werden. In Kap. 8 haben wir drei Formen von Genotyp-Umwelt-Interaktion kennengelernt. Die dritte Form, nämlich die aktive Interaktion, ist für Kreative besonders bedeutsam. Der Genotyp sucht sich die Umwelt aus, die zu seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten passt. Die Künstler lassen sich von dem kreativen Milieu anderer Künstler anregen, Wissenschaftler suchen Forschungsinstitute auf, in denen sie ihre Interessen verfolgen können, und Komponisten setzen sich mit dem Umfeld aktueller und früherer Musikproduktion auseinander. Das heißt also, dass sich Kreative zu den Bereichen („Domänen“) Zugang verschaffen, die für ihren Bereich wichtig sind. Oft müssen sie diesen Zugang erst erkämpfen.

Andere Merkmale von Kreativen sind psychische Persönlichkeitsmerkmale. Zu ihnen gehören Offenheit, Sensitivität und Störbarkeit. Kreative sind mehr als der Durchschnitt offen für neue ungewohnte Eindrücke, sie erweisen sich als sensibel im doppelten Sinn. Zum einen bemerken sie Auffälligkeiten und Besonderheiten, über die andere hinwegsehen. Zum andern sind sie aber auch sensibel gegenüber Störungen. Eysenck (in Runco und Richards 1997) vermutet, dass Kreative eine schwächere Reizfilterung haben als weniger Kreative. Die Filterung durch das Gehirn dient dazu, dass wir nicht von Reizen überflutet werden, sondern unsere Aufmerksamkeit auf die relevanten Reize richten. Die Herabsetzung dieser Filterung erhöht die Störbarkeit, lässt aber die Verbindung zu entfernten Reizen oder Vorstellungen leichter zu. Shelly Carson et al. (2003) haben experimentell nachgewiesen, dass Eysencks Vermutung zutrifft. Die Probanden mussten verschiedene Aufgaben lösen, die Konzentration erforderten. Im Hintergrund wurden Störreize präsentiert, die die Probanden ablenken sollten. Kreative ließen sich stärker ablenken als weniger Kreative.

Neugier und Staunen als weitere Merkmale kreativer Personen erscheinen uns besonders plausibel, denn wenn man nach Neuem sucht und über Phänomene staunen kann, die andere gleichgültig lassen, hat man auch größere Chancen, etwas Neues zu finden. Dazu passt die Mischung aus Demut und Stolz, die Csikszentmihalyi (1997) und Sawyer (2006) beobachtet haben. Angesichts des Staunens über Phänomene und des geringen Wissens über sie kann man demütig werden. Zugleich erfüllt aber die Kreativen auch Stolz über ihre Leistungen. Des Weiteren vereinigen sie Leidenschaft mit Objektivität, d.h. sie setzen viel Energie ein und sind hoch motiviert, eine Lösung zu finden, aber ihre Leidenschaft gilt der Objektivität ihrer Funde, vor allem wenn es sich um Wissenschaftler handelt. Sie bringen das Kunststück fertig, trotz hoher Involviertheit und trotz hohen Einsatzes nur Ergebnisse gelten zu lassen, die einer objektiven Prüfung standhalten. Die Besonderheit kreativer Persönlichkeiten zeigt sich auch in ihrem Verständnis der Geschlechtsrolle. Sie sind eher androgyn und lehnen Rollenklischees ab. Sie sind Rebellen und Traditionalisten zugleich. Rebellen, weil sie Neues und Abweichendes zu denken und zu produzieren wagen, Traditionalisten, weil sie sich in vorhandenes Wissen vertiefen und den aktuellen Stand ihres Bereiches kennen müssen.

