Inhaltsverzeichnis Einleitung



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Beispiel

Im Jahr 1684 kam Dr. Halley zu Besuch nach Cambridge, und nachdem sie eine gewisse Zeit zusammen verbracht hatten, fragte ihn der Dr., wie seiner Ansicht nach die Kurve aussehen müsste, welche die Planeten beschreiben, wenn man unterstellt, dass die Anziehungskraft der Sonne umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung ist. Sir Isaac Newton erwiderte sofort, es müsse eine Ellipse sein. Vor Freude und Verblüffung überwältigt, fragte ihn der Dr., woher er das wisse. „Nun,“, erwiderte er, „das habe ich berechnet“. Woraufhin Dr. Halley ihn unverzüglich nach seiner Berechnung fragte. Sir Isaac suchte sie zwischen seinen Papieren, konnte sie aber nicht finden. Er versprach aber Halley, sich die Berechnung noch einmal vorzunehmen. Das tat er auch, allerdings brauchte er dazu zwei Jahre, weil er seine gesamte Physik niederlegte und die berühmte Philosophia naturalis principia mathematica (bekannt als Principia) schrieb.



Kreativität im Team

Wie schon im vorigen Kapitel hervorgehoben, werden heute neue Errungenschaften durch die Kooperation vieler erreicht. Dabei verteilt sich nicht nur die Expertise, sondern auch die kreative Leistung. Durch das Zusammenführen von Ideen aus verschiedenen Bereichen kommt es zum wissenschaftlichen oder technischen Fortschritt. Die Notwendigkeit der Einsparung von Gewicht und Platz bei der Raumfahrt erzwang die Entwicklung kleiner Computer, die natürlich nicht von Raumfahrtexperten, sondern von Computerexperten entworfen wurde. In manchen Autofabriken werden sämtliche Mitarbeiter eines Bereichs bei der Entwicklung neuer Lösungen beteiligt. Die Ingenieure erhalten so Ideen von den Facharbeitern und Monteuren. Obwohl also nach wie vor einzelne Hervorragendes zustande bringen und mehr als andere kreative Leistungen vorweisen können, gilt heute bei vielen praktischen Problemen häufig die Feststellung: „Der Durchschnitt ist besser als das Genie.“

Auch im künstlerischen Bereich stehen vielfach kreative Gruppenleistungen im Vordergrund. So berichtet Sawyer (2006) über eine Untersuchung zu kreativen Leistungen während der Produktion eines Filmes. Es zeigte sich, dass fünfzig Personen kreative Beiträge zur Entstehung des Filmes beisteuerten. Regisseur und Drehbuchautor sind keineswegs die einzigen, die bestimmen, was aus einem Film wird. Kameraleute, Beleuchter, Designer, Techniker für besondere Effekte und last not least Schauspieler gestalten den Film mit. Bei Jazz-Ensembles und Bands wird die kreative Gruppenleistung unmittelbar evident. Das aufeinander abgestimmte improvisierende gemeinsame Musizieren macht die musikalische Leistung aus.

In Betrieben wird Teamkreativität immer wichtiger. Deshalb fragt man sich natürlich, unter welchen Bedingungen Teams besonders effizient sind. Im Folgenden sei an einem Untersuchungsbeispiel demonstriert, wie sich erfolgreiche Gruppen von erfolglosen unterscheiden.



Beispiel

Scholl (2004) hat 21 Gruppen gebildet und ihnen eine schwere Aufgabe zur Bearbeitung vorgelegt. Die Gegenüberstellung der vier erfolgreichsten und der vier am wenigsten erfolgreichen Gruppen erbrachte deutliche Unterschiede, die in Tab. 14.2 zusammengefasst sind. Interessanterweise vertrugen die erfolgreichen Gruppen interne WidersprücheeherundzeigtentrotzderSchwierigkeitderAufgabepositiveEmotionen. Die erfolglosen Gruppen hatten stärker harmonisierende Tendenzen und beklagten, dass die Aufgabe mit zu vielen Schwierigkeiten behaftet sei.



