Inhaltsverzeichnis Einleitung



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Die offene Gesellschaft

Karl Popper (1957) macht einen Vorschlag, wie sich Gesellschaften frei entwickeln können, ohne auf ein bestimmtes festgelegtes Ziel im Sinne einer gesellschaftlichen Utopie hinsteuern zu müssen. Sein Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erschien erstmals 1945, also zu einer Zeit, in der Hitler und Stalin Diktaturen aufgerichtet hatten. Daher lautet seine erste Forderung, dass Regierungen gewaltfrei abgesetzt werden können müssen. Das Beispiel des heutigen Ägypten zeigt, wie rasch ein demokratischer Prozess zum Stoppen gebracht und die Abwählbarkeit einer Regierung vereitelt werden kann.

Des Weiteren fordert Popper Gedanken- und Kommunikationsfreiheit. Dass auch die Kommunikationsfreiheit unabdingbar ist, begründet er so: „Denn ohne freien Gedankenaustausch kann es keine wirkliche Gedankenfreiheit geben. Wir brauchen andere, um an ihnen unsere Gedanken zu erproben; um herauszufinden, ob sie stichhaltig sind“ (Popper 1957, S. 238). Die Rolle des einzelnen Mitglieds einer Gesellschaft verändert sich infolgedessen. Es besitzt Autonomie und Verantwortung, weil es ja nun Träger der Gesellschaft und des Staates wird. In der geschlossenen Gesellschaft besitzt der Einzelne wenig oder keine Entscheidungsfreiheit, die Regierung bzw. der Potentat legt weitgehend fest, welche Aufgaben zu erfüllen sind und greift tief in den individuellen Lebenslauf ein. Die Freiheit des Einzelnen hat zwei Seiten: zum einen ermöglicht sie Selbstbestimmung, zum andern ist sie mit Verantwortung verbunden, die zur Übernahme von Aufgaben verpflichtet.

Die bisherige Kennzeichnung der offenen Gesellschaft trifft heute weitgehend auf westliche Demokratien zu, wenngleich auch dort die Freiheit der Kommunikation längst noch nicht voll verwirklicht ist. Es gibt Themen, die tabu sind und nicht in die Diskussion eingebracht werden dürfen. Ein Beispiel sind die Bücher von Sarazin, die zwar fleißig gelesen werden, abermiteinerAusnahme(DiskussionmitSteinbrückunterGünterJauch)nichtals diskussionswürdig erachtet werden. Dagegen darf man uneingeschränkt religiösen Unsinn schreiben und reden.

Poppers nächstes Prinzip, das der permanenten rationalen Kritik, bezieht sich auf die Notwendigkeit, bisherige Ordnungen weiter zu entwickeln und Bestehendes als nichts Endgültiges anzusehen. Die Prinzipien des kritischen Widerspruchs und der kritischen Prüfung von allem Bestehenden werden zum zentralen Motto des politischen und

gesellschaftlichen Lebens.

Poppers fünftes Prinzip ist die These von der offenen Zukunft und damit die Ablehnung des Historizismus. Die Zukunft der von ihm propagierten Gesellschaft ist offen. Daher wendet sich Popper auch gegen Utopien, weil sie festgelegte Entwürfe sind, in die Gesellschaft und Individuum eingezwängt werden. Die offene Gesellschaft ist auch in Zukunft offen und wird immer mit der Dialektik der Aufklärung, die als ambivalente Gleichzeitigkeit von widerstreitenden Tendenzen besteht, einhergehen.

Freiheitsgrade, die uns in der Gesellschaft verloren gegangen sind oder fehlen

Es besteht kein Zweifel, dass moderne Gesellschaften auch Freiheitsgrade verloren haben. Das Bedürfnis des Einzelnen und der Gesellschaft nach Sicherheit kann nur durch Einengung von Freiheitsgraden befriedigt werden. Vorschriften, Reglements, Bürokratismus kennzeichnen besonders die deutsche Gesellschaft. Je höher der Ordnungsgrad, desto geringer die Freiheitsgrade. Viele Deutsche fühlen sich in dem bürgerlichen Sicherheitsnetz nicht gefangen, sondern geborgen. Die erreichte Ordnung hat gegenüber früheren gesellschaftlichen Ordnungen den Vorteil, dass sie gerechter ist, was nicht heißt, das jede Bürgerin und jeder Bürger gleichbehandelt wird.

