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Abb. 15.1 Netzwerke des Bewusstseins. (Delacour 2004, S. 17 mit freundlicher Genehmigung von Clémence Morterol) Zur Evolution des Bewusstseins



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Abb. 15.1 Netzwerke des Bewusstseins. (Delacour 2004, S. 17 mit freundlicher Genehmigung von Clémence Morterol)

Zur Evolution des Bewusstseins

Der Blick auf die Evolution des Bewusstseins erfolgt entgegen unserem Vorgehen bei den bisherigen Kapiteln spät. Das hängt mit der Wissenschaftsgeschichte dieser Thematik zusammen. Wie bereits dargestellt, hat das Thema Geist und Bewusstsein die Philosophie von Anfang an beschäftigt – ja, man kann sagen, dass dies das zentrale Thema der Philosophie überhaupt ist. Nähert man sich von der Perspektive der Evolution, so erhebt sich als Erstes die Frage, warum überhaupt Bewusstsein entstand. Unsere geistigen (kognitiven) Prozesse könnten nämlich genauso gut ohne Bewusstsein funktionieren. Es gibt zwei Möglichkeiten der Entstehung von Bewusstsein in der Evolution: Nebenprodukt oder Überlebensvorteil. Wenn Bewusstsein ein Nebenprodukt, eine überflüssige zufällig entstandene Beigabe ist, so hat es sich irgendwann einmal bewährt. Die zweite Möglichkeit, Bewusstsein als selektiver Überlebensvorteil, leitet sich aus dem Faktum ab, dass Bewusstsein primär nicht Vorstellungen und Gedanken vermittelt hat, sondern Lust und Unlust. Emotionale Erlebnisse sind tiefgreifend und dürften die lebenserhaltenden Tendenzen (den „Lebenswillen“, wenn man den Begriff als Metapher nimmt) eines Lebewesens enorm verstärken. Letztlich ist es sekundär, ob Bewusstsein das Ergebnis eines Selektionsprozesses oder ein zufälliges Nebenprodukt ist. Es erweist sich als evolutionärer Vorteil. Der mit Bewusstseinserlebnissen ausgestattete Organismus verfügt über einen starken Anreiz, auf Alarmsignale zu achten. Das Selbst, das den Schmerz bei der Berührung einer heißen Herdplatte kennt, wird die Gefahr in Zukunft vermeiden. Die Evolution belohnt Bewusstsein, da es einen Überlebensvorteil darstellt.

Lange Zeit hat man Bewusstsein mit dem Begriff der Seele verbunden, die unabhängig vom Körper existiert, und den Tieren jegliches Bewusstsein abgesprochen. Dies ist heute nicht mehr haltbar. Vielmehr müssen wir von einer kontinuierlichen Entwicklung des Bewusstseins in der Evolution ausgehen. Säugetiere, aber wohl auch niedrigere Tiere empfinden Schmerz und Lust. Hunde träumen, Katzen sind eifersüchtig. Metzinger (2009) vermutet, dass auch Vögel, Reptilien und Fische einfache Bewusstseinsvorgänge besitzen. Menschenaffen und vermutlich auch Elefanten und Delphine haben bereits eine Art Ich-Bewusstsein (sie erkennen sich im Spiegel).

Dennoch ist es wichtig, für die Entstehung des Bewusstseins ein weiteres Erklärungsprinzip einzuführen, das übrigens generell für komplexere Prozesse in Physik, Chemie und Biologie notwendig wird: das Prinzip der Emergenz. Davon war bereits im letzten Kapitel über Kreativität die Rede. Laughlin (2009) zeigt, dass dieses Prinzip bereits für Elementarteilchen gilt. Alle experimentellen Untersuchungen fänden in Kollektiven statt und nur durch das Organisationsprinzip der Emergenz könne man die experimentellen Befunde adäquat erklären. Anderson (1972, S. 395) sagt dazu:

In jedem Stadium entsteht die Welt, die wir wahrnehmen, durch ,Emergenz‘. Das heißt durch den Prozess, bei dem beträchtliche Aggregationen von Materie spontan Eigenschaften entwickeln können, die für die einfacheren Einheiten, aus denen sie bestehen, keine Bedeutung haben. – Eine Zelle ist noch kein Tiger. Ebenso wenig ist ein einzelnes Goldatom gelb und glänzend.