Tab.14.2 Gegenüberstellung der vier erfolgreichsten und vier am wenigsten erfolgreichen Gruppen bei der Bearbeitung einer komplexen Aufgabe (Scholl 2004)

erfolgreich

erfolglos

konstruktiv, innovative Vorschläge

harmonisierend, sich wechselseitig bestätigend

zielorientiert, erst planungs-, dann produktorientiert

lageorientiert, bei Planung verharrend

Lösungssuche –

Bewertung – neue Diskussion



lange Schleifen – emotionale Lösungssuche

positive Emotionen

Klagen, die sich später noch steigerten

Innovation als Merkmal einer Kultur

Innovation und Kreativität sind nicht das Gleiche. Von Innovation sprechen wir, wenn eine neue Idee, die sich als nützlich erweist, in die Praxis umgesetzt und von der Gesellschaft oder einer maßgeblichen Gruppe der Gesellschaft als wertvoll und wünschenswert angesehen wird. Zur Innovation gehören daher vier Bedingungen:



  1. Personen, die das Neue kreieren,

  2. Verbündete, die das Neue implementieren helfen,

  3. Rahmenbedingungen, die diese Implementierung ermöglichen, und

  4. eine Bevölkerungsgruppe, die das Neue akzeptiert und nutzt.

Obwohl wir auch bei Kreativität als Definitionskriterium die Übernahme des Neuen durch die Kultur genannt haben, können kreative Ergebnisse ohne praktische Wirkung bleiben. Sie sind zwar dann Bestandteil der Kultur, verändern aber gesellschaftliche Praxis nicht. Viele wissenschaftliche Erkenntnisse erfahren dieses Schicksal. Selbst umwälzende wissenschaftliche Neuerungen, wie die Quantenphysik, blieben zunächst ohne praktische Folgen. Sofern ihre Nutzung für die Computertechnologie möglich wird, würde auch sie zu einer Innovation beitragen. In Abb. 14.6 sind die vier Bedingungen veranschaulicht. Bei der Bedingung „Verbündete“ ist die Finanzierung angegeben, es könnte aber ebenso die Zurverfügungstellung von Räumen oder Bauflächen sein.

Dieses Modell lässt sich auch auf die Frühzeit der Menschheitsentwicklung anwenden. Die Kreativen erfanden die Werkzeuge, z.B. den Faustkeil. Als Rahmenbedingung waren die richtigen Steinsorten vonnöten, also härtere Steine, mit denen man den weicheren Stein bearbeiten konnte. Auch Interessenten und Abnehmer musste es geben. Wir haben auf die Möglichkeit hingewiesen, dass angesichts der riesigen Zahl von Faustkeilen und ihrer teilweise praktischen Unbrauchbarkeit Frauen als Abnehmer fungierten, denen die Männer die Faustkeile als Geschenk anboten. Verbündete für das neue Produkt gab es wohl erstmals bei komplizierteren Werkzeugen, deren Herstellung eine Woche und länger dauerte, wie das beim Speer des Homo heidelbergensis der Fall war (s. Kap. 3). Der Werkzeugmacher musste zumindest zeitweilig von den üblich anfallenden Arbeiten befreit





Abb. 14.6 Vier Bedingungen für Innovation in unserer Gesellschaft

werden, um sein Werk fertigstellen zu können. Die „Verbündeten“ waren also in diesem Fall die Horde oder Gruppe, die Arbeitsteiligkeit ermöglichte.

Kulturen unterscheiden sich beträchtlich hinsichtlich der Geschwindigkeit des Auftretens von Innovationen. Insgesamt aber gibt es den Trend einer exponentiellen Beschleunigung. Das Hackmesser, die einfache Form des Faustkeils, hielt sich 1 ½ Millionen Jahre. Der Faustkeil mit einer Fertigung von mehreren Arbeitsgängen (s. Kap. 3, Abb. 3.2) existierte mindestens eine halbe Million Jahre. Dann kam es bereits zu einer Beschleunigung in der Produktion der Vielfalt von Werkzeugen. Noch rascher ging die Entwicklung seitBeginnderSesshaftigkeitdesMenschenvorzehn-biszwölftausendJahrenvoran. Während der Renaissancezeit gab es einen massiven Schub in der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das 19. Jahrhundert brachte eine rasante industrielle Entwicklung mit der Nutzung der Elektrizität, der Dampfkraft und schließlich des Öls als Antrieb. Im 20. Jahrhundert gab es mehr technische Innovationen als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Sie reicht von der maschinellen Fortbewegung auf der Erde über das Fliegen bis zur Raumfahrt, vom Telefon bis zum Internet, von einfachen Rechenmaschinen bis zu Computern mit milliardenfach höherer Geschwindigkeit in der Informationsverarbeitung. Leider halten Innovationen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich mit dieser Entwicklung nicht Schritt. Auch unser Bildungswesen bräuchte Innovationen weit über das hinaus, was bislang geschieht.

