Ein Kleinbus voller Stangen, voller Planen, ohne Planung. Den Ort, in dem alle Teilnehmer des Projektes schlafen, leben und arbeiten werden, gibt es noch nicht. Nur die Einzelteile liegen verstreut auf der Wiese rum. Eleanora erklärt uns anhand von fachmännischen Zeichnungen, wo wir was aufstellen sollen. Aber wir, wer ist das? Ebenso durcheinander gewürfelt wie die Einzelteile unseres kollektiven mobilen Zuhauses der nächsten zwei Wochen stehen die Teilnehmer herum, noch weit davon entfernt, wenigstens im Ansatz so etwas wie eine Gruppe zu sein. Eleanora ist fertig. Alles klar? Fragt sie. Ich schmeiße unbedarft eine Bemerkung aufs Gras: „Du weißt ja auf jeden Fall, wies geht, ihr habt das Zelt doch schon mal zur Probe aufgebaut, oder? - Oder?“ „Nein.“ Die Antwort ist erschütternd. Es ist kalt, der Wind wird immer stärker, es wird langsam dunkel, Hunger. Und jetzt das, das kann doch nicht wahr sein, wir sind eine Jugendgruppe, keine Sandsäcke, da müssen sich die Leiter doch vorher damit beschäftigen, uns sicher unterzubringen... wenigstens gibt es eine Begründung. Der Hersteller der Zeltplanen, eigentlich Lastwagenplanenhersteller, lieferte die Planen erst lange nach dem ausgemachten Termin, kurz vor heute. Aber Hans, so versicherte man mir, habe schon eine ausgefeilte Konstruktion ersonnen, da könne nichts schief gehen, Hans kenne sich mit so was aus,
der TÜV habe es zusätzlich abgenommen, also keine Angst. Aha. Aber wer, zum Teufel, ist Hans? Mit großem Unbehagen halte ich also nun eine Stange hoch. Andere tun dasselbe, man lächelt sich mal schüchtern zu, über die allgemeine unkoordinierte Verwirrung hinweg. Da! Vier Jungs ergreifen die Initiative, richten in harter Muskelarbeit den bestimmt 100 kg schweren Mittelmast auf. Die Fahne flattert verheißungsvoll und mutig im Wind, die riesige Dachplane breitet sich wie ein Vorhang wellenartig über unseren Köpfen aus, ein erster Triumph! Es wird gelacht, siegessichere, freundschaftliche Blicke fliegen umher, die große gelbe Sonne weist trotzig gegen den wolkenschwangeren Himmel. Unser Zelt! Alle hängen sich an die Stangen, an die Bänder, spannen, mit aller Kraft, das Zelt ist unser!
Keine zwanzig Minuten später liegen alle Teile wieder am Boden, der Enthusiasmus auch.
In Kürze: nachdem der örtliche Schlossermeister zurechtgeschweißt hatte, was wackelte, und nachdem drei fesche Feuerwehrmänner halten und spannen halfen, stand es letztlich doch, sicher und fest im Boden verankert der Mittelmast mit vier armlangen Heringen. Mit fremder Hilfe gelang es also, unser Zelt aufzubauen. Wir verstehen uns da richtig: Unser Zelt.
In As bauten wir erst gar nicht. Da stand´s nämlich schon.
Wie von Außerirdischen einfach hingeflatscht in den geborgenen Winkel der Schule, wie das Hexenhaus in Hänsel und Gretel (wobei die Hexer, Anna und diverse Freunde, vom weißspiritistischen Zweig der Zauberwesen stammten), wie das Hotel Occidental, eine rettende Insel, Schutz, geregelter Tagesablauf, wohlgesinnte Gastgeber (vergessen wir einfach Karls Zerwürfnis mit dem Oberportier und anderen Monstren, die ja hier nicht ihr Unwesen trieben, da, wie gesagt, nur die guten Feen schwirrend umhergaukelten). Dankbar nahmen wir diesen Gral entgegen, und – war es Magie ? – das Wunder von As entfaltete seine geheimnisvolle Wirkung und die Gruppe wuchs zu einem verschworenen Geheimkreis von Menschen mit Träumen und einer Vision heran:
Freude schöner Götterfunken alle Menschen werden Brüder wo dein sanfter Flügel weilt (auch wenn Tschechien noch nicht zur EU gehört, wen kümmert das schon, diese Hymne ist für alle da, ja).
Und das alles unter dem Dach unseres Zeltes, ja unseres Zeltes, das wir dann in Klingenthal zum ersten mal ohne fremde Hilfe aufrichteten, gemeinsam sind wir stark, ja, gemeinsam, Gruppengefühl (der Franzose spricht da von Esprit, aus dem lateinischen spiritus = Geist Hauch (Lebens-)Atem) und so. Kein Wort mehr. So ein Zirkuszelt atmet per se Poesie.
