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Resümee

Willensfreiheit in dem alltagssprachlichen Sinn völliger Beliebigkeit gibt es nicht, sie macht auch keinen Sinn. Sonst wäre der Berserker, der blindwütig voranschreitet und nach Laune rechts und links ausschlägt, das Ideal der Willensfreiheit. Willensfreiheit kann nur in Verbindung mit der rationalen Kontrolle und reflektierten Entscheidung angesichts verfügbarer Alternativen definiert werden. Diese Sichtweise liegt auch der folgenden Darstellung zu Grunde. Nun geht es nämlich darum, ob die so definierte Willensfreiheit auch psychologisch realisiert werden kann. Philosophen können des Langen und Breiten definieren und Forderungen stellen. Ob der Mensch von seiner Psychostruktur her solchen Vorstellungen gerecht werden kann, muss man empirisch prüfen. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen.



16.5 Wille und Willensfreiheit in der psychologischen Forschung

Weder die Philosophen, noch die Soziologen und Neurowissenschaftler haben hinreichend Kenntnis von der psychologischen Forschung zum Willen genommen. Dadurch allein schon ist das Bild, das sie vom Willen vermitteln, einseitig. Im Folgenden sollen einige wichtige Befunde vorgestellt werden, ohne deren Berücksichtigung eine Diskussion über Willen und Willensfreiheit unbefriedigend bleibt.



Widerlegung der Willensfreiheit durch Experimente von Libet

Libet (1979) forderte Personen auf, eine einfache Bewegung der Hand auszuführen, wenn sie Lust dazu hätten, und sich den Zeitpunkt ihrer Entscheidung anhand einer vor ihnen postierten schnelllaufende Uhr (mit einer Umdrehung in 2,56 s) genau zu merken. Währenddessen maß Libet die Bereitschaftspotenziale im Gehirn. Das Bewusstsein, die

Finger bewegen zu wollen, trat fast eine halbe Sekunde nach dem Moment auf, in dem das
16.5 Wille und Willensfreiheit in der psychologischen Forschung



Abb. 16.1 Das Rubikon-Modell der Willenshandlung. (Rolf Oerter, verändert nach Heckhausen 1989, S. 21)

Gehirn bereits die Vorbereitung für die Aktion begonnen hatte. Es gab allerdings große individuelle Unterschiede. Dieses Ergebnis wurde mehrfach bestätigt, unter anderem durch Haggard und Eimer (1999).

Die Entscheidung einer Handlung fällt schon auf unbewusster Ebene, bevor man sie bewusst erlebt. Diesen Befund hat man als Beweis dafür herangezogen, dass es keine Willensfreiheit gibt. Was bei der Diskussion nicht beachtet wird, ist das Faktum, dass das Gehirn (nämlich die Top-down-Prozesse, s. Kap. 15) zuvor den Auftrag, den Finger zu bewegen, an andere Gehirnregionen weiter gegeben hat, gewissermaßen mit dem Befehl, nach Belieben eine Bewegung auszuführen. Wenn man so will, steht vor der unbewussten Entscheidung der Willensakt, etwas im Sinne der Instruktion tun zu wollen. Natürlich dauert es dann eine Zeit, bis der („beliebige“) Bewegungsimpuls wieder bewusst wird. Außerdem wird Willensfreiheit in dem hier diskutierten Zusammenhang ohnedies anders verstanden. Libet selbst sah seinen Befund übrigens nicht als Beleg für das Fehlen der Willensfreiheit an.

Totale Willensfreiheit als Beliebigkeit des Handelns kann es in einer kausal determinierten Welt jedoch auch unabhängig von solchen Experimenten nicht geben. Jede ErscheinungmusseineUrsachehaben, undaucheinWillensaktfußtaufvorausgegangenen Impulsen, Motiven, Wünschen, Überlegungen.