Das Genie – ein Erfindung der westlichen Kultur?

Wir haben feststellen müssen, dass Kreativität nicht allein Sache des schöpferischen Individuums ist, sondern in Wechselwirkung zur jeweiligen Kultur steht. In unserer Kultur dominiert dennoch das Bild vom Genie, das aus sich heraus – vielleicht sogar durch göttliche Eingebung – zu seinen Leistungen gelangt. In vielen Kulturen ist das anders. Sawyer (2006) nennt als Beispiel die Kaste der Merawi-Maler in Indien. Sie stellen religiöse Bilder, also Heiligen- und Götterbilder, in verschieden hoher Qualität her. Die billigsten Produkte sind Massenware und werden von einer bestimmten Untergruppe der Merawi-Kaste angefertigt. Dann gibt es Bilder mit höherer Qualität, die als wertvoller angesehen werden und daherauchteurersind. SchließlichgibtessehrhochwertigeProdukte, dieeinzelneKünstler anfertigen und für die ein hoher Preis verlangt wird. Die Kaste der Merawi wird nun aber nicht nach Begabung einzelner Künstler gebildet, es gibt keinen Zutritt von außen. Man muss vielmehr in die Kaste hineingeboren sein. Im Laufe der individuellen Entwicklung wachsen die Kinder und Jugendlichen zu Experten heran, sie werden nicht aufgrund ihrer Begabung, sondern ihrer Kastenzugehörigkeit zu Künstlern.

ImAbendlandhatderIndividualismusvonAnfangangroßeBedeutung. DieLeistungen einzelner werden anerkannt und bewundert. Ab der Renaissancezeit gewinnt der Begriff des Genies an Bedeutung. Er wird zunächst ausschließlich auf die bildende Kunst bezogen. Das Genie ist die aus sich selbst heraus schaffende Künstlerpersönlichkeit. Sie vollendet die Natur, die sich selbst nicht vollenden kann. Leibniz (Ausg. 1967), der die Idee möglicher Welten einführt und die bestehende Welt als die beste aller möglichen Welten ansieht, kennzeichnet das Genie als Schöpfer möglicher Welten und damit als eine Art Gott (poeta alter deus: der Dichter als anderer Gott). Kant löst in seiner Kritik der Urteilskraft (Ausg. 1996) das Spannungsverhältnis von Natur und Kunst, indem er das Genie als die Instanz bezeichnet, bei der die Natur der Kunst die Regel vorschreibt:

Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die die Natur der Kunst die Regel gibt. (op. cit., S. 81).

Im Gedicht „Prometheus“ kennzeichnet Goethe das Genie als Menschen, dessen Herz vor Leidenschaft und Schaffenskraft glüht, analog zu Prometheus, der göttergleich und sich gegen die Himmlischen auflehnend den Menschen die Glut des Feuers bringt, das nicht nur die Grundlage für die materielle kulturelle Entwicklung ist, sondern auch eine Metapher für den schöpferischen Geist des Menschen. Im Faust II wird das Genie in humanistisch abgeklärter Form dargestellt. Nicht mehr die Glut des Gefühls, der Emotionen steht im Vordergrund, sondern die edle ausgeglichene, Gefühl und Verstand vereinende Kraft des schöpferischen Geistes (als Literatur zu dem Geniebegriff sei empfohlen: Scheidt 2005; Goldschmit-Jentner 1939; Fechner 1991).

DamalsgabesdenGeniebegriffnochnichtfürdieWissenschaft. Erstim19. Jahrhundert wird der Genie-Begriff auch auf Wissenschaftler ausgedehnt. Die für normale Sterbliche oft unbegreifliche Überlegenheit des Genies, seine Größe und seine übermenschliche Leistung rücken es in die Nähe des Göttlichen. Für Friedrich Wilhelm Schelling ist das Genie denn auch ein Stück von der Absolutheit Gottes.

Die Psychologie sieht den Genie-Begriff nüchterner. Zunächst verzichtet sie auf die Bezeichnung „Genie“ und untersucht, wie bereits oben beschrieben, Hochkreative und ihre Leistungen. Die allgemeine Annahme ist, dass sich Hochkreative in den Denk und Schaffensprozessen nicht vom normalen Sterblichen unterscheiden. Vor allem Weisberg (1989) versucht an zahlreichen Beispielen zu belegen, dass die Denkprozesse bei Hochkreativen nicht anders als die bei weniger Kreativen beschaffen sind. Er beginnt daher sein Buch mit dem Kapitel „Der Mythos Kreativität“.