So existieren in westlichen Gesellschaften nach wie vor soziale Schichten, in denen die Privilegien ungleich verteilt sind. Einfachere Schichten haben nach wie vor geringeren Zugang zu Bildung, sind gesundheitlich gefährdeter und haben eine geringere Lebenserwartung. Am Wohlstand partizipieren sie ebenfalls unverhältnismäßig wenig. Auffällig ist der gegenwärtige Anstieg des Burn-out-Syndroms, die Klagen über Stress, Zeitdruck und Unterbezahlung. Es scheint, als würde ein Großteil der deutschen Bevölkerung das eigene Leben als sinnlos ansehen.

Die starke Reglementierung des Lebens in Deutschland zeigt sich auch in der Abhängigkeit der Lebenschancen von Bildungsabschlüssen. Trotz Durchlässigkeit im Bildungssystem können benachteiligte Gruppen nicht weiterkommen. Generell gibt es im deutschen Berufssystem ohne Abschlusszertifikate keine Zulassung. Früher waren diesbezüglich die Freiheitsgrade höher.

Justus Liebig versagte in der Schule und auch als Lehrling in der Apotheke von Heppenheim. Daraufhin schickte ihn der Vater als Sechzehnjährigen an die Universität Bonn. Danach studierte er in Erlangen weiter, wo er aber wegen Zugehörigkeit zu einer Studentenverbindung fliehen musste. Sein Erlangener Lehrer Kastner verschaffte ihm ein Stipendium in Paris, was entscheidend für seine Laufbahn und damit für die deutsche Chemie wurde. Denn schon mit 21 Jahren wurde Liebig außerplanmäßiger Professor in Gießen. Das bedeutete zugleich, dass der Weltschwerpunkt der Chemie von Frankreich nach Deutschland wechselte.

Wilhelm Conrad Röntgen war ebenfalls ein schlechter Schüler, der das Abitur nicht schaffte. Aber das Polytechnikum in Zürich verlangte kein Reifezeugnis. So konnte er dort studieren und sein Studium abschließen. Die Universität Würzburg verweigerte ihm trotzdem die Habilitation und damit das Recht, an der Universität zu lehren. In der neugegründeten Universität von Straßburg erhielt er dann endlich die Venia und kam so nach Deutschland zurück mit den Stationen Hohenheim, Gießen, Würzburg und München. Ironischerweise entdeckte er gerade in Würzburg die Röntgenstrahlen, wofür er 1900 den Nobelpreis erhielt, übrigens den ersten im Fach Physik.

In beiden Fällen wäre die Laufbahn gescheitert, wenn diese Wissenschaftler heute gelebt hätten. Manchmal können bürokratische Hemmnisse allerdings auch von Vorteil sein. Albert Einstein verließ das Luitpoldgymnasium in München, folgte seinen Eltern nach Mailand und meldete sich dann 1895 bei der Technischen Hochschule Zürich zum Studium an. Die Kommission verwehrte ihm wegen Mangels an Kenntnissen in klassischen Sprachen die Zulassung. Nach einjährigem Besuch der Kantonschule in Aarau konnte er das mathematisch-physikalische Fachlehrerstudium beginnen. Nach Abschluss des Studiums erhielt er keine Anstellung als Lehrer, und nur durch Empfehlung eines Studienfreundes beim Chef des Patentamtes in Bern bekam er dort im Herbst 1901 eine Anstellung als „wissenschaftlicher Expert“. Dies war die ökologische Nische, in der er seine gewaltigen Ideen entwickeln konnte. Es ist fraglich, ob er als vollbeschäftigter Lehrer Zeit gefunden hätte, sich mit physikalischen Grundfragen zu beschäftigen und zu Lösungen zu kommen, die unsere Weltsicht verändert haben. Er veröffentlicht in einem einzigen Jahr drei Grundsatzartikel, von denen einer die erst später so benannte spezifische Relativitätstheorie beinhaltet.

Exkurs: Ethik gegen Evolution

Erinnern wir uns an die Hamilton-Ungleichung (Hamilton 1963) aus Kap. 5:

K < rN (16.1)

Wobei


K Kosten des altruistischen Akts,

r Verwandtschaftsgrad zwischen Helfer und Empfänger, N Nutzen auf Seiten des Empfängers