Ergebnisse der Volitionsforschung

In der Psychologie hat man sich nach anfänglichen Bemühungen um die Willensforschung (Ach 1905; Lindworsky 1923; Lewin 1926) mehr als ein halbes Jahrhundert nicht mit dem Willen befasst. Man konzentrierte sich vielmehr auf Motivation als Schlüsselkonzept für den Ursprung von Handlungen. Erst Heckhausen und seine Mitarbeiter begannen, ein Volitionsmodell zu entwickeln und es empirisch systematisch zu untersuchen. Sie wählten den Begriff „Volition“, weil „Wille“ zu viele Nebenbedeutungen in der Alltagssprache hat. Abbildung 16.1 demonstriert ihr Willensmodell (Heckhausen 1989). Willenshandlungen gliedern sich danach in vier Phasen.



  • Die prädezisionale Motivationsphase ist die Zeit des Abwägens von Bedürfnissen, Wünschen und Zielen. Irgendwann wird eine Entscheidung gefällt und der Rubikon überschritten. Die Metapher vom Rubikon verweist auf den zentralen Punkt des Modells: Wie Cäsar nach Überschreiten des Rubikon nicht mehr zurückkonnte, kommt es nach der Willensentscheidung zur Planung und Durchführung der Willenshandlung, die anderen Motive und Wünsche treten in den Hintergrund.

  • In der darauffolgenden Planungsphase (präaktionale Volitionsphase) geht es darum, mit Hilfe von Vorsätzen, die später folgenden Handlungen vorzubereiten und möglichst effizient zu gestalten.

  • Dann folgt die aktionale Volitionsphase, in der die nötigen Handlungen zur Zielrealisierung durchgeführt werden.

  • Nach Erreichung des gesetzten Zieles wird bewertet, ob das Willensvorhaben geglückt ist (postaktionale Motivationsphase): Vergleich des Erreichten mit der Zielintention. Die Attraktivität der Folgen der Willenshandlung wird bewertet, und schließlich die Zielsetzung desaktiviert.

Beispiel

Ein reales Alltagsbeispiel mag das Modell veranschaulichen. Eine junge Frau, die Raucherin ist, lernt einen Mann kennen und verliebt sich in ihn. Der Mann verabscheut Rauchen und bringt sie in den Konflikt, entweder das Rauchen aufzugeben oder mit ihm in Konflikt zu leben bzw. ihn sogar aufgeben zu müssen. Sie befindet sich in der prädezisionalen Phase des Abwägens. Da beide gerne nach Griechenland reisen möchten, äußert sie, das Rauchen aufgeben zu wollen, wenn er mit ihr nach Griechenland reist. Er willigt sofort ein, und für sie ist damit der Rubikon überschritten, der Entschluss gefasst. Die präaktionale Phase geht sie mit einem Kontrastprogramm an. Das Wartestadium vor Abflug verbringt sie mit intensivem Rauchen, um sich ein letztes Mal den Genuss zu gönnen. Sobald sie mit ihrem Freund im Flugzeug sitzt, beendet sie das Rauchen und lässt es von da an auf immer sein (aktionale Phase). Die Bewertung ihrer Willensleistung (postaktionale Phase) fällt entsprechend positiv aus, zumal ihr Partner ihr seine Anerkennung ausdrückt und sich die Bindung zwischen beiden intensiviert und stabilisiert.



Willensentwicklung in der Ontogenese

Die Fähigkeit, eigene Affekte und Bedürfnisse zu kontrollieren, entwickelt sich früh. Wie bereits in Kap. 8 beschrieben, vermag das Kind etwa bei Schuleintritt seine Affekte schon gut zu regulieren. Die Entwicklung verläuft dabei über die gemeinsame externe Regulierung zur selbständigen internen Emotionskontrolle. Willenshandlungen als äußere Akte beginnen schon mit etwa sechs Monaten in Form der aktiven Wiederholung eines Effektes