Psychologisch interessanter erscheint vielen Autoren die Frage, ob Genie und psychopathologische Erscheinungen zusammenhängen. Mark Runco und Ruth Richards (1997) haben einen Sammelband herausgegeben, in dem eine Reihe von Autoren sich mit der alten und auch heute noch verbreiteten Vorstellung von der Nähe zwischen Genie und Wahnsinn beschäftigen und empirisch prüfen, ob da etwas dran ist. Es zeigt sich, dass die bereits oben beschriebene Störbarkeit viel weiter reicht als ein fehlendes Wahrnehmungsfilter. Besonders affektive Störungen (manische-depressive Erkrankungen) finden sich häufig bei großen Künstlern, Musikern und Schriftstellern. Nancy Andreasen (2008) behauptet, dass 80% der bedeutenden Schriftsteller, deren Biografie sie herangezogen hat, unter affektiven Störungen litten. Kay Redfield Jamison (1993) berichtet, dass ein Drittel der von ihr herangezogenen britischen Schriftsteller affektive Störungen aufwies. Arnold Ludwig (1995) kommt zu ähnlichen Ergebnissen, betont aber, dass psychiatrische oder psychische Störungen nicht bei Naturwissenschaftlern beobachtet wurden. Da fallen uns spontan Künstler (Van Gogh), Musiker (Tschaikowski, Schumann) und Schriftsteller (Kafka) ein, die in dieses Bild passen.

Aber die Störbarkeit bis hin zu psychiatrischen Krankheiten ist keine notwendiges und noch weniger ein hinreichendes Merkmal für hohe Kreativität. Viele große Genies weisen keine psychopathologischen Tendenzen auf. Man denke nur an Michelangelo, Goethe, Bach und Einstein. Wir haben den Aspekt der Nähe zu Pathologie in diesem Abschnitt platziert, weil die Sensitivität von Hochkreativen und ihre Störbarkeit in Verbindung zum kulturellen Umfeld gesehen werden muss. Kreative sind ihrer Zeit voraus oder sie leiden an ihrer Zeit. Ihre eigene Gedanken- und Bilderwelt steht oft im Widerspruch zu dem, was sie um sich wahrnehmen. Genie und Alltagswelt befinden sich in einem Spannungsverhältnis. Hochkreative haben Schwierigkeiten, sich einfach anzupassen, vor allem, wenn ihre Umwelt nicht ihre Größe und Bedeutung erkennt. Selbst Johann Sebastian Bach, dessen Leben uns als unauffällig und angepasst erscheinen mag, erfreute sich im Leipziger Magistrat keiner großen Beliebtheit, zumal er den zahlreichen Aufgaben, die ihn vom Komponieren abhielten, nur ungern nachkam. Da er oft Werke verfasste, die nur einmal zur Aufführung gelangten, versuchte er, sie in anderen kompositorischen Zusammenhängen unterzubringen. So ist beispielsweise der erste Teil des Weihnachtsoratoriums aus der Glückwunschkantate der Kantate BWV 213– Lasst uns sorgen, lasst uns wachsen (Hercules auf dem Scheidewege) zusammengestellt. Weitere Teile stammen aus den weltlichen Kantaten BWV 214– Tönet, Pauken! Erschallet, Trompeten! und BWV 215– Preis dein Glücke, gesegnetes Sachsen! Die Unterbringung von nur ein einziges Mal aufgeführten Werken im Weihnachtsoratorium sicherte ihnen bleibenden Wert. So sorgte Bach dafür, dass sie noch heute regelmäßig erklingen und uns Freude bereiten. Schubert hat sicher sehr darunter gelitten, dass seine Werke nicht die Anerkennung fanden wie die seiner großen Vorbilder Mozart und Beethoven. In vielen seiner Spätwerke ist diese Entfremdung zu spüren (z. B. im Liederzyklus „Die Winterreise“). Heinrich Kleist schrieb in seinem Abschiedsbrief vor seinem Suizid: „Die Wahrheit ist, dass mir auf dieser Erde nicht zu helfen war“ und drückt damit die Distanz zwischen sich und der übrigen Welt aus.