In Kap. 14 wurde das Prinzip der Emergenz an der Bérnard-Instabilität (Haken 1981) und an der Bildung von Kristallgittern (Laughlin 2009) demonstriert. Wenn schon bei der leblosen Materie Ordnungsprinzipien der Emergenz am Werke sind, lässt sich die Entwicklung des Lebens ohne die Annahme von Emergenz überhaupt nicht mehr erklären. Alle organischen Bestandteile zusammen genommen ergeben noch kein Leben, ihre besondere Organisation zu neuen Systemen ist ausschlaggebend für das Phänomen Leben. „Aus physikalischer Sicht macht es besonders viel Spaß, über Leben zu sprechen, weil es den extremsten Fall der Emergenz von Gesetzmäßigkeiten darstellt“ (Laughlin 2009, S. 235).

Der Übergang von nicht bewusstem zu bewusstseinsfähigem Leben kann dementsprechend ebenfalls als Ergebnis von Emergenzprozessen verstanden werden. Emergenz erklärt weiterhin, dass sich aus Zuständen basaler Bewusstseinserlebnisse im Laufe der Evolution höhere Formen des Bewusstseins bis hin zum Ich- oder Selbstbewusstsein entwickelt haben. Auch die Entstehung von Bewusstsein aus bewusstlosen Informationszuständen der Elementarteilchen wäre ein Effekt der Emergenz. Singer (1997) erklärt am Beispiel der Evolution der Großhirnrinde, wie durch die wiederholte Aneinanderreihung immer gleicher Strukturen etwas Neues entstehen kann, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen wird auf der neuen Ebene selbst zum Gegenstand von Erkenntnisprozessen.

AuchdieindividuelleEntwicklungvonGeburtbiszumTodkannalsEmergenzdeskomplexen Systems Mensch interpretiert werden. Der systemische Ansatz und die emergente Entwicklung des Menschen als System hat sich besonders in der Saluto- und Pathogenese menschlicher Entwicklung als fruchtbar erwiesen (Cicchetti 1999), also bei der längsschnittlichen Untersuchung der Bedingungen, die zu einer günstigen oder ungünstigen Entwicklung führen. Dabei gibt es Risikofaktoren und protektive Faktoren, bei Gruppen von Bedingungen können internal (z. B. gute emotionale Kontrolle, starker Wille, Intelligenz versus geringe Kontrolle und niedrige Intelligenz) oder external sein (z. B. unterstützende versus schädigende Kontaktpersonen, anregende versus monotone Umwelt).

Wie sieht das Konzept von Bewusstsein im Idealismus aus? In der Sicht des Idealismus verläuft die Argumentation umgekehrt. Das Primäre sind Geist und Bewusstsein. Für Hegel beispielsweise durchläuft die Entwicklung der Seele drei Stufen einer „natürlichen“, einer „fühlenden“ und einer „wirklichen Seele“. Letztere besitzt nur der Mensch. C. G. Jung vertrat eine „panpsychistische“ Position, indem er annahm, dass das individuelle Bewusstsein nur ein Teil des kollektiven Unbewussten ist und gleichsam nur die Oberfläche eines Bewusstseinsmeers bildet. Aus evolutionstheoretischer Sicht wird hier die Argumentation auf den Kopf gestellt. Wenn wir sie wieder auf die Füße stellen, liegt die „materialistische“ Position näher: Bewusstsein entsteht im Laufe der Evolution als graduelle Zunahme an Klarheit und Differenziertheit bis hin zu den Bewusstseinsvorgängen bein Menschen.