16.5 Wille und Willensfreiheit in der psychologischen Forschung

(z. B. ein Mobile anstoßen). Im zweiten Jahr kämpft das Kind mit dem Konflikt zwischen Bindung und Autonomie. Einerseits möchte es sich schon selbständig machen und die Welt explorieren, andererseits benötigt es die sichere Bindung zur Pflegeperson. Aber mit zweieinhalb bis drei Jahren entdeckt es, dass sein Wollen sich gegen das Wollen anderer Personen behaupten kann. Es kommt zum Trotzverhalten, bei dem die Kinder oft nein sagen, ohne ein eigenes Ziel angeben zu können. Später (zwischen fünf und sieben Jahren) lernt das Kind, seine Bedürfnisse aufzuschieben und entwickelt Strategien, wie man Versuchungen widerstehen kann (etwa angesichts eines attraktiven Gebäcks an etwas anderes zu denken oder nicht hinzuschauen).

Im Jugendalter wachsen Willenskraft und rationale Kontrolle noch einmal stark an. Jugendliche sind nun zu Höchstleistungen im Durchhalten einer Tätigkeit, im Ertragen von Schmerz (z. B. bei Initiationsriten indigener Völker) und im Erreichen längerfristiger Ziele fähig. Ihre gleichzeitige Neigung zum extremen Ausleben von Affekten (etwa bei Rock- und Popkonzerten) darf darüber nicht hinwegtäuschen, diese Neigung hat mit der Rebellion gegen die kulturell auferlegte Affektkontrolle zu tun (s. u.).

Primäre und sekundäre Kontrolle

FürdieDiskussionmenschlicherFreiheitistnocheineweitereUnterscheidungderPsychologie wichtig: primäre und sekundäre Kontrolle (Rothbaum et al. 1982). Unter primärer Kontrolle versteht man das Bewusstsein, durch die eigene Absicht und Handlung Effekte in der Umwelt herbei zu führen. Man erlebt sich als jemand, der die Umwelt kontrolliert. Sekundäre Kontrolle liegt dann vor, wenn man erkennt, dass die Umwelt in bestimmten Situationen nicht an die eigenen Bedürfnisse und Ziele angepasst werden kann, sondern dass man sich selbst an die gegebenen Umstände anpassen muss. Oft ergeht es einem wie dem von Kleinen Prinzen aufgesuchten Planetenbewohner, der die Sonne auf- und untergehen lässt. Auf die Bitte des Kleinen Prinzen, doch jetzt die Sonne untergehen zu lassen, antwortet er, dass er das erst am Abend machen könne (Antoine de Saint-Exupery: Der kleine Prinz). Die Anpassung an gegebene, nicht veränderbare Umstände fanden wir in unseren kulturvergleichenden Forschungen eher in kollektivistischen Kulturen, das Bewusstsein der primären Kontrolle eher in individualistischen Kulturen (Oerter et al. 1996). Beide Formen der Kontrolle haben mit Willenshandlungen zu tun. Bei der primären Kontrolle erlebt man unmittelbar den Effekt der eigenen Willensintention in der Umwelt, bei der sekundären Kontrolle besteht die Willensleistung darin, die eigenen Wünsche und Ziele umzuformulieren und sie den gegebenen Umständen anzupassen. Formen der sekundären Kontrolle sind bei uns in Misskredit geraten, aber sie könnten bei kreativer Nutzung in der Tat neue Freiheitsgrade schaffen. Wenn man ein Ziel nicht auf direktem Wege erreicht, d.h. durch primäre Kontrolle, dann hat man vielleicht Erfolg, wenn man sich zunächst den unabänderlichen Gegebenheiten anpasst und innerhalb dieses Rahmens agiert. Einstein hat sich mit der Anstellung als kleiner Beamter am Patentamt in Bern begnügt, vielleicht ein großes Glück für die Menschheit.