Ein Individuum verhält sich dann altruistisch, wenn die Kosten K des Verhaltens geringer sind als der Nutzen für den Empfänger, gewichtet mit dem Verwandtschaftsgrad. Die Basis moralischen Verhaltens sind die genetischen Verwandtschaftsbeziehungen, und damit unterliegt Moral zunächst dem Diktat der Evolution. Können Gesellschaften die Präferenz der Fürsorge für die nahen Verwandten unterlaufen und Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern herstellen? Es gibt eine Reihe von Bemühungen zur Weiterführung bzw. Aufhebung des evolutionären Diktats. Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen. Das Christentum hat mit dem Konzept der Nächstenliebe des Neuen Testaments die Verwandtschaftsbande auszuhebeln versucht. Der Nächste ist derjenige, der Hilfe braucht, selbst wenn er dein Feind ist. Das Gleichnis vom Samariter veranschaulicht diese Idee. Der Samariter, unter den Juden wenig angesehen, zeigt als einziger moralisches Verhalten, er ist der „Nächste“ des Ausgeraubten und umgekehrt, das Opfer der Nächste des Samariters. Eine andere Möglichkeit, die genetische Verwandtschaft zu unterlaufen, ist die Glaubensgemeinschaft, sie definiert die Verwandtschaftsbeziehung „Brüder“ und „Schwestern“ um
16.3 Freiheit in der individuellen Entwicklung

– zu Personen, die zur gleichen religiösen Glaubensgruppe gehören. Die genetische Verwandtschaft wird ersetzt durch die ideologische Gruppenzugehörigkeit. Die Zugehörigkeit zu einer Kommune kann eine ähnliche Funktion erfüllen, indem die Gemeinschaft für die bedürftigen Mitglieder sorgt.

Der moderne Staat verbindet beide Prinzipien durch das Subsidiaritätsprinzip, nach dem eine (staatliche) Aufgabe soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden soll. Fürsorge und Pflege obliegen zunächst der Familie, sodann erst der Kommune und weiter dann der nächsthöheren Instanz. Das Gleiche gilt im Großen, etwa bei der Unterstützung in Finanzkrisen. Zunächst muss der Einzelstaat für die Behebung bestehender Probleme sorgen, erst bei Nichtbewältigung tritt die Staatengemeinschaft ein. Das war zumindest die Idee der Europäischen Union, bevor einzelne Länder, wie Griechenland, in Schwierigkeiten gerieten.

Vor dem evolutionären Hintergrund prosozialen Verhaltens lohnt es sich, das Thema Korruption anzusprechen. In vielen Ländern, vor allem in Entwicklungsländern, geht es bei der Korruption unmittelbar um die Versorgung der nächsten Verwandten. Hier schlägt der Evolutionstrend der Weitergabe der eigenen Gene voll durch. Wenn dann die Kultur diesen Trend unterstützt und die Versorgung der Verwandten als hohen Wert ansieht, ist Korruption doppelt legitimiert. Wir schätzen bei anderen Kulturen sehr, wie die Familie für ihre Verwandten und insbesondere für die alten Menschen sorgt, verurteilen aber, wenn Politiker des betreffenden Landes dies tun. Für die Mitglieder dieser Kultur hat Korruption einen anderen Stellenwert als in westlichen Gesellschaften. Aber natürlich gibt es Verwandtschaftskorruption auch bei uns. Die Anstellung von Angehörigen der Landtagsabgeordneten der bayerischen CSU liegt da voll im Trend. In westlichen Gesellschaften wird aber Korruption über die Verwandtschaft hinaus auf Personen ausgedehnt, die einem Nutzen bringen und zugleich der eigenen Gruppe angehören. Der Parteifilz entwickelt sich immer dann, wenn eine Partei lange Zeit an der Regierung ist. Die Unterstützung richtet sich nun auf die Angehörigen der Gruppe, also auf Parteiangehörige, die gewissermaßen als Brüder und Schwestern neu definiert werden. Warum Korruption so schwer zu bekämpfen ist, liegt schlicht an ihrer evolutionären Determination. In einer Kultur, die alle Menschen mit gleichem Recht und gleicher Würde ausstattet, muss es auf Dauer gelingen, Korruption zu unterbinden. Dann hätte der Mensch nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern auch in der Ethik die Evolution überwunden.



16.3 Freiheit in der individuellen Entwicklung

Der Mensch als Gestalter seiner Entwicklung

In der Entwicklungspsychologie herrscht das Modell vor, dass der Mensch der Gestalter seiner Entwicklung ist. Diese Aussage gründet sich auf eine Vielzahl von Befunden. Aus der gleichen Anlage und der gleichen Umwelt entsteht eben nicht zwangsläufig das Gleiche.

Eineiige Zwillinge entwickeln sich trotz verblüffender Ähnlichkeiten auch in der gleichen familiären Umwelt verschieden. Dabei spielt das Bedürfnis mit, anders sein zu wollen als das Geschwister.