ImmerwiederwirdauchderFaktorAltergenannt. HohekreativeLeistungengäbeesnur im frühen Erwachsenenalter, so meinen viele Forscher und Unternehmer gleichermaßen. In der Tat zeigt ein historischer Überblick über wichtige kreative Hochleistungen sowie eine Sammlung wichtiger kreativer Beiträge der letzten 50 Jahre, dass die größte Häufigkeit von Erfindungen und Entdeckungen zwischen 20 und 35 Jahren liegt (Csikszentmihalyi 1997; Sawyer 2006). Schubert und Mozart hinterließen ein gewaltiges musikalisches Opus, obwohl sie nur Anfangs bzw. Mitte dreißig wurden. Einstein war 26, als er die Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte; Heisenberg formulierte sein Postulat der Unschärferelation ebenfalls mit 26. In der Computerbranche, an der Börse und bei Unternehmungsgründungen geht das Lebensalter in den letzten 10–15 Jahren permanent nach
unten. Ein Grund für das mögliche Absinken kreativer Leistungen im Alter liegt darin, dass durch die permanente Anhäufung von Wissen mit fortschreitendem Alter der Blick für Neues eingeengt wird. Für alles scheint es bereits eine Lösung zu geben. Andererseits finden wir in der Geschichte eine Reihe von Beispielen für Kreativität im höheren Alter. Dies gilt für Kant genauso wie für Tizian und Kandinsky. Verdis Othello wurde 1887 in Mailand aufgeführt, da war Verdi 74 Jahre alt. Die Uraufführung von Falstaff genoss Verdi mit 80 Jahren. Kant veröffentlichte die Kritik der reinen Vernunft mit 56 Jahren, die Kritik der Urteilskraft mit 66 Jahren und die religionskritische Schrift „Das Ende aller Dinge“ mit 70 Jahren. Kandinsky begann mit seiner revolutionären Malerei erst nach dem Alter von 40 Jahren. Das Bild ,Autour du cercle‘ malte Kandinsky mit 74 Jahren, ,Accord réciproque‘ entstand 1942, als Kandinsky 76 Jahre alt war

14.2 Kultur und Kreativität

Während wir Kreativität beim Individuum generell als die eigenständige Produktion von etwas Neuem definiert haben, engt sich die Kreativität unter der Kulturperspektive ein als neuer Beitrag für die Kultur. „Kreativ“ ist eine Leistung nur dann, wenn sie vorübergehend oder dauernd Bestandteil der Kultur wird. Der Beitrag muss also von der Kultur akzeptiert werden. In der Menschheitsgeschichte gibt es einige große Entwicklungsschritte, die zugleich kreative qualitative Sprünge bedeuten. Der erste Schritt ist die Nutzung von Sekundärwerkzeugen zur Herstellung von Primärwerkzeugen, wie er im einfachsten Fall beim Zurechtschlagen des Faustkeils vorliegt (s. Kap. 3). Der zweite Schritt kann in der Nutzung des Feuers gesehen werden, da das mit Feuer gekochte Fleisch besser verdaulich war und die Gehirnentwicklung begünstigte. Zudem bot es Schutz vor wilden Tieren und vor Kälte und erhöhte die Überlebenschancen. Der dritte große Schritt besteht im Aufkommen von Kunst und Religion, weil nun eine zweite Form der Repräsentation von Welt kreiert wurde: Symbole und Zeichen, die für etwas anderes stehen. Einen weiteren Entwicklungsschritt bedeuteten die Sesshaftigkeit und die mit ihr verbundene neue Wirtschaftsform von Ackerbau und Viehzucht, denn damit erst war die Grundlage für die Entstehung von Hochkulturen geschaffen. Von da an konnte sich menschliches Wissen in großem Ausmaß vermehren und in neue Regionen vorstoßen. Schließlich kann man die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaften im antiken Griechenland und während der Renaissance als letzten großen Entwicklungsschritt auffassen. Mit den Naturwissenschaften und der Mathematik hat sich, wie wir im vorigen Kapitel gezeigt haben, der Mensch über die von der Evolution vorgesehenen Routinen hinaus entwickelt.





Abb.14.4 WichtigeBereiche(Domänen)vonKreativitätundihrZusammenhangmitmenschlichen Handlungsinteressen

Domänen der Kreativität

Kulturen sehen unterschiedliche Möglichkeiten kreativer Entfaltung vor. Für unsere westlichen Kulturen vermittelt Abb. 14.4 einen systematischen Überblick über wichtige Bereiche. Die Einteilung geht von den menschlichen Fähigkeitsbereichen aus und verbindet sie mit den „Domänen“. Ein Ausgangspunkt für kreative Domänen ist das Bedürfnis, sich körperlich auszudrücken. Dafür hält die Kultur Möglichkeiten des Sports, des Tanzes und der Musik bereit, die dann in Bereiche der Hochkultur einmünden: Ballett, Konzert, Hochleistungssport. Eine andere kreative Quelle ist das Interesse an Sachen, das sich bereits im ersten Lebensjahr ausdifferenziert. Hier finden sich die kulturellen Bereiche der Technik, der Warenproduktion, aber auch des bildhaften Gestaltens. Letzteres greift natürlich auch auf die Körperexpressivität zurück (subjektivierende Vergegenständlichung, s. Kap. 12). In Hochform erreicht dieser Kreativitätsbereich die bildende Kunst und die Naturwissenschaften einschließlich der Mathematik. Schließlich





Abb. 14.5 Das Zusammenspiel von Individuum, Domäne und Feld bei kultureller Kreativität

gibt es noch das Interesse an Personen als Ausgangspunkt für Kreativität. Hier sind die kulturellen Bereiche von Sprache und sozialer Kreativität anzusiedeln. In kultureller Hochform führt dieser Kreativitätsbereich zu Theater, Oper (hier muss die Verbindung zum Musikbereich mitgedacht werden) und Literatur.