Resümee

Genie und Gesellschaft stehen im Wechselverhältnis zueinander. Wenn die Gesellschaft Hochbegabten und Hochkreativen eine Sonderstellung zuweist, sie als Vollendung oder doch weit überhöht und damit weit entfernt vom Durchschnitt wahrnimmt, stehen Genies stellvertretend für die Ideale des Menschen. Während früher das Genie in die Nähe des Göttlichen rückte, hat es in der Gegenwart eine Profanisierung erfahren. Die Rock- und Popstar, die Filmgrößen und die Fußballstars sind die neuen Idole der Gesellschaft. Durch die Medien Film und Fernsehen hat sich diese Sichtweise globalisiert. Heute gibt es in fast allen Regionen der Erde Stars, die man bewundert und anhimmelt. Die großen Genies in Wissenschaft und Kunst sind demgegenüber etwas in den Hintergrund getreten.

Die Nähe des Genies zu psychopathologischen Störungen ist für viel Hochbegabte oder Hochkreative nachgewiesen. Solche Störungen haben aber auch allemal mit dem Spannungsverhältnis zwischen Genies und Gesellschaft zu tun. Das Genie lebt in einer anderen Welt und nimmt nicht selten die Zukunft einer neuen Kultur vorweg. So kann es zur Vereinsamung von Kreativen kommen.

Mythen – wie die Kultur Ontogenese und Evolution kreativ vereint

Wenn man Kreativität mit Originalität gleichsetzt, die weit weg von unseren Alltagsvorstellungen Ideen produziert, so sind die Mythen der Völker ein Prototyp für kulturelle Kreativität. Die folgenden Beispiele entstammen dem Buch „Das Kraftfeld der Mythen“ von Norbert Bischof. Am besten zuordenbar und nachvollziehbar sind die Schöpfungsmythen. Sie bieten Erklärungen an, wie die Welt entstanden ist und wie der Mensch in die Welt kam. Neben dem Schöpfungsmythos der drei großen monotheistischen Weltreligionen gibt es zahllose andere Mythen, die die Entstehung der Erde und des Menschen als Geschichte von Akteuren darstellen. Eine große Gruppe von Schöpfungsmythen lässt den Anfang als Chaos erscheinen, als wüste Wasserfläche und als Dunkelheit, z.B. bei den Huronen, in Sibirien, in indischen Texten und bei den Omaha-Indianern. Chaos drückt sich im Mythos in Unordnung, Finsternis, Leere, vor allem aber im Wasser aus. Im taoistischen Weltentstehungsmythos glich das All vor der Schöpfung einem Hühnerei, in dem Eiweiß und Dotter vermischt waren. Die Schöpfung beginnt, indem sich aus diesem Chaos etwas Materiell-Substanzielles ausgliedert: eine Insel, die aus dem Meer auftaucht, ein Ei, aus dem Himmel und Erde gebildet werden, ein Fels, der aus der Tiefe hervorbricht u. Ä. Während manche Mythen die Entstehung der Erde als spontanes Geschehen auffassen, schildern andere detailliert das Vorgehen von Akteuren als Urheber. Der Schöpfergott der Bibel schwebt über den Wassern und spricht: Es werde Licht. Danach erschafft Gott Schritt für Schritt die Welt in für uns unlogischer Reihenfolge, denn die Sterne werden nach den Tieren erschaffen. Im Schöpfungsmythos der Burjäten gebietet der große Geist einem Vogel, hinabzutauchen und Erde aus der Tiefe zu holen. Bei den Ostjaken ist es ein großer Schamane, der die Wasservögel beauftrag, Erde herbei zu schaffen, damit er sich niederlassen kann. Im Schöpfungsmythos der Huronen fällt ein Weib vom Himmel, das ihr Mann zur Strafe hinabgestoßen hat. Die Tiere der Wasserwelt bemühen sich um ihre Rettung. Sie tauchen auf den Meeresgrund, um Erde heraufzuholen, auf der das Weib leben kann. Im ägyptischen Schöpfungsmythos ist es Atum-Re, der Sonnengott, der keine Stelle im Wasser findet. Er schafft sich den Urhügel, um sich auf ihm niederzulassen. Im taoistischen Mythos entsteht in der Mitte des (chaotischen) Eies der Demiurg, Der wächst und wächst, bis er das Weltei selbst in der Hand halten kann.

Es gibt also eine breite Übereinstimmung bei Völkern an weit voneinander entfernten Orten hinsichtlich der Erklärung der Entstehung der Welt, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen wird der Zustand vor der Schaffung der Welt als Chaos, Unordnung beschrieben und die Entstehung der Welt als eine erste Art von Ordnung, von Form oder Struktur verstanden. Zum zweiten werden die beiden Zustände von Chaos und Struktur mit ähnlichen Bildern dargestellt; das Chaos als Wasser, Sumpf, Dunkelheit, die Struktur als Insel, Ei oder Blume (aus der dann ein Gott aufsteigt, wie im indischen Mythos).