Auch normale Geschwister entwickeln sich im gleichen familiären Umfeld sehr unterschiedlich. Allerdings bedingt die Geschwisterkonstellation, dass die Umwelt für jedes nachfolgende Kind verschieden wird. Das Konzept der Selbstgestaltung von Entwicklung hat zunächst nichts mit der Frage der Willensfreiheit zu tun, sondern damit, dass die Bedingungsfaktoren Anlage und Umwelt die Entwicklung nicht vorhersagbar machen, selbst wenn man alle Details kennen würde.

Die Dreierbeziehung Anlage – Umwelt – Selbstgestaltung in der Ontogenese haben wir bereits in Kap. 8 ausführlich behandelt. Angesichts der Offenheit menschlicher Entwicklung sind zwei Forschungsrichtungen denkbar: 1) Präzisierung der Vorhersagen und damit Verringerung möglicher Freiheitsgrade, 2) Suche nach Möglichkeiten zur Vergrößerung der Freiheitsgrade und damit nach Verringerung der Vorhersagbarkeit. Psychologie und Soziologie sind ausschließlich an der Verbesserung der Vorhersagbarkeit interessiert. Fast alle empirischen Untersuchungen in Psychologie und Soziologie haben dieses Ziel. Die Hauptmethode besteht dabei in Längsschnittuntersuchungen. Aus ihnen ermittelt man die Wahrscheinlichkeit für günstige bzw. ungünstige Entwicklungen. Normalerweise erhöht sich beispielsweise mit der Anzahl der Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Entwicklungsverlaufs. Nun gibt es aber längsschnittliche Befunde, die zeigen, dass Kinder sich trotz ungünstiger Bedingungen positiv entwickeln. Daher musste man als Erklärung den Begriff der Widerstandsfähigkeit, der Resilienz, einführen. Resilienz ist eine Erscheinung, die zunächst der Vorhersagbarkeit von Entwicklung zuwiderläuft. Also suchte man wiederum nach Bedingungen, die Resilienz vorhersagen. Offenbar stellt sie sich nur ein, wenn hinreichend externe und interne Ressourcen zur Verfügung stehen (s. die ausführliche Beschreibung v. Resilienzfällen bei Werner und Smith 1982). Man könnte aber umgekehrt vorgehen und nach Entwicklungsverläufen suchen, die wie Resilienz nicht in das allgemeine Muster der Vorhersagbarkeit passen. Dies würde bedeuten, nach Bedingungen zu suchen, die die Varianz des Denkens und Handelns vergrößern und die Korrelationen zwischen vorauslaufenden Bedingungen und dem Entwicklungsergebnis verringern. Die Suche nach Chancen der Vergrößerung menschlicher Freiheitsgrade müsste zu einem wichtigen Forschungsziel werden.

Beispiel

Es gibt genügend biografische Beispiele für Selbstgestaltung von Entwicklung, bei denen der Protagonist auch extrem ungünstige Bedingungen überwand. Als Beispiel sei der Fall des „Klavierflüsterers“ Arno Stocker herausgegriffen. Er kommt am 11. Oktober 1956 mit spastischer Lähmung zur Welt. Sein Gehirn ist geschädigt, er ist fast blind. Die damalige Medizin der fünfziger Jahre stempelt ihn als Pflegefall ab. Da schenkt ihm der Großvater eine Platte von Enrico Caruso. Der Junge hört immer wieder die Platte ab und bringt sich so das Sprechen bei. Sein musikbegeisterter Opa bringt es

16.3 Freiheit in der individuellen Entwicklung

fertig, mit dem Jungen am 16. März 1962 nach Hamburg zu reisen und trotz Mangels an Geld Eintritt zu einem Konzert von Maria Callas zu erhalten, weil die Sängerin ihm eine Nische besorgt, wo die beiden dem Konzert folgen können. Das Erlebnis dieses Abends hat den Jungen zeitlebens geprägt und ihn der Musik zugeführt. Trotz spastischer Lähmung spielt er als Kind in kleinen öffentlichen Konzerten Klavier. Neben seinem Großvater gab es eine zweite Schlüsselfigur in seinem jungen Leben, sein Lehrer an der Schule für lernbehinderte Kinder. Er vermittelt ihm eine breite humanistische Bildung am Nachmittag beim „Nachsitzen“. Der Junge, der sich beim Schreiben schwer tut, hat ein phantastisches Gedächtnis und merkt sich alles ohne schriftliche Notizen. Er soll sogar Schillers Lied von der Glocke nach einmaligem Hören rezitiert haben. Trotz seiner Schreib- und Sehbehinderung gelingt ihm der Hauptschulabschluss. In abenteuerlicher Weise erwirbt er sich Kenntnisse im Klavierstimmen und Klavierbau. In einem ständigen Auf und Ab bis hin zur völligen Mittellosigkeit und mit Aufenthalten in der Psychiatrie und im Gefängnis wird er zum internationalen renommierten Klavierstimmer, der Horowitz auf seinen Konzertreisen begleitet und einen neuartigen Konzertflügel kreiert. Er findet Menschen, die ihn stützen, an seine Fähigkeiten glauben und ihm immer wieder Mut einflößen, und Menschen, die ihn betrügen, im Stich lassen und ihn ausnehmen. Am Ende gewinnt er eine Frau, die zu ihm hält, besitzt internationale Anerkennung in seinem Metier und wird auch für die Medien interessant, die ihn wegen seines ungewöhnlichen Lebenslaufes interviewen und der Öffentlichkeit vorstellen.