Ichbewusstsein

Kopfkino „Bewusste Erinnerung setzt erst dann ein, wenn sich das Bewusstsein seiner selbst herausgebildet hat.“ (Singer 1997,S. 7). Ohne Ichbewusstsein können wir also auch keine bewussten Erinnerungen und Vorstellungen haben! Aber es gibt keine Zentrale im Gehirn, keinen Homunculus, von wo aus die übrigen Teile des Gehirns gesteuert werden. Insofern ist das Ichbewusstsein eine Illusion. Die Kernfrage lautet nun: Wie entsteht Ichbewusstsein? Damasio, einNeurologeausIowa, bezeichnetSelbstbewusstseinals„Kopfkino“, das die eigenen Bewusstseinsvorgänge beobachtet und sich selbst zuordnet (Damasio 2000, 2002). Die biologische Grundlage des Ichbewusstseins steckt in den Gehirnstrukturen, die in jedem Augenblick das Fortbestehen des individuellen Organismus repräsentieren. Das Gehirn nutzt also Strukturen, die dem Abbilden sowohl des eigenen Körpers als auch der Außenwelt dienen, um eine neue Abbildung zweiter Ordnung zu erstellen (Damasio 2002, S. 11). Wolf Singer drückt es so aus: Die Großhirnrinde wirkt wie ein inneres Auge. Sie verarbeitet die Ergebnisse, die aus den primären Bewusstseinsleistungen stammen (Singer 1997, S. 67).

Nach Dennet (1991, 1996) sind lebende Systeme nach dem bottom-up-Prinzip organisiert, d. h., dass lokale Regeln die Gesamtordnung determinieren. In einer Ameisenkolonie gibt es beispielsweise keinen Boss. Die einzelnen Ameisen wissen nichts von der Funktionsweise des Ganzen. Auch Gehirne sind zunächst wie eine Ameisenkolonie organisiert, es gibt keinen Direktor und keine Leitungsregion im Gehirn. Die Neuronen folgen den lokalen Regeln, ohne ihre Wirkung im Gesamtsystem zu kennen. Aber eine Art des Gehirns, nämlich das menschliche (und vielleicht das des Schimpansen), schafft es, das bottom-up-Regime der Neuronen in ein top-down-Kontrollsystem umzuwandeln, in dem globale Befehle lokale Aktivitäten beeinflussen. In diesem System üben Ideen einen Einfluss auf das Gehirn aus, den es zuvor in der Evolution nicht gab. „There was no ,intelligent design‘ until human brains learned how to invert themselves.“ Mein Vorbehalt: einige Tierarten, die Selbstbewusstsein besitzen, könnten Pioniere dieser Gehirnorganisation sein (Menschenaffen, Delphine, Raben, Elefanten).

Über die Art und Weise, wie dieses Kontrollsystem im Gehirn organisiert ist, wissen wir noch wenig. Im Laufe der Evolution des Menschen wurden manche Prozesse innerhalb des komplizierten kausalen Netzwerkes des Gehirns

auf die Ebene der globalen Verfügbarkeit angehoben. Jetzt können wir unsere Aufmerksamkeit auf sie richten, über sie nachdenken und sie ... unterbrechen. Zum ersten Mal konnten wir uns als Wesen mit Zielen erleben, und wir konnten innere Darstellungen dieser Ziele benutzen, um unsere Körper zu kontrollieren... .Wir konnten ein inneres Bild von uns selbst als Wesen erzeugen, die bestimmte Bedürfnisse befriedigen können, indem sie eine optimale Lösung wählen (Metzinger 2009, S. 185).

Das menschliche Gehirn lässt sich am besten beschreiben als ein komplexes System, das ständig danach strebt, in einen stabilen Zustand zu gelangen, und dabei Ordnung aus Chaos erzeugt (Metzinger, S. 193). Im Phänomenalen Selbstmodell (PSM), wie Metzinger das nennt, sind das Erleben von ,Meinigkeit‘ und ,Agentivität‘ eng miteinander verbunden. ,Meinigkeit‘ bezieht sich auf das, was zu mir, zu meinem Körper gehört, was meine Erlebnisse, mein Bewusstsein sind. ,Agentivität‘ drückt aus, dass ich mich als Urheber von Handlungen erlebe, die auf die Erfüllung meiner Ziele gerichtet sind.