Nun gibt es aber neben den Schöpfungsmythen eine Vielzahl anderer Mythen in Form von Erzählungen über Akteure und ihre Abenteuer. In unserem Kulturkreis sind die griechischen Mythen am bekanntesten, gefolgt wohl von den germanischen Göttersagen. Norbert Bischof entwickelt in seinem umfangreichen Werk „Das Kraftfeld der Mythen“ eine sehr interessante Idee, mit deren Hilfe er eine Vielzahl von Mythen zusammenordnen kann. Er behauptet, dass die von ihm ausgewählten Mythen, einschließlich der bereits beschriebenen Schöpfungsmythen, die menschliche Entwicklung bis zum Erwachsenenalter widerspiegeln.

Bischof geht von einem anthropologischen Konfliktpotenzial aus, das sich in der menschlichen Entwicklung diachron, d.h. in zeitlicher Folge entfaltet. Jede Entwicklungsphase birgt in sich Spannungen, die universell für alle Kulturen existieren. Dabei sind Mythen spannungsreduzierende Deutungsmuster, die sich über Jahrtausende halten, so lange eben, wie sie ihren Dienst erfüllen. Heute helfen sie uns nicht mehr weiter und haben daher ihre Funktion verloren. Mythen sind nach Meinung Bischofs Meme, die sich in der Kultur analog zu Genen fortpflanzen. Wir haben Meme bereits in Kap. 6 ausführlich besprochen. Mythen wären also ein treffliches Beispiel für Meme. Bischof begründet damit, warum sich Mythen lange Zeit halten, aber auch, warum sie sich im Laufe der Zeit wandeln.

Bischof bringt die Entstehung der Welt aus dem Chaos mit der Herausbildung des Ich in der frühen Kindheit in Verbindung. Das Kind befindet sich noch in enger Symbiose mit der Mutter, was mythologische Bilder, wie der Uroborus, ausdrücken. Der Uroborus wird als Schlange dargestellt, die sich in den Schwanz beißt und damit die Geschlossenheit, das Einssein und die Harmonie der psychischen Welt symbolisiert. Dieses symbiotische Stadium, so Bischof, dauert bis etwa 18 Monate. Danach wird sich das Ich seiner selbst bewusst (Spiegelversuch, s. Kap. 8). Bischof deutet die Kinderzeichnung des Kopffüßlers mit strahlenförmig nach außen laufenden Strichen oder Tentakeln als Selbstdarstellung mit einer Gloriole, die die Seele symbolisiert, und sieht Parallelen zu mittelalterlichen Mariendarstellungen mit Gloriolen um das gesamte Haupt. Wir haben in Kap. 12 die Deutung dieser Zeichnung offengelassen.

Die in den Mythen immer wieder auftauchende Trennung von Himmel und Erde deutet Bischof als Trennung von Vater (Himmel) und Mutter (Erde) im Erleben des Kindes. Obwohl diese Vermutung auf den ersten Blick eher weithergeholt erscheint, legen Bischof und seine Frau Bischof-Köhler empirische Evidenz für die Richtigkeit dieser Annahme vor. Sie ließen Kinder an einer Wandtafel zwei Halbkreise befestigen. Untersucht wurden Kindervon23/4 Jahrenbis8Jahren. WährenddiejüngsteGruppebeideHalbkreisezueinem Kreis zusammenfügten, kam es bei den dreijährigen Jungen zu einer maximalen Trennung beider Teile, die sich dann in den folgenden Jahren wieder allmählich verringerte. Die Mädchen vergrößerten die Distanz erst allmählich und hatten das Maximum mit etwa sechs Jahren erreicht. Diesen Geschlechtsunterschied deutet Bischof dahingehend, dass Mädchen die Trennung beider Elternteile und die damit verbundene Spannung erst später erfahren. Erspart bleibt sie ihnen jedoch nicht.