Parallele zwischen historischer und individueller Willensentwicklung

Die hier geschilderte Entwicklung erweckt den Eindruck, als ob die wachsende Selbstkontrolle und die Formen der äußeren und inneren Kontrolle generelle Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung seien. Dies ist aber nicht der Fall, sondern es bedarf erneut der Korrektur durch Berücksichtigung der kulturellen Perspektive. Elias (1976) beschreibt die kulturelle Entwicklung des Abendlandes als fortschreitenden Zivilisationsprozess. „Zivilisierung“ ist bei ihm eine langfristige Veränderung der Persönlichkeit, die auf einem Wandel der Sozialstruktur beruht. Er analysiert die Zeit von etwa 800 bis 1900 in Westeuropa. Die fortschreitende Differenzierung der Gesellschaft, verbunden mit dem technischen Fortschritt und einem ständigen Konkurrenzkampf resultieren in einer Zentralisierung der Gesellschaft, in der staatliche Macht und Geldwirtschaft dominieren. Die wachsende wechselseitige Abhängigkeit im Laufe der Jahrhunderte führte zur Notwendigkeit von Selbst- und Affektkontrolle. Der Zentralisierung innerhalb der Gesellschaft folgte zeitlich etwas später als die „Zentralisierung“ in der Persönlichkeit in Form willentlicher Kontrolle der Emotionen, Triebe und Bedürfnisse. Im Einzelnen verändert sich die Persönlichkeitsstruktur nach Elias vor allem in vier Bereichen:



  • Erhöhung der „Schamschwellen“. Entblößung, intime Verrichtungen werden nicht mehr in der Öffentlichkeit praktiziert.

  • Erhöhung der „Peinlichkeitsschwellen“. Bestimmte Handlungen anderer wirken verstörend oder ekeleinflößend.

  • „Psychologisierung“. Verbesserung der Fähigkeit, andere zu verstehen und erhöhte Neigung, das Verhalten anderer psychologisch zu deuten.

  • „Rationalisierung“. Konsequenzen des eigenen Handelns werden vorausbedacht, wobei lange Handlungsketten berücksichtigt werden.

Inhaltlich ändert sich vor allen die Gewaltbereitschaft, sie sinkt im Laufe der Jahrhunderte. Sexualität wird (bis Anfang des 20. Jahrhunderts) zunehmend tabuisiert. Das Essverhalten wird verfeinert (z. B. Nutzung von Esswerkzeugen). Last not least werden die Ausscheidungsfunktionen aus der Öffentlichkeit verbannt.

Generell tritt zwischen Impuls und Handlung ein Akt der Kontrolle und Reflexion. Diese Darstellung des Zivilisationsprozesses von Elias gilt nicht mehr für das 20. Jahrhundert. Nun nämlich wird Selbstkontrolle in den Bereich von beruflicher Leistung und Konkurrenz kanalisiert, während bei Sexualität und im Konsum den Bedürfnissen freier Lauf gelassen wird. Die sexuelle Revolution führt gegenwärtig zu regelrechten Exzessen in der Selbstdarstellung. Facebook und Twitter dienen als Bühne für die Aufhebung jeglichen Schamgefühls. Die allseits gegenwärtige Verführung zum Konsum fordert dazu auf, Bedürfnisse ohne Aufschub zu befriedigen („du darfst“). Sexuelle Enthemmtheit und schrankenloser Konsum bilden das Gegengewicht zur intensiven Selbstkontrolle im Beruf. Aus der Perspektive von Elias könnte man sagen, dass der Zivilisationsprozess bis Anfang des 20. Jahrhunderts über sein Ziel hinausgeschossen ist und eine Korrektur in Richtung


eines besseren Gleichgewichts erfahren hat. Dieses Gleichgewicht ist allerdings bezüglich der Freiheitsgrade des modernen Menschen nicht wünschenswert, denn es engt die menschliche Freiheit nun in doppelter Hinsicht ein. Zum einen schwächt Verführung zur schrankenlosen Bedürfnisbefriedigung die Willensfreiheit im oben definierten Sinn. Zum andern sind der Zwang zur Selbstkontrolle in Beruf und der Wettkampf um Statusgewinn ebenfalls eine Barriere für den freien Willen, weil sie die übrigen Optionen für Handlungen massiv einengen.