Ichbewusstsein als soziales Phänomen Nun bliebe diese Sichtweise der Umstülpung des bottom-up-Systems zum top-down-System einseitig, wenn wir nicht eine entscheidende Bedingung zusätzlich berücksichtigen: die soziale Determination des Selbst und damit des Ich-Bewusstseins. Damit haben wir uns bereits in Kap. 8 beschäftigt. G. H. Mead (1934/1973) führte die Unterscheidung von I und Me (die ursprünglich von William James stammt) in die Soziologie ein. „Das Me ist die „individuelle Spiegelung des gesellschaftlichen Gruppenverhaltens“ (1973, S. 204). „Die Übernahme dieser organisierten Haltungen gibt (dem Menschen) sein Me, d.h. die Identität, deren er sich bewusst ist“ (S. 218). Die Reaktion des Subjekts auf die gesellschaftliche Festlegung des Me nennt Mead das I. „Das I reagiert auf die Identität, die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, führen wir das Me ein und reagieren darauf als ein I.“ Beim I wird auch Freiheit und Unvorhersagbarkeit des Handelns angesiedelt. „Die Handlung des I ist etwas, was wir im Vorhinein nicht bestimmen können“ (S. 220). Daraus resultiert die Offenheit menschlicher Entwicklung (s. auch Kap. 8, Abschn. 8.4).

Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht ergibt sich offenkundig die Schlussfolgerung, dass Ichbewusstsein erst durch den Dialog zwischen Gehirnen entsteht. Singer (1997, S. 69) stellt die These zur Diskussion, dass erst durch den Dialog zwischen Gehirnen, bei dem jeder die Sicht des anderen erfährt, das Erlebnis eigener Individualität zustande kommt. Ichbewusstsein ist das Ergebnis der Reflexion des Austausches mit einem Gegenüber.



Ichbewusstsein in der Ontogenese In der Ontogenese spiegelt sich der Aufbau des Ichbewusstseins eindrucksvoll wider. Im ersten Lebensjahr existiert bereits ein Körper-Selbst, d.h. dass der Säugling zu unterscheiden lernt, was an Sinneseindrücken zum eigenen Körper gehört und was von außen kommt. Im zweiten Lebensjahr bildet sich das kategoriale Selbst aus (Lewis und Brooks 1979), in dem das Kind eine soziale Kennzeichnung, wie ,Kind‘, ,Junge‘, ,Mädchen‘ und vor allem seinen Namen zugewiesen bekommt. Diese typischen Merkmale des Me führen dann zur Herausbildung des I. Das Kind will autonom werden und durchlebt den typischen Konflikt zwischen Bindung an die Pflegeperson und dem Wunsch nach selbständigem unabhängigem Handeln. Das Autonomiebestreben mündet gegen Ende des zweiten Lebensjahres häufig in eine „Trotzphase“, bei der das Kind Wünsche, Vorschläge und Befehle sozialer Partner ablehnt, auch wenn es selbst keine festen Ziele verfolgt. Das Auftreten der Benutzung des Personalpronomens ,ich‘ belegt dann, dass das Kind sich ein Selbst und ein Ichbewusstsein zuschreibt. Erst jetzt, ab dem dritten Lebensjahr und später, setzen Erinnerungen ein, denn ohne Ich-Bewusstsein können wir Erlebnisse noch nicht in unsere Biografie einordnen. Aktives Erinnern ist zuvor nicht möglich.

Der letzte und wichtigste Schritt auf dem Weg zum Selbst und Ich-Bewusstsein ist die Ausbildung der Theory of Mind mit etwa vier Jahren. Nun kann das Kind zwischen eigenem und fremden Bewusstsein unterscheiden und erkennt damit, dass das eigene Bewusstsein nur einem selbst gehört und andere keinen direkten Einblick nehmen können. Im Jugendalter schließlich beschäftigt sich der Mensch aktiv und bewusst mit seinem Selbst und bemüht sich um dessen Ausformung. Dabei macht er auch die Erfahrung, dass sein Bewusstsein niemals anderen voll zugänglich sein wird und dass umgekehrt das Bewusstsein anderer ihm selbst verschlossen bleibt. Diese Erfahrung ist in individualistischen Kulturen ausgeprägter, aber sie bleibt auch Mitgliedern kollektivistischer Kulturen nicht erspart. Sie ist letztlich, psychologisch gesehen, der Ausgangspunkt allen Philosophierens über Geist und Materie.