Diese merkwürdige Symbolik von Himmel und Erde, die sich in zahllosen Mythen findet, bringt Bischof mit dem Ödipuskonflikt in Verbindung, den Freud als Erklärung für die Entstehung des Über-Ich anführt. Nach Sigmund Freud (1975, orig. 1938) begehrt der Knabe die Mutter als Sexualpartnerin und zieht so vermeintlich oder real den Zorn des Vaters auf sich. Um ihm zu entgehen, nimmt das Kind die Strafenergiedes Vaters in sich auf, es introjiziert sie, und bildet so das Über-Ich, das fortan sein Verhalten moralisch reguliert. Diese heute überholte Auffassung wird von Bischof neu interpretiert. Nach der harmonischen Beziehung zu beiden Elternteilen wird beim Knaben der Vater zum Fremden, aber da beide das gleiche Geschlecht haben, muss der Junge mit dem Vater „ins Exil“ gehen. Schließlich gelingt die zunächst ambivalente Beziehung und wird zu einer stabilen Bindung an den Vater. Auch zur Mutter kann wieder eine neue Bindung aufgebaut werden. Beim Mädchen wird der Vater ebenfalls zum Fremden, der die Symbiose zerstört. Das Mädchen rettet sich „in die Geborgenheit des Muttermediums“. Schließlich kommt es zur Separation von beiden Elternteilen, vom Vater als dem fremden Andersgeschlechtlichen, von der Mutter als der zur Symbiose Verführenden (zusammenfassend in Bischof 1996, S. 324).

Diese Auffassung, die Bischof in einem anderen Buch (Bischof 1985) ausführlich ausgebreitet hat, glaubt er aufgrund der von ihm angeregten Experimente bestätigt zu finden. Unter anderem wurden Spielszenen aufgebaut, bei denen zwei Berge einander gegenüberstehen, die durch eine tiefe Kluft voneinander getrennt waren. Die Kinder erhielten eine Bärenfamilie sowie weitere Spielfiguren und wurden im Spielverlauf videographiert. Die Spiele der Dreijährigen zeigen eine Harmonisierung der Szene. Die Familie wird zusammengeführt und unternimmt etwas gemeinsam. Die Älteren, vor allem zwischen fünf und sechs Jahren, betonen die Trennung von Vater und Mutter und dramatisieren ihr Spiel, zum Teil sogar dahingehend, dass der Vater in die Tiefe gestoßen wird. Was an solchen Untersuchungen fesselt, ist die aktuelle Genese eines Mythos durch die Kinder. Sie nutzen die Symbolik der Berge (in einer anderen Untersuchung des Bärenhauses) zu einer eigenen Geschichte, die man als neu entstehenden Mythos auffassen kann.

Die weitere Entwicklung gliedert sich in die Etappen der schulischen Kindheit bis zur Vorpubertät und ins Jugendalter. Die schulische Kindheit verbindet Bischof mit Mythen über den Schelm (Trickster). Er tritt nicht nur in Geschichten wie die vom Eulenspiegel auf, sondern findet sich in vielen Mythen anderer Völker, so zum Beispiel als Susano in japanischen Mythen und als indianischer Wanderer. Der Trickster (aus dem Englischen: trickreich, auf Streiche versessen) taucht auch im Winnebago-Zyklus auf (ThunderbirdClan). Die Gestalt des Trickster lässt sich leicht mit den Lausbubengeschichten eines Ludwig Thoma, „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner sowie der Figur der Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren in Beziehung setzen. Die Abenteuerlust vor allem der Jungen, ihr Drang, in die Ferne zu reisen und Neues zu entdecken, die Schatzsuche und die Suche nach Wissen manifestieren sich in der Figur des Wanderers, die sich wohl am ausgeprägtesten im germanischen Gott Odin zeigt. Odin opfert ein Auge, um an Wissen zu gelangen und zieht mit Mantel und Wanderstab durch die Welt.



Das Jugendalter schließlich kristallisiert sich nach Meinung Bischofs in der Figur des Helden, der Abenteuer siegreich besteht, stark, aber auch naiv und unbekümmert ist und Frauen erobert, ohne sie als bleibende Lebensgefährtinnen zu begehren. Der Siegfried der Nibelungensage ist der Prototyp des Helden.