Interessant werden aus dieser Perspektive komplexe Formen der Kreativität, wie ökologische, ökonomische und politische Kreativität. Sie vereinigen eine Vielfalt der zuvor aufgelisteten Kreativitätsbereiche, kein Wunder, dass wir in diesen komplexen Domänen mit großen Schwierigkeiten des Auffindens neuer Lösungen zu kämpfen haben.

Das Zusammenspiel von Individuum, Domäne und Feld

In unserer Kultur wirken drei Komponenten beim Zustandekommen kreativer Leistungen mit (Csikszentmihalyi 1997): das kreative Individuum (1), das in einer bestimmten Domäne (2) schöpferisch tätig ist und dessen Leistung aber von Fachleuten, die das „Feld“ (3) bilden, begutachtet wird. Dieser Zusammenhang ist in Abb. 14.5 dargestellt. Die Person stehtinWechselbeziehungzuihrerDomäne, indersieimRegelfallExperteist. Gewöhnlich sind Personen nur in einer oder zwei Domänen kreativ, weil sie nur in wenigen Bereichen Expertise erwerben können. Dabei entstehen kreative Leistungen, die aber nun nicht automatisch Bestandteil der Kultur werden. Zwischengeschaltet ist die Instanz des „Feldes“. Es besteht aus Experten einer bestimmten Domäne, wie der Physik oder Chemie oder der industriellen Produktion. Das Feld entscheidet, ob ein Beitrag wertvoll und brauchbar ist. Es ist bekannt, dass Experten sich täuschen können und dass auf diese Weise wertvolle Entdeckungen und Erfindungen zunächst unbeachtet blieben. So musste der Mathematiker Mandelbrot lange darum kämpfen, bis seine Fraktale-Theorie anerkannt wurde. Heute bildet sie einen wichtigen Zweig der Mathematik und dient sogar dem besseren Verständnis von Kreativität (Binnig 1997). Erathostenes berechnete vor mehr als 2.200 Jahren den Erdradius um wenige Prozent genau, aber niemand konnte sich bis in die Neuzeit vorstellen, dass die Erde eine Kugel sei. Robert Koch wurde als Landarzt von seinen Fachkollegen nicht ernst genommen, als er seine Entdeckung der Bazillen veröffentlichte. Erst jüngst wurde die bahnbrechende Entdeckung von Daniel Shechtman durch den Nobelpreis honoriert und seine Leistung endgültig anerkannt. Er fand bei einer Legierung aus Aluminium und Mangan eine „verbotene“ Symmetrie, die es nach dem bisherigen Wissen über Kristallgitter nicht geben durfte. Als er seine Entdeckung im Jahr 1982 machte, wurde er von seinen Kollegen belächelt. Sein Chef legte ihm sogar nahe, seine Arbeitsgruppe zu verlassen (Trageser 2011). Im Sektor der Literatur parodierte Mark Twain in seiner Novelle „Kapitän Stormfields Besuch im Himmel“ die Missachtung großer literarischer Leistungen, indem er neben Shakespeare einen Schuster als größten Dramatiker aller Zeiten vorstellte, der auf Erden völlig unbeachtet geblieben war. Bryson (2005) beschreibt in seinem Buch „Eine Geschichte von fast allem“ eine Vielzahl von Neuentdeckungen. Die meisten von ihnen wurden zunächst von der Fachwelt abgelehnt, bekämpft oder verlacht. Die Borniertheit des „Feldes“ zieht sich durch die gesamte Wissenschaftsgeschichte hindurch.

Dennoch kann eine so komplexe Kultur wie die unsrige nicht auf die Begutachtung durch das Feld verzichten. Wer wirklich etwas Neues beitragen will, muss sich Expertise aneignen, die er meist nur in Jahren intensiver Arbeit aufbauen kann. In vielen Bereichen spricht man von einer Zehn-Jahres-Regel, d.h. man benötigt zum Erwerb der Expertise in einer hochentwickelten Domäne, wie etwas Physik und Chemie, zehn Jahre, um mitreden zu können. Erst mit der dadurch erworbenen Kompetenz, die die betreffende Person natürlich auch zum Mitglied des Feldes macht, kann sie ihre eigenen neuen Funde adäquat bewerten. Dies ist bei den oben genannten Beispielen immer der Fall gewesen. So verinnerlich die kreative Person die Maßstäbe, die in der betreffenden Domäne gelten, und sortiert den Schrott von vorneherein aus. Die intensive Beschäftigung mit einer Domäne erzeugt eine hohe Motivation und hält die Begeisterung für die Fragestellung, die man jeweils verfolgt, lebendig.