Dass Ichbewusstsein nur durch soziale Interaktion und Rückmeldung zustande kommt, ist heute auch Meinung von Hirnforschern und Psychologen. Die soziale Bedingtheit des Ichbewusstseins erklärt wohl auch seine Entstehung in der Evolution, Alle Tierarten, die Selbstbewusstsein oder Vorformen davon besitzen, leben vergesellschaftet in Gruppen. Die im Sozialverband erforderlichen kognitiven Kompetenzen führten dazu, eine zentrale Steuerungsinstanz aufzubauen, die top-down agieren kann. Dennoch scheint bei allen Tieren mit Ausnahme des Menschen das Zeitbewusstsein zu fehlen, also die Fähigkeit, sich gedanklich in der Zeit vorwärts und rückwärts zu bewegen. Insofern bleibt die Einmaligkeit des Lebewesens Mensch erhalten – trotz der Kränkungen, die das Menschenbild durch die wissenschaftliche Entwicklung immer wieder erfahren hat.

Zurückhaltung und Bescheidenheit der Hirnforscher Wer den Neurowissenschaftlern Hybris nachsagt, irrt, denn ihr Manifest von 2004 dokumentiert sehr wohl ihr Eingeständnis, wie wenig wir eigentlich noch über den Zusammenhang zwischen neurobiologischen Vorgängen im Gehirn und Bewusstsein wissen. Ihre Feststellung, die ich im Folgenden wiedergebe, gilt auch heute noch:

Zweifellos wissen wir also heute sehr viel mehr über das Gehirn als noch vor zehn Jahren. Zwischen dem Wissen über die obere und untere Organisationsebene des Gehirns klafft aber nach wie vor eine große Erkenntnislücke. Über die mittlere Ebene – also das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer Zellverbände, das letztlich den Prozessen auf der obersten Ebene zu Grunde liegt – wissen wir noch erschreckend wenig. Auch darüber, mit welchen Codes einzelne oder wenige Nervenzellen untereinander kommunizieren (wahrscheinlich benutzen sie gleichzeitig mehrere solcher Codes), existieren allenfalls plausible Vermutungen. Völlig unbekannt ist zudem, was abläuft, wenn hundert Millionen oder gar einige Milliarden Nervenzellen miteinander „reden“. Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als „seine“ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: Es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern.

(http://www.gehirn-undgeist.de/alias/dachzeile/das-manifest/852357)

15.3 Geist und Geistiges, was ist das?

Die Materialisierung des Geistes

Geist als Ordnung von Materie Dieser dritte Abschnitt befasst sich mit der Frage, ob Geist etwas ist, das außerhalb unseres Bewusstseins existiert. Die Ideen des Platon, der objektive Geist bei Hegel und die Strukturen der Mathematik wären Beispiele für die Existenz von etwas Geistigem außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewusstsein. Diese Frage ist durchaus nicht müßig, denn sie führt wieder zum ontologischen Problem zurück: Dualismus oder Monismus, Materialismus oder Idealismus? In Kap. 6 war das Problem des Geistes bereits gegenwärtig, ohne dass wir darauf eingegangen sind. Dort war die Rede
15.3 Geist und Geistiges, was ist das?

von der Kultur als objektiver Struktur und dem Individuum als Träger der subjektiven Struktur. Das eine Mal (in der Kultur) existiert die Struktur als Merkmal des Gegenstandes. In den Gegenstand wurde vom Werkzeugmacher seine Funktion hineingelegt, die der Akteur dann nutzen kann. Das andere Mal (beim Subjekt) steckt die Struktur im Kopf in Form des Wissens, wie man den Gegenstand benutzt. Obwohl die Idee des Werkzeugs als dessen Funktion in ihm steckt, werden wir vergeblich nach etwas Geistigem im Gegenstand suchen. Der Geist ist materialisiert als Ordnung, die im Gegenstand steckt. Die ganze kulturelle Welt, das „Universum von Gegenständen“, wie wir sie genannt haben, benötigt nicht die Annahme von etwas Geistigem, obwohl so viel Intelligenz und „Geist“ in den Gegenständen steckt. Sie sind nur gegenwärtig als geordnete Materie. Geist präsentiert sich in der Kultur zumindest bei den materiellen Objekten als geordnete, strukturierte Materie.