Die Darstellung der Gesamtidee, Ontogenese als kulturell universelles anthropologischesGeschehenmitdenMythenzuverbinden, istbeiBischofsehrdifferenziertausgeführt. Darauf kann im Einzelnen nicht eingegangen werden. Seine Idee ist jedoch für unsere Bemühung der Zusammenführung von Evolution, Kultur und Ontogenese bestechend. Die Mythen und Märchen der Völker bearbeiten in ihren Erzählungen das Spannungsfeld der Ontogenese. So werden Kultur und Ontogenese in besonderer und kreativer Weise miteinander verknüpft. Allerdings kümmert sich Bischof zu wenig um den aktuellen Erkenntnisstand der Entwicklungspsychologie, der in wichtigen Punkten seiner häufig psychoanalytisch orientierten Darstellung widerspricht. Worauf Bischof überhaupt nicht eingeht, ist die Frage, warum unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen ähnliche Bilder und Figuren auftreten. Wasser für Chaos, Insel für Struktur und Ordnung, Himmel für Vater, Erde für Mutter, die Leiter als Verbindung von Himmel und Erde und vieles andere mehr tauchen immer wieder auf, ebenso wie Ungeheuer (Drache, Monster) und Tier-Mensch-Kombinationen. Als ich Norbert Bischof in einem persönlichen Gespräch fragte, wie er sich das erkläre, antwortete er: „Da gibt es keine Erklärung, das ist halt so.“ Wenn wir nicht C. G. Jungs Lehre von den Archetypen und dem kollektiven Unbewussten bemühen wollen, ein Ansatz, der schon wieder eher ein Mythos ist als Wissenschaft, so bleibt uns immer noch die dritte Komponente unseres Zugangs: die Evolution. Da ähnliche Symbole und Bilder offenkundig unabhängig in weit voneinander entfernten Kulturen entstanden, also Universalien sind, müssen sie dem gemeinsamen Erbe der Evolution entsprungen sein. Damals waren Denken und Handeln sehr eng verwoben und bildhafte Vorstellungen spielten eine große Rolle. Spätestens bei der kognitiven Revolution vor ca. 40.000 Jahren mit dem Auftreten von Kunst und Religion dürften es mythische Vorstellungen gegeben haben. Die Bilder der Mythen entstammen also wohl der Erfahrungswelt der damaligen Menschen, aber sie bilden nicht die äußere Realität ab, sondern kombinieren kreativ-phantasievoll vorhandene Elemente zu einer neuen Realität, wie den Monsterfiguren Drache und Uroborus. Es bleibt aber nach wie vor die Aufgabe, heraus zu arbeiten, warum solche Bilder und Gestalten gerade in dieser Form entstanden. Welche kognitiven Prozesse führen zu solchen „Archetypen“? Eine Möglichkeit der Archetypenbildung besteht darin, vorhandene Bilder zu wählen, also das Meer, den Nebel, die Dunkelheit, aber auch Tiere. Die zweite Strategie könnte einfach in einem quantitativen Mehr bestehen. Kleine Tiere, wie Echsen, Leguane, Alligatoren, werden überdimensional vergrößert und so zu Ungeheuern. Diese erhalten dann noch zusätzlich mehrere Köpfe. Schließlich gibt es bei kreativen Prozessen auch die Kombination von realen Gegebenheiten zu etwas Neuem, so etwa die Verbindung von Mensch und Tier, die in der Natur wegen der Artenschranke nicht existiert, aber für Menschen naheliegt, die so eng mit Tieren verbunden sind, wie die Frühmenschen. So entstehen Zentauren, Götter mit Vogelköpfen, Drachen mit Flügeln etc. Die drei Prozesse: (1) Nutzung vorhandener Bildvorstellungen, (2) Vergrößerung/Vermehrung und (3) Kombination des Vorhandenen zu Neuem genügen, um mythische Bilder, Akteure und Handlungen zu kreieren. Allerdings mussten sich die Archetypen genetisch niedergeschlagen haben, wenn sie über die Evolution zu uns gekommen sind. Genetisch weitergegebene Information ist jedenfalls plausibler als die Annahme eines kollektiven Unbewussten.

Abbildung 14.7 stellt diese Überlegungen in einem Schaubild zusammen. Die Thematik der Mythen (oder zumindest vieler Mythen) entstammt dem Spannungsfeld der menschlichen individuellen Entwicklung (Ontogenese), die Bilder, „Archetypen“, hat uns die Evolution mitgegeben und die Kultur verbindet beide Quellen in ihren Mythen.

Heute haben die alten Mythen ihre Bedeutung verloren. Aber an ihre Stelle sind andere Mythen getreten, Stars, die von den Medien positioniert werden, Traumwelten, in denen sich die Reichen bewegen, der Glaube an die Kraft von Kräutern, Steinen, und überhaupt die Esoterik. Und nicht zu vergessen: über die Jahrtausende hinweg hat sich der Glaube an die Astrologie gehalten.


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