Diese Lebensgeschichte klingt wie ein Märchen, aber sie belegt, was eine Person mit denkbar ungünstigen Voraussetzungen aus ihrem Leben machen kann. Entscheidend für diese Resilienz waren Personen, die ihn trotz der negativen Diagnosen von Ärzten gefördert haben, vor allem sein Großvater, der Lehrer der Förderschule und Maria Callas, die ihn sogar nach New York zu einem Gesangsmeisterkurs einlud. Aber aus seiner Lebensbeschreibung geht vor allem seine eminente Willenskraft hervor, mit der er seine Behinderung gemeistert und sich aus allen Niederlagen immer wieder selbst am eigenen Schopfe aus dem Sumpf gezogen hat (Stocker 2010).

Am Rande seien noch einige Persönlichkeiten erwähnt, die ebenfalls paradigmatisch für die Selbstgestaltung von Entwicklung stehen. Paulus hat trotz großer Entbehrungen und chronischer Krankheiten die beschwerlichen Reisen auf sich genommen und das Christentum in Kleinasien, Griechenland und Italien verkündet. Schumann musste sich seine Kompositionen oft qualvoll abringen, weil er unter permanenter gesundheitlicher Beeinträchtigung litt. Wilma Rudolph hat ihre durch Kinderlähmung bedingte körperliche Schwäche überkompensiert und wurde Olympiasiegerin.



Kreativität und Freiheit

Unsere Alltagserfahrung lehrt uns eigentlich, dass es mit der Freiheit nicht so weit her ist. Staat, Bürokratie und Finanzamt haben uns fest im Griff. Und auch sonst gibt es so viele berufliche und private Pflichten, dass es müßig erscheint, über theoretisch vorhandene Freiheitsgrade zu diskutieren. Das Thema Freiheit und Pflicht wird uns später noch beschäftigen, ebenso das Thema Willensfreiheit. Jetzt geht es nur um die Frage nach den Freiheitsgraden in unserem Alltagsleben. Zugegeben, der Alltag ist ausgefüllt mit Aufgaben, die festzuliegen scheinen, und es sind so viele Vorschriften einzuhalten, dass scheinbar kein Platz mehr für individuelle Entfaltung zur Verfügung steht. Die Biografie vieler Personen, die unverdrossen ein ihnen wichtig erscheinendes Ziel verfolgen, zeigt jedoch, dass offenkundig auch ungewöhnliche Wege eingeschlagen werden. Man denke nur an die Rekordhalter im Guinness-Buch der Rekorde, an die Extrembergsteiger, an die vielen Skifahrer abseits der Piste (die im wahrsten Sinn des Wortes andere Wege gehen), an die Hobbybastler, Laienwissenschaftler und Künstler aller Art, die auf ein gesichertes bürgerliches Leben verzichten.

Die Evolution hat uns eine Gabe verliehen, mit der wir Freiheit gewinnen können: die Kreativität. Wo es keine Alternativen zu geben scheint, können wir welche entwerfen. Wo es keine Hilfe zu geben scheint, können wir nach inneren und äußeren Ressourcen Ausschau halten. Wo der Ernst des Lebens uns hoffnungslos einzuschränken und zu überwältigen droht, können wir in Formen des Spiels ausweichen und zunächst risikofrei mit Lösungswegen und Lösungen umgehen. Jede Behauptung, es gäbe keine Alternative, ist falsch und sollte unser Denken niemals blockieren. In westlichen Gesellschaften gibt es heute mehr Freiheitsgrade für individuelle Entfaltung als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Auch bezüglich der Denkfreiheit und damit der Entwicklung kreativer Lösungen sind wir freier als je zuvor. Weder religiöse noch andere ideologische Zwänge sind uns auferlegt. In einem Klima der Aufklärung könnte sich der Mensch und mit ihm die Gesellschaft zu der Offenheit entwickeln, die Popper schon vor mehr als einem halben Jahrhundert angedacht hat. Dass es massive Versuche gibt, uns diese Freiheitsmöglichkeiten zu rauben, ist bekannt. Werbung und Konsumdenken nehmen uns der Potenz nach mehr Freiheitsgrade als alle politischen und administrativen Vorschriften zusammen.