Dies gilt aber auch für kulturelle Geistesbereiche, wie der Musik und der Kunst. Die Musik erscheint uns als etwas, das Musikerinnen und Musiker erdacht haben, also als Konstruktion, die wir „Komposition“ nennen. Ist sie aber erst einmal erdacht, so existiert sie (neben den rein materiellen Speichern in Form von Noten und Tonträgern) als geordnete Materie, nämlich als Struktur von Tönen, die ihrerseits Luftschwingungen, also etwas Materielles, sind. Geist steckt nur im Prozess des musikalischen Komponierens selbst.

Sind Naturgesetze etwas Geistiges? Geht man einen Schritt weiter, so stößt man auf die Naturgesetze als etwas Ideellem, das im Universum, im Makrokosmos wie im Mikrokosmos, steckt. Sind Naturgesetze etwas Geistiges, das die Materie beherrscht und ist also dann die Materie nur ein Epiphänomen? Hegel würde diese Ansicht vertreten. Er unterscheidet zwischen objektivem Geist (Formen des Rechts, der Moralität, der Sittlichkeit und des Staates), dem absoluten Geist (Kunst, Religion und Philosophie) und dem subjektiven Geist (individuelle Ausprägung des Geistes). Auch die Natur ist Geist, und zwar mit dem geringsten Bewusstheitsgrad. Mit dieser Konzeption werden Geistiges und Bewusstsein zur primären Erscheinung und bedürfen nicht eines nachträglichen Erklärungsversuchs, wie sie in die Welt gekommen sind.

Aber man kann den Spieß auch umkehren. Folgt man dem Gedanken, dass Geist in den kulturellen Gegenständen nur dessen Ordnung und Struktur ist, dann könnte man analog die Überlegung anstellen, dass Naturgesetzte nicht etwas Geistiges, Immaterielles sind, sondern die Ordnung der Materie bilden. Anders formuliert, Materie und Energie existieren nicht getrennt von den Naturgesetzen, sondern sind mit diesen untrennbar verbunden. Man kann sich die Quantenwelt nur in Verbindung mit dem merkwürdigen Verhalten der Teilchen und ihrer ständigen gesetzmäßigen Umwandlung denken. Materie und Energie sind die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist ihr gesetzmäßiges Verhalten. Was sich allerdings bei den Naturgesetzen nicht ausschließen lässt, ist die Möglichkeit, dass sie nur Konstruktionen des Menschen sind, die auf die Materie projiziert werden. Zu dieser Ansicht neigen die Konstruktivisten wie v. Glasersfeld (1992) und v. Foerster (1992). Dagegen spricht jedoch die „Passung“ von menschlichen Gesetzeskonstruktionen mit dem Verhalten der Natur. Die Experimente ergeben bei Wiederholung denselben Effekt, er lässt sich also voraussagen. Völlig willkürlich können menschliche Konstruktionen also nicht sein. Sofern die Naturgesetze in den Köpfen der Menschen gegenwärtig sind, sind sie mit Bewusstsein und Geist verknüpft, sofern sie in der Natur real stecken, sind sie nicht etwas Geistiges, also von anderer Substanz als die Materie, sondern Bestandteil von ihnen. Davon zu trennen ist die oben ventilierte Frage, ob Bewusstsein nicht selbst Bestandteil der Materie ist, sodass Bewusstsein nicht als Epiphänomen irgendwann in der Evolution auftaucht, sondern von Anfang an da ist, aber erst bei einem gewissen Komplexitätsgrad zum bewussten Erleben führt. Auch die ebenfalls schon diskutierte Alternative, Naturgesetze bzw. das Verhalten von Teilchen und großen Körpern als Information zu fassen, bedarf nicht der Zusatzannahme von etwas Geistigem. Hier gilt ebenfalls die Feststellung, dass die Information Bestandteil von Masse und Energie ist, ohne Information können sie nicht gedacht werden. Im Übrigen sind alle materiell gespeicherten Informationen, wie digitale Medien und Bücher, nicht geistig präsent, sondern materielle Ordnungen. Das Geistige beginnt erst wieder bei der Entschlüsselung von Texten in bewusste Inhalte.