Resümee

DiepsychologischeBefundlagedesheutigenMenschenbelegt, dassWillensfreiheitimoben definierten Sinn und die mit ihr verbundene Verantwortung tatsächlich realisierbar sind. Damit können wir uns im Gegensatz zu den Behauptungen von Singer und Roth nicht der Verpflichtung für Aufgaben der Gegenwart und Zukunft entziehen. Wir tun auch nicht nur so, als ob wir einen freien Willen haben, sondern wir sind in der Lage nach rational begründeten Entscheidungen zu handeln, vor allem wenn wir Menschen um uns haben, die uns dabei stützen.



16.6 Freiheit als Verpflichtung für die Zukunft

Die Zukunft ist offen, nichts liegt fest, also auch nicht die Ethik. Wenn wir nach ethischen Prinzipien suchen, so bleibt nur eine formale Ethik, die keine Wertinhalte vorschreibt. Ich warne auch vor der Intuition und dem Wertgefühl, wie es Scheler (1986) propagiert. Die psychologische Forschung zeigt eindrucksvoll, wie uns Gefühle täuschen können. Sie als sichere Grundlage einer Ethik zu wählen, gilt allenfalls für die evolutionär noch vor unserer Existenz entstandenen Tendenzen zum prosozialen Verhalten. In einer so komplexen Gesellschaft wie der unsrigen reicht das nicht aus. Angesichts des jetzigen Diskussionsstandes lassen sich der Kantsche kategorische Imperativ und der repressionsfreie ethische Diskurs, wie ihn Habermas (1985) vorschlägt, verbinden. Für die ethischen Probleme der Gegenwart und Zukunft gibt es keine fertigen Rezepte. Sie müssen im Diskurs gelöst werden. Als moralisches Prinzip kann dabei nach wie vor der kategorische Imperativ gelten. Alles, was ausgehandelt wird, muss auch als Richtschnur für eine allgemeine Gesetzgebung brauchbar sein.



Plädoyer für eine ökologische Ethik

Reichen die beiden Prinzipien des kategorischen Imperativs und des repressionsfreien Diskurses als ethische Grundlage aus? Eigentlich schon, wenn man ihre Möglichkeiten ausschöpft. Das ist allerdings bisher noch nicht der Fall. Die Ethik kreist nur um den Menschen, sie ist anthropozentrisch oder homozentrisch. Versuchen wir eine Position außerhalb des Menschen einzunehmen und versetzen wir uns in die Lage eines Außerirdischen, der sich mit einem überlichtschnellen Raumschiff der Erde nähert und analysiert, was auf unserem Planeten geschieht – was wird er feststellen?



Zunächst wird es sich freuen, dass es Leben auf dem Planeten gibt, sodann verwundert konstatieren, dass sich alles Leben aus nur vier Nukleinbasen zusammensetzt (s. Kap. 1). Wo liegt also der Unterschied zwischen den verschiedenen Lebewesen? Doch wohl in der verschiedenen Komplexität. Es gibt Tiere mit großen Gehirnen, die offenkundig intelligent sind, aber eine Spezies unter ihnen erweist sich als Ungeziefer für den Planeten: Der Mensch. Er vermehrt sich unkontrolliert, weil er keine Feinde hat. Die wenigen Kriege haben keinen Einfluss auf seine ungebremste Vermehrung. Ständig wächst sein Fleischverbrauch, er hält sich Millionen Schweine und Rinder, die das Achtfache an Pflanzen brauchen, als er bei rein pflanzlicher Ernährung benötigen würde. Er ist zu einer Massentierhaltung übergegangen, die unappetitlich ist. Er hat in hundert Jahren Energiereserven verbraucht, die in Millionen Jahren entstanden sind. Er verpestet die Luft mit CO2 und bewirkt einen Treibhauseffekt. Er überzieht die Kontinente mit Straßen und bedeckt den Planeten mehr und mehr mit seinen Megastädten. Die Liste seiner Sünden ist unendlich groß. Der Alien fragt sich, wie kann man den Planeten retten? Eine Ausrottung des Schädlings verbietet sich nach seiner Ethik, denn der Mensch hat noch eine andere Seite. Er hat Kunstwerke, Musik, Literatur und Wissenschaft hervorgebracht, die nach Kenntnis des Alien einmalig im Universum sind. Was also tun? Der Alien kommt auf vernünftige Ideen, auf die wir auch kommen könnten:

  • Reduktion der menschlichen Population auf 1 Mrd. Es geht also nicht darum, ob wir 10 Mrd. (jüngste Zukunftsschätzung) ernähren können, sondern dass wird dies auf Kosten des Planeten tun würden. Dies ist von einer allumfassenden Ethik unvertretbar.

  • Drastische Reduktion des Energieverbrauchs bezüglich:

    • Umstellung der Nahrung (weniger Fleisch)

    • Wärmeeinsparung

    • Einsparung elektrischer Energie

    • Verzicht auf fossile Energie und Atomenergie

Kehren wir zurück zur Erde. Bei uns gibt es ja auch das Ringen um eine ökologische Ethik. Sie bemüht sich als erstes um einen Naturbegriff. Man kann drei Formen unterscheiden:

  • Die Natur als Material menschlicher Wunscherfüllung. Die Natur kann beliebig ausgebeutet werden, solange dies nur dem Menschen dient, da dieser der Natur übergeordnet ist. Dieser Naturbegriff ist für eine ökologische Ethik unbrauchbar, da er den Eigenwert von Natur nicht berücksichtigt.

  • Natur ist unantastbar und Vorbild für menschliches Verhalten. Die natürliche Ordnung soll nicht gestört werden, das natürliche Gleichgewicht muss erhalten bleiben oder wieder hergestellt werden, der Mensch ist der Natur untergeordnet.

  • Natur als Kosmos, als gemeinsamer Lebensbereich einer Vielfalt von Individuen und Arten. Der Mensch ist hier ein gleichgeordneter Teil der Natur. Zugleich gibt es in dieser Sichtweise eine Stufenordnung der Natur, die von Unbelebtem über Pflanzen und Tiere zu den Menschen führt.

Nach dem Grad der Einbeziehung der Natur kann man grob drei Positionen unterscheiden: Pathozentrismus, Biozentrismus und Holismus. Der Pathozentrismus (von pathos: Leid) ist ein ethischer Ansatz, der allen empfindungsfähigen Wesen einen moralischen Eigenwert zuspricht, jedoch anderen nicht leidensfähigen Wesen diesen moralischen Wert abspricht. Pathozentrische Ansätze nehmen häufig eine utilitaristische Grundposition ein, aus der sich die moralische Notwendigkeit des Tierschutzes ableiten lässt. So ergibt sich aus der Leidensfähigkeit von Tieren der Anspruch, Tiere nicht unnötig leiden zu lassen, was sich in Gesetzen zur Tierhaltung und zu Tierversuchen niederschlägt. Singer (2011) vertritt in diesem Rahmen die Position des Präferenzutilitarismus. Der Begriff Präferenz bezeichnet die generellen rationalen und emotionalen Interessen eines Wesens. Zur ethischen Beurteilung einer Handlung bedarf es der Berücksichtigung der Präferenzen aller betroffenen Wesen.