16.4 Wille und Willensfreiheit

Die Beschäftigung mit der Freiheit des Menschen führt zwangsläufig zur Frage der Willensfreiheit. Gibt es sie oder sind wir Sklaven unserer Triebe und Bedürfnisse sowie äußerer Zwänge? Willensfreiheit wird gerne verwechselt mit völliger Beliebigkeit der Entscheidung und des Handelns. Dazu sagt schon Leibniz:

Nichts ist also abwegiger, als den Begriff des freien Willens umdeuten zu wollen in irgendein unerhörtes und sinnloses Vermögen, ohne Grund zu handeln oder nicht zu handeln; niemand, der bei Sinnen ist, wünscht sich so etwas. (Leibniz, Ausg. 1967, S. 83)

Weitgehend akzeptiert sind drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn von Willensfreiheit die Rede ist (Walter 2004):

16.4 Wille und Willensfreiheit


  1. Die Person muss eine Wahl zwischen Alternativen haben; sie muss anders handelnbzw. sich anders entscheiden können, als sie es tatsächlich tut. (Die Bedingung des Anders-Handeln- oder Anders-Entscheiden-Könnens) → Alternativität.

  2. Welche Wahl getroffen wird, muss entscheidend von der Person selbst abhängen.(Urheberschaftsbedingung) → Urheberschaft.

  3. Wie die Person handelt oder entscheidet, muss ihrer Kontrolle unterliegen. Diese Kontrolle darf nicht durch Zwang beeinträchtigt worden sein. (Kontrollbedingung) → Autonomie.

Singer und Roth und viele andere behaupten, es gibt keine Willensfreiheit, da alles determiniert ist. Ein Verbrecher ist nicht für seine Taten verantwortlich, weil er nicht anders handeln konnte. Diesem Argument kann man nicht folgen. Aber um es zu entkräften, muss man sich mit dem Begriff des Determinismus auseinandersetzen. Was ist eigentlich Determinismus? Von Determinismus spricht man, wenn alle Ereignisse kausal bestimmt sind. Rückwirkend betrachtet gibt es für jedes Ereignis eine lückenlose Kausalkette (in der Quantenphysik ist das allerdings nicht der Fall, doch sie soll hier außen vor gelassen werden). In der Vorschau jedoch sind Ereignisse komplexerer Natur nicht vorhersagbar, weil wir die Bedingungen, die zu einem gewissen Zeitpunkt zusammenkommen, nicht kennen bzw. nicht unter Kontrolle haben. Da solche Bedingungen auch zufällig zusammenwirken, sind die Freiheitsgrade sehr hoch, was bereits in den Bereichen Evolution, Kultur und Ontogenese gezeigt wurde. Auch Zufall ist eine Kausalbedingung, denn er hat eine Wirkung auf zukünftige Ereignisse.

Philosophen, die meinen, dass die Bedingungen 1.-3. auch in einer deterministischen Welt erfüllt sein können, nennt man Kompatibilisten (Vereinbarkeitsvertreter), Philosophen, die das bestreiten, Inkompatibilisten. Inkompatibilisten, die der Meinung sind, dass es in unserer Welt freie Entscheidungen gibt (und dass daher der Determinismus falsch sein muss), nennt man Libertarier. Kompatibilisten, die davon überzeugt sind, dass es in unserer Welt freie Entscheidungen gibt, obwohl der Determinismus wahr ist, werden manchmal als weiche Deterministen bezeichnet. Philosophen, die glauben, dass unsere Entscheidungen niemals frei sind, heißen Freiheitspessimisten (Stuckenberg 2009).

Die Frage der Willensfreiheit lässt sich philosophisch auch in drei verschiedene Aspekte aufspalten: Handlungsfreiheit, Willensfreiheit und Urheberschaft. Sie sollen im Folgenden etwas näher beleuchtet werden.