Husserls Phänomenologie Andieser Stelle scheint es notwendig, sich mit der „Phänomenologie“ Edmund Husserls auseinander zu setzenb. Edmund Husserl geht von den Bewusstseinserlebnissen aus und nutzt ihre Unmittelbarkeit als Erkenntnismethode. „Allgemein gehört es zum Wesen jeden aktuellen cogito, Bewusstsein von etwas zu sein [ ] Alle Erlebnisse, die diese Wesenseigenschaften gemein haben, heißen auch ,intentionale Erlebnisse‘ [...]; sofern sie Bewusstseinserlebnisse von etwas sind, heißen sie auf dieses Etwas ,intentional bezogen‘... .. Im Wesen des Erlebnisses selbst liegt nicht nur, dass es, sondern auch wovon es Bewusstsein ist... . (Husserl 1913, S. 16). Bis hierher bilden die Überlegungen Husserls eine gute Begründung für den von uns gewählten Ansatz des Gegenstandsbezugs als Basis von Kultur und menschlicher Interaktion.

AberHusserlgehtnocheinenSchrittweiter. FürihnistdiePhänomenologiealsWesensschau Grundlage allen Wissens. Mit Hilfe der phänomenologischen Reduktion erscheint, so meint er, die Welt in ihren wirklichen Strukturen. Diese Reduktion erreicht man durch Ausschaltung aller Vorannahmen und Setzungen und damit durch das Fernhalten eines jeglichen Urteils. Dann sind nur noch die Bewusstseinsakte selbst Gegenstand der Betrachtung. Mit dieser eidetischen Reduktion, wie Husserl das nennt, gelingt eine Wesensschau der Welt in unserem Bewusstsein.

Die Erkenntnisse der Psychologie und der Neurowissenschaften belegen jedoch, dass das Bewusstsein ein sehr fragwürdiges Instrument der Erkenntnis ist, es lässt sich leicht täuschen, nimmt verzerrt oder einseitig wahr, wie bei den optischen Täuschungen, und kann aufgrund der geringen Kapazität im Kurzzeitspeicher nur wenig Inhalte gleichzeitig verarbeiten. Mit diesem Instrumentarium eine „Wesensschau“ erzielen zu wollen, erscheint absurd. Wo sich die phänomenologische Methode jedoch sehr bewährt hat, ist bei der Beschreibung psychischer Erlebnisse selbst. Wie und was wir erleben, ist ein subjektives Phänomen, zu dem es von außen keinen Zugang gibt. Nur die Beschreibung der Erlebenden selbst kann uns Auskunft geben über das, was im Bewusstsein vor sich geht. Freilich ist diese Beschreibung an die Sprache gebunden. Je differenzierter die Sprache, desto differenzierter die Beschreibung von Bewusstseinserlebnissen. Psychologie und Psy-

15.3 Geist und Geistiges, was ist das?

chiatrie haben die phänomenologische Methode begierig aufgegriffen. Die Beschreibung eines Wahns, einer Zwangsvorstellung und einer Paranoia gewährt Auskunft über das, was in den Köpfen psychisch gestörter Menschen vorgeht, und die Beschreibung von Gefühlen, Gedanken, Wünschen durch unsere Bezugspersonen vermittelt uns einen Eindruck von deren Bewusstseinserlebnissen, die ohne sprachliche Darstellung unzugänglich blieben.

ImÜbrigengibtesdiescharfeTrennungzwischenMaterieundGeistnurimabendländischenDenken. AndereKulturenseheninderMaterieimmerzugleichdasGeistig-Seelische. In vielen Kulturen sind alle Dinge beseelt.



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