Der Biozentrismus geht noch etwas weiter: alle Lebewesen haben einen eigenen moralischen Wert unabhängig von ihrer Leidensfähigkeit. (Jonas, 1988). Der Mensch hat somit Pflichten gegenüber allen Lebewesen. Diese Variante geht auf Albert Schweitzer (Ausg. 1991) zurück, der die Ehrfurcht vor dem Leben in den Mittelpunkt seiner Ethik stellte. Die umfassendste Position vertritt der Holismus: die ganze Natur hat einen eigenen moralischen Wert und der Mensch hat Pflichten gegenüber der Natur als Ganzem. Die Einheit von Mensch und Natur kommt in der Tiefen-Ökologie (,deep ecology‘) zum Ausdruck (Naess 1973 Merchant 1990). Die Tiefen-Ökologie argumentiert, dass die Natur ein subtiles Gleichgewicht eines komplexen Beziehungsgeflechts von Lebewesen ist. Die lebende Umwelt sollte als Ganzes respektiert werden, und der Natur sollte das Recht zu leben und zu blühen zugesprochen werden. Der Film „Breathing Earth“ von Thomas Riedelsheimer beleuchtet diese Position eindrucksvoll.

Gegenwärtig handeln wir Menschen im Großen unethisch, wenn nicht sogar verbrecherisch:


  • Wir zerstören die Welt durch Überbevölkerung, • wir gestalten das Klima lebensfeindlich und

  • wir beuten die Erde rücksichtslos aus.

Einige Vorschläge für den Weg zur offenen Gesellschaft

Die drei großen Aufgaben der Bevölkerungsreduktion, des Klimaschutzes und der Energieeinsparung sind Aufgaben der gesamten Menschheit und werden nicht von heute auf morgen gelöst werden. Aber es gibt auch konkrete Aufgaben, die wir unmittelbar angehen können. Einige seien genannt.



OptimaleindividuelleEntwicklungsförderung. EsisteinethischesGebot, allenMenschen eine optimale Bildung angedeihen zu lassen, unabhängig von ihrer späteren beruflichen Tätigkeit. Jeder Mensch hat das Recht auf optimale Förderung, er sollte so viel an Einsicht, Wissen und Denkfähigkeit erwerben, wie ihm möglich ist. Wenn wir uns schon weltweit auf die Würde des Menschen als hohen Wert geeinigt haben, erscheint diese Forderung selbstverständlich.

PädagogikohneScheuklappen. DieinKap. 5dargelegtehoheAggressivitätdesMenschen und die Konsequenzen dieses Sachverhaltes sind noch nicht in die Pädagogik eingegangen. Dort ist der Mensch immer noch von Grund auf gut. Heranwachsende sollten wissen, dass der Mensch zur Bestie werden kann, wenn die zivilisatorischen Schranken fallen und dass jeder einzelne lernen muss, seine Affekte unter Kontrolle zu halten. Anhand aktueller Beispiele von Kriegen, Amokläufen, Affekthandlungen, die fast täglich in den Zeitungen berichtet werden, kann der Mechanismus der Freisetzung von Aggression diskutiert werden. Auch in anderer Hinsicht gibt es Scheuklappen in der Pädagogik. Es gelingt uns nicht, die Kinder aus bildungsfernen Schichten angemessen zu fördern. Alle sophistizierte Wissenschaft und Forschung hat diesen einfachen Sachverhalt nicht aus der Welt geschafft. In anderen Ländern sind die sozialen Unterschiede weniger gravierend, aber doch vorhanden. Somit wird ein Grundrecht des Menschen permanent verletzt. Es gibt einige rühmliche Ausnahmen, die den Versuch unternehmen, sozial benachteiligte Kinder rechtzeitig zu fördern, aber tiefgreifende Maßnahmen, wie rechtzeitige Förderung in der Kinderkrippe, Einrichtung von Ganztagsschulen, Sonderprogramme für Kinder und – last not least – eine gezielte Diagnostik werden kaum in Angriff genommen.