Thomas Hobbes und David Hume sagen, dass es für unsere Freiheit allein darauf ankommt, das tun zu können, was wir tun wollen. Wir dürfen nicht durch äußere Zwänge gehindert worden sein, Handlungen auszuführen, für die wir uns entschieden haben (Hobbes, 1651/1996, 1654/1969; Hume, 1758/1993). Diese Art von Freiheit wird Handlungsfreiheit genannt. Handlungsfreiheit ist mit dem Determinismus vereinbar. Verzichtet man darauf, dass der zielsetzende Wille frei ist und beginnt man nach der getroffenen Willensentscheidung mit der Suche nach Freiheit, so existiert sie, wenn keine äußeren und inneren Zwänge das Handeln behindern. Hat sich beispielsweise jemand zum Ziele gesetzt, das Rauchen aufzugeben, so könnten innerer Zwang (Drogenabhängigkeit) und Verführung von außen die Handlungsdurchführung behindern. In diesem Falle bedarf es eines starken Willens und geschickter Strategien, um das Handlungsziel durchzusetzen. Man kann also festhalten: eine Person ist in ihrem Handeln frei, wenn sie tun kann, was sie tun will.



Willensfreiheit beginnt demgegenüber bei der Frage, ob wir frei sind, uns beliebige Ziele zu setzen (Kane, 1998). Willensfreiheit kann jedoch nicht mit völliger Beliebigkeit gleichgesetzt werden. Eine vernünftige Definition lautet: Eine Person ist in ihrem Wollen frei, wenn sie die Fähigkeit hat, zu bestimmen, welche Motive, Wünsche und Überzeugungen handlungswirksam werden sollen. Willensfreiheit setzt nach Locke (1689/1981) (Ausg. 1989) zum einen die Fähigkeit voraus, vor dem Handeln innezuhalten und darüber nachzudenken, was in der Situation zu tun richtig wäre, zum andern, dass man dem Ergebnis der eigenen Überlegung gemäß entscheiden (und dann entsprechend handeln) kann. Das Moment der Reflexion vor der Entscheidung ist auch in Willensmodellen der empirischen Psychologie berücksichtigt, wie weiter unten noch zu erläutern sein wird.

Es ist auch eine Vereinigung von Handlungs- und Willensfreiheit möglich, wie wir sie bei Kant und Frankfurt finden. Nach Harry Frankfurt beruhen Handlungen auf Wünschen erster Stufe. Wünsche zweiter Stufe sind solche, die Wünsche erster Stufe zum Gegenstand haben. Frei ist das Wollen einer Person dann, wenn ihr Handeln von Wünschen erster Stufe bestimmt wird, von denen sie auf zweiter Stufe will, dass sie handlungswirksam werden (Frankfurt 1971, 1988).

Kants Auseinandersetzung mit der Willensfreiheit und dem Freiheitsbegriff überhaupt gehört zu den gründlichsten Gedanken, die zu diesem Thema entwickelt wurden. Auf die Darstellung seiner Ideen zur transzendentalen Freiheit in der „Kritik der reinen Vernunft“ soll hier verzichtet werden. Wir konzentrieren uns auf seine Vorstellung von Willensfreiheit in der „Kritik der praktischen Vernunft“. Dort ist Willensfreiheit die Fähigkeit des Menschen, sich aus Freiheit Werte und Ziele zu setzen und diese im Handeln zu verfolgen, unabhängig von äußerer oder innerer Fremdbestimmung. (Kant Ausg. 2003). Nach dem Freiheitsbegriff Kants ist Freiheit nur mit Hilfe der Vernunft möglich. Der Mensch erkennt das Gute und richtet sein eigenes Verhalten daran aus. Da nur der sich bewusst pflichtgemäß, also moralisch verhaltende Mensch frei ist, sind „freies Handeln“ und „moralisches Handeln“ bei Kant Synonyme. Anders ausgedrückt: Der freie und gute Wille sind eins. Bei Kant bedingen daher auch Freiheit und Pflicht einander wechselseitig. Nur die pflichtgemäße Entscheidung ist auch eine freie Entscheidung und umgekehrt. Lustentscheidungen widersprechen dem Freiheitsbegriff. Die Freiheit zu tun, was man will ist eben nicht, das zu tun, wozu man Lust hat, weil die Lust den Menschen von der eigenen Freiheitsentfaltung abhält. Nicht einmal die Wahlfreiheit gehört notwendig zum freien Willen, weil es für pflichtgemäßes moralisches Handeln nicht darauf ankommt, dass verschiedenen Möglichkeiten zur Auswahl stehen. Auch bei nur einer einzigen Handlungsmöglichkeit kann der Mensch frei sein, solange er die Wahrnehmung dieser Option aufgrund seiner Vernunft als für moralisch richtig ansieht.