Heute wird das Fehlurteil des Feldes abgeschwächt durch das Faktum, dass viele neue Errungenschaften das Ergebnis von Teamarbeit sind. Die meisten Neuveröffentlichungen haben mehrere Autoren als Urheber. Großforschung kann ohne eine Vielzahl von Mitarbeitern nicht mehr stattfinden. Erinnert sei an das Very Large Telescope in der Atacama-Wüste und den Large Hadron Collider bei Genf, auf die wir im vorigen Kapitel zu sprechen kamen.

Kreativität unter der Perspektive des Zusammenspiels von Individuum, Domäne und Feld kann meist nur zum Tragen kommen, wenn sich die kreative Person am richtigen Ort befindet und mit den richtigen Leuten in Kontakt kommt. Der richtige Ort für Naturwissenschaftler ist ein gutes Labor, indem hochkompetente Kollegen zusammenarbeiten. Für Paläontologen ist der richtige Ort eine Gegend, in der es fossile Funde gibt. Csikszentmihalyi und Sawyer fanden bei ihren Interviews mit Hochkreativen denn auch als eine der häufigsten Erklärungen: Ich habe eben Glück gehabt, zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten am richtigen Ort gewesen zu sein.

Kreativität lässt sich also unter sozio-kultureller Perspektive nicht mehr allein als individuelle schöpferische Leistung verstehen, sie kann sich nur im kulturellen Kontext realisieren. DaswohlfaszinierendsteMomentdabeiistderZufall. DaszufälligeZusammentreffen von Bedingungen wird bei Befragungen Kreativer immer wieder hervorgehoben. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen (aus Bryson 2005). Mantell war Arzt und Amateurpaläontologe in England. Im Jahr 1822, als er einen Patienten in Sussex besuchte, entdeckte seine Frau auf einem Spaziergang in der Nähe einen kleinen braunen gebogenen Stein. Da sie dachte, das könne ihren Mann interessieren, nahm sie ihn mit. Mantell erkannte die Bedeutung des Fundes und folgerte kühn, dass es sich um den fossilen Zahn eines in der Kreidezeit lebenden Reptils handeln müsste (Bryson 2005, S. 113). Damit war er einer der Ersten, der die Existenz von Dinosauriern nachwies. Er sammelte fortan fossile Knochen, vernachlässigte seinen Arztberuf, aber den Ruhm ernteten andere. Ein ganz anderes Beispiel ist die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung. Penzias arbeitete zusammen mit Wilson 1965 in Holmdel (New Jersey) mit einer großen Funkantenne. Dabei stießen sie auf ein Störgeräusch, das aus allen Richtungen kam und immer gleich war. Es beeinträchtige massiv ihre experimentellen Arbeiten. Sie riefen Robert Dicke von der benachbarten Princeton University an, der sofort erkannte, dass es sich um die seit längerem gesuchte kosmische Hintergrundstrahlung handeln musste. In zwei Artikeln wurde die Entdeckung publiziert. Der eine stammte von den beiden Entdeckern, der andere von Dicke, der erklärte, was die Entdeckung bedeutete. Nimmt man noch hinzu, dass Penzias 1939 aus Deutschland mit einem Kindertransport nach England fliehen konnte und zu seinen Eltern 1940 nach den USA gelangte, so zeigt sich einmal mehr, dass eine ganze Kette von glücklichen Umständen zu einem bestimmten kreativen Ergebnis führen kann.

Natürlich gibt es auch Anekdoten, die man nicht so ernst nehmen darf. So soll Einstein 1907 beobachtet haben, wie ein Arbeiter vom Dach fiel und sich daraufhin mit der Gravitation beschäftigt haben. Die Gravitation war aber die folgerichtige nächste Frage, die sich nach der Speziellen Relativitätstheorie stellte. Newton soll auf die Gravitation gestoßen sein, als ihm ein Apfel vom Baum auf die Nase fiel. Bryson (2005, S. 66) berichtet dazu eine andere Geschichte, die noch abenteuerlicher klingt, aber offenbar wahr ist. Er zitiert aus dem Tagebuch eines Newton-Vertrauten namens DeMoivre:


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