Kampf gegen Ideologien jeder Art. Das Eintreten für die offene Gesellschaft verlangt zugleich die Ablehnung jeglicher Ideologie, die absolute Gültigkeit ihrer Aussagen und Forderungen in Anspruch nimmt. Solche Ideologien sind Religionen, politische Utopien und realstaatliche Herrschaftsformen, in denen keine Meinungsfreiheit geduldet wird. Wer glaubt, wir seien jenseits von Ideologien, halte sich nur vor Augen, dass kein Politiker es wagen würde, sich als Atheist oder Agnostiker zu bekennen, Sarazin in dem einen oder anderen Punkt recht zu geben oder gegen die Wachstumsideologie anzutreten. Ideologien sind wieder auf dem Vormarsch und bedeuten in Form des religiös motivierten Terrorismus eine ernsthafte Gefahr. Für die nächste Zukunft zeichnet sich ab, dass der Terrorismus zur größten Bedrohung des Weltfriedens werden könnte. Ideologien haben in der Menschheitsgeschichte viel Elend gebracht. In den letzten tausend Jahren Religionskriege, Hexenverfolgung, Inquisition, Blockade des wissenschaftlichen Fortschritts durch Denkverbote, Nationalsozialismus, Kommunismus (in seiner krassesten Form unter Stalin in der UDSSR und in Kambodscha, wo Pol Pot Zwangsumsiedlungen und Exekutionen größten Ausmaßes durchführen ließ). Es wird Zeit, Ideologien aufzugeben, egal welche harmlose Form sie scheinbar haben mögen. Auch Moral kann zur gefährlichen Ideologie werden, wie Bischof (2012) zeigt.

Förderung von Wissenschaft und Kunst. Wenn wir, wie oben bereits versucht, die Außenperspektive einnehmen und fragen, was das Besondere des Menschen im Kosmos ist, so bleiben nur unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Kunst (einschließlich Musik, Tanz, Sport, Literatur). Dass es Wesen gibt, die den Kosmos beobachten und seine Gesetzen nachspüren, ist alles andere als selbstverständlich. Erkenntnisfortschritt ist daher ethisches Gebot. Kunst und Wissenschaft sind das einzige, was die Menschen wirklich über das Tier erhebt, das, was aus meiner Sicht den eigentlichen Sinn menschlicher Existenz ausmacht.

Eine neue Aufklärung als Rahmen. Es gibt viele Möglichkeiten, Verhaltensänderungen herbeizuführen. Auf der Grundlage der hier skizzierten Ethik ist allerdings nur ein Weg möglich – der Weg der Aufklärung. Zwang, Indoktrination, Verbote sind der falsche Weg. Denn dann wird Ethik zur Ideologie. Aufklärung bedeutet zunächst einmal, Bildung zu vermitteln. Sie sollte nicht nur für die Kenntnis des naturwissenschaftlichen Wissensstandes sorgen, sondern auch für Einsichten in die Stärken und Schwächen des Menschen, in die systemischen Wirkungen von Politik, Finanzwesen und Wirtschaft sowie in mögliche Freiheitsgrade, die sich uns eröffnen, wenn wir kreativ sind.

Aufklärung darf trotzdem nicht als Belehrung von Besserwissenden an Unwissende verstanden werden, sondern als Wissensentwicklung in Form von Diskursen und als Ko-Konstruktion, ein Prozess, der in jeder individuellen Entwicklung bei der Enkulturation stattfindet. Besteht nämlich erst einmal ein gewisser Grundstock an Wissen, so lässt sich Weiteres vorteilhafter im sozialen Austausch erwerben, bei dem Lehrer und Schüler gleichgestellt und damit ebenbürtig sind. Es zählt nur das Argument, die rationale Auseinandersetzung mit Problemen. Fast alle Inhalte außerhalb der Mathematik und der Naturwissenschaften (aber auch dort gibt es grundsätzliche Probleme) sind hinterfragbar und diskussionswürdig. Wenn es um die großen Probleme der Geburtenkontrolle und der Energieeinsparung geht, gibt es ohnedies keine Patentlösung. An diesen Fragen muss, wie schon gesagt, die ganze Menschheit arbeiten.



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