Bei Kant implizieren Willensfreiheit und Sittengesetz sich also gegenseitig. Ohne die Freiheit könnte es kein moralisches Gesetz geben. Denn es ist unsinnig, von einem unfreien

16.4 Wille und Willensfreiheit

Wesen zu verlangen, dass es dem Sittengesetz folgen soll. Andererseits erkennen wir unsere Freiheit nur, weil wir eine Vorstellung von dem moralischen Gesetz in uns haben. Wie aber bestimmt sich ethisches Handeln? Kant vermeidet eine inhaltliche Festlegung, da Gesellschaften und konkrete Situationen nicht vorherbestimmbar sind, und vertritt eine formale Ethik mit dem bekannten kategorischen Imperativ: Handle stets so, dass die Maxime deines Willens zu einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann. Gerade wegen dieses Ansatzes ist der kategorische Imperativ auch heute noch aktuell. Er eignet sich auch für ethische Fragen jenseits menschlicher Beziehung, nämlich der ökologischen Ethik, der es um den Schutz des Lebens und den Erhalt unseres Planeten geht.

Schiller hat die moralische Pflicht, die sich prinzipiell gegen das Lustprinzip richtet, ironisch mit zwei Distichen kommentiert (Schiller Ausg. 1907, Bd. 1):

Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung.

Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.

Da ist kein anderer Rat! Du mußt suchen, sie zu verachten. Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.

Eine weitere viel diskutierte Komponente der Willensfreiheit ist der Begriff der Urheberschaft. Wünsche sind meine ureigensten Wünsche, wenn ich sie als die meinen anerkenne und wenn ich bereit bin, für sie Verantwortung zu übernehmen (Stuckenberg 2009). Die eigenen Wünsche und Überlegungen können aber sehr wohl determiniert sein. In der psychologischen Forschung geht es immer auch um die Herkunft von Wünschen und Motiven, die zur Willensentscheidung führen. Unter dieser Perspektive sind Entscheidungen auch dann frei, wenn sie von vorangegangenen Ereignissen kausal hervorgerufen wurden, weil es meine Entscheidungen angesichts der Vielfalt von Wünschen und Gedanken sind. Allerdings gibt es dabei eine Einschränkung. Letzturheberschaft als radikale Forderung für Urheberschaft kann es nicht geben. Der Begriff meint: Frei können meinen Entscheidungen nur dann sein, wenn meine Wünsche und Präferenzen ausschließlich auf mich und nicht auf andere Umstände zurückgehen, die mir meine Wünsche eingepflanzt haben. Nun sind gewiss alle unsere Wünsche auch durch Umwelteinflüsse mitbedingt, von Grund auf schon durch den Prozess der Enkulturation, der uns eine Palette von Präferenzen (sie beginnen schon bei Nahrungspräferenzen) vermittelt und zur Elimination anderer Bedürfnisse und Wünschen führt. Es wäre absurd anzunehmen, Personen könnten in diesem Sinne tatsächlich die letzte Quelle und der Ursprung aller ihrer Ziele und Absichten sein.

DefiniertmanWillensfreiheitundihreKomponentenimobigeneingeschränktenSinne, dann ist sie durchaus mit dem Determinismus vereinbar. Einige plakative Formulierungen seien hier abschließend aufgeführt (zitiert nach Vollmer 1999):



  • Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. (Hegel)

  • Willensfreiheit besteht letztlich nur in der Nichtvoraussagbarkeit unserer (determinierten!) Entscheidungen und Handlungen. (Planck 1936)

  • Willensfreiheit ist die Fähigkeit, das zu tun, was wir am meisten zu tun wünschen, also dem stärksten Impuls nachzugeben. (Jeans 1944)

  • Willensfreiheit ist Abwesenheit von äußerem Zwang. „Wenn die Handlung aus seinem eigenen Charakter kommt, dann sagen wir, dass er frei handelte.“ (Carnap 1974)

  • Willensfreiheit ist Dominanz des rationalen Steuerungssystems über dasTriebhaftInstinktive. (Büchel 1981, S. 256).

Diese letzte Formulierung deckt sich weitgehend mit John Lockes und Kants Ansicht und dient auch in der empirischen Forschung als Grundlage. In keiner dieser Formulierungen ist von Willensfreiheit als totale Beliebigkeit des Entscheidenkönnens die Rede. Um es noch einmal zu sagen, eine so verstandene Willensfreiheit wäre Unsinn.

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