Insa
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Plato war`s, der alte griechische Philosoph, der vom Organum sprach. Sprache als Werkzeug, mit dessen Hilfe einer dem anderen die Dinge mitteilt. Kommunikation als Zeichenprozess, als Gebrauch von Zeichen und Codes, um sich über etwas zu verständigen, über Gegenstände oder Situationen oder Gefühle. Dabei ist es völlig zufällig, welches Ding in der Welt welche Bezeichnung bekommt. Warum heißt Zelt“ Zelt“? Weil es eine Vereinbarung ist, ein Code. Was aber, wenn –
Stell dir vor, du wächst in einer Welt auf, in der niemand deine Sprache spricht. Alle reden miteinander, aber jeder Versuch, zu verstehen oder dich mitzuteilen scheiterte an verständnislosen Gesichtern. Ein Alptraum, wie im falschen Film. Du suchst nach dem Umschaltknopf auf der Fernbedienung, aber der Ton bleibt einsprachig. Der Code ist ein anderer als der, den du gelernt hast. Zelt heißt plötzlich nicht mehr Zelt, sondern aus irgendeinem unerfindlichen Grund stan. Aber das weißt du eben nicht. Ähnlich kam ich mir vor am ersten Tag, als wir singen mussten, und zwar auf tschechisch. Gewisse deutsche Teilnehmer, alte Hasen, die schon in früheren Projekten Erfahrungen mit dieser Sprache gesammelt hatten, sangen merrily mit. Bis zehn zählen auf tschechisch? Aus dem linken Jackenärmel! Sli tri opice do porodnice, otec Abraham ja sedum senu, sedum senu ja otec abraham (poznamka ceske redakce, foneticky text se neshoduje s originalnim: mel sedm synu, sedm synu mel otec Abraham), wo ist der nächste Bahnhof, ich bin in böhmischen Dörfern und verstehe nur chinesisch. Ach was, chinesisch hätte ich noch verstanden, das hab ich mal studiert.
Es gibt Laute, von denen könnte ich mir auch nach intensiver Lektüre linguistischer Fachbücher nicht vorstellen, wie die eigentlich gebildet werden. Dř`s, ě`s, š`s, ř`s, ž`s, č`s, ň`s, Ť`s, ď`s verknoten meine Zunge. Lakonisch meinte Thomas, es sei doch ganz einfach, auszusprechen wie ein Gebirgsdonner, „dř“. Keinen Bock mehr auf Begegnung, ehrlich, selten so schnell desillusioniert gewesen. Heimlich verehre ich Kafka, der schaffte deutsche Texte der Sahnetortenextraklasse und sprach trotzdem ein einwandfreies Tschechisch. Auch Karl Roßmann stellte sich nicht so an, das schlaue Kerlchen. Der lernte brav in seinem Zimmer beim Onkel Tag für Tag Englisch, und machte bald so große Fortschritte, dass sogar der sonst so lobkarge Onkel mit einem „Donnerwetter“ die Lernfortschritte seines lieben Neffen kommentierte und ihn für reif genug empfand, mit den ersten richtigen New Yorkern Bekanntschaft zu schließen, das heißt mit dem feinen reichen Pinkel Mack. Allerdings: der Vergleich mit der Lingua franca Englisch ist lächerlich. Ich will nicht bestreiten, dass, wenn man in die higher realms of English aufsteigen will, viel studieren und lernen und erarbeiten muss. Aber als Weltsprache für die grundlegende Kommunikation zu Zwecken wie Handel ist Englisch weitaus einfacher als Deutsch oder gar Tschechisch, welches als slawische Sprache eine hoch elaborierte Grammatik besitzt. Dennoch passiert es, es ist möglich, Sätze in dieser völlig fremden Sprache zu lernen. Alle bringen es fertig, zuletzt fünf Statements abzugeben, die ihnen viel bedeuten, ohne Ahnung von Grundvokabular oder – Grammatik.
Wie wunderbar das klingt, mit einer unglaublich gelassenen Leichtigkeit wie aus der Pistole geschossen sagen zu können „Dříve jsem byla princezna a mluvila s anděly.“ (Anm. d. Red.: „Früher war ich Prinzessin und sprach mit den Engeln“ – das ist kein Übersetzungsfehler, s.o.). Ich beginne, mich schlecht zu fühlen und spüre etwas wie Sprachhegemonialismus schwerstens auf meinem Gewissen lasten. Warum müssen die Tschechen Deutsch lernen, und ich lerne Spanisch und Französisch? Wie wäre es mit einem Traum. Ich wache in einer Welt auf, in der es keine Sprache mehr gibt. Statt dessen interagieren die Menschen durch eine neue Art von Sprache, die durch Telepathie, Körpersprache und sehr viel Aufmerksamkeit füreinander zu einem neuen Bewusstsein für Darstellung, Ausdruck und Appell führt. Mal dir ein Bild aus, eine ausgestreckte unsichtbare Hand, über die jemand anderes feinen Sand rieseln lässt.
Die Umrisse also dieser unsichtbaren Hand werden dadurch sichtbar, aber in das Fleisch und Blut gibt es kein Vordringen. Nun denk dir, durch diese neue Art von Sprache wäre es möglich, die Hand zu ergreifen und mehr noch, eins zu werden mit ihr, sie ganz zu verstehen, ohne dass Sand nötig ist. Ich spinne?
Wir erdichten unsere eigenen Geschichten auf dem Theater, wir machen sichtbar, was verborgen war in uns. Dazu benutzen wir Bilder und unser Fleisch und Blut, wir schaffen einen Illusionsraum, über alle Sprachen hinweg: Theater ist die Metaform, die das Potential hat, der Vorreiter dieser neuen Art von Sprache zu sein. Wo sind wir? Aufgewacht auf unserer Bühne, jeden Morgen wieder, aus den Schlafsäcken gekrabbelt und aufgestanden, um neu zu beginnen, um uns zu begegnen.