Sozialismus, Religiöser
Religiöser Sozialismus (r.S.) - Gesamtbezeichnung für die im 19. Jh. in Europa und den USA aufkommenden Bestrebungen zur Überwindung der zwischen Christentum und sozialer Bewegung entstandenen Entfremdung. In den USA suchten die Kongregationalisten Washington Gladden (Applied Christianity, 1887) und Josiah Strong, der Unitarier Peabody (Jesus Christ and the Social Question, 1900) und vor allem der —» Baptist Walter Rauschenbusch (Christianity and the Social Crisis, 1907; Christianizing the Social Order, 1912; Theology of the Social Gospel, 1917) den religiösen Individualismus der Erweckungsfrömmigkeit zu überwinden und die Frohbotschaft als »soziales Evangelium« zu verstehen. - In England begründeten F. D. Maurice (1805-1872) und Ch. Kingsley (1819-1875) einen christlichen Sozialismus. - In Frankreich waren im 19. Jh. Saint-Simon (1760-1825) Lamennais (1782-1854) Vorläufer, im 20. Jh. Fallot (La religion de la soli- darite, 1908), Gounelle (Les principes reli- gieux essentiels du christianisme social, 1900) und W. Monod (L'Eglise peut-elle don- ner une äme ä la societe des nations?, 1936) Vertreter eines r.S. — Angeregt durch den schwäbischen Pietisten Chr. —» Blumhardt bildete sich in der Schweiz die r. s. Bewegung unter Führung von Kutter (Sie müssen, 1903), Ragaz (Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, 1906) und anfänglich Karl -> Barth, E. Thurneysen u.a. Der r.S. konnte vor allem in Gebieten mit reformierter Tradition Fuß fassen und an den Gedanken von der Herrschaft Christi über die ganze Welt anknüpfen. Hinzu kommt das Verständnis des -> Reiches Gottes als einer diesseitigen sittlichen Größe (vgl. A. Ritschl). Ein dynamisches Offenbarungsverständnis ermöglicht es dem r.S., ein positives Verhältnis sogar zum atheistischen -» Sozialismus zu gewinnen: wenn auch Gott sich entscheidend in Jesus offenbart hat, so ist seine Selbsterschließung in der Geschichte damit nicht abgeschlossen, sondern findet ihre Fortsetzung in Reformation und sozialer Bewegung der Gegenwart. Auch wo sich Marxisten als Atheisten gebärden, gilt: Jesus ist Sieger! Nach 1918 bildeten sich in Deutschland drei r.S. Gruppen: in Baden der »Volkskirchenbund ev. Sozialisten«, in Berlin der »Bund rel. Sozialisten« und der
Kölner r.S. Arbeitskreis. Diese Gruppen schlossen sich 1924 zur »Arbeitsgemeinschaft der Rel. Sozialisten Deutschlands«, 1926 zum -» Bund der Relig. Sozialisten Deutschlands« zusammen (Ztschr. Der rel. Sozialist; seit 1949: Christ und Sozialist). In Deutschland traten theologisch führend hervor der Sozialethiker G. Wünsch und P. Tillich (1886-1965; Religiöse Verwirklichung, 1930; Die sozialistische Entscheidung, 1933 (eingestampft!) und 1948). Die öffentliche Wirkung war zunächst gering, da sich die Dialektische Theologie Barths u.a. gegen eine Gleichsetzung weltlicher Programme mit dem Reiche Gottes wandte und politisch der —» Marxismus vom Nationalsozialismus verdrängt wurde. Jedoch in der Arbeit der -» ökumenischen Bewegung und nach 1945 in der -» Ev. Kirche in Deutschland (Ev. Kirchentag, Ev. Akademien) sowie in der Aufgeschlossenheit der Sozialdemokratie für christliches Gedankengut (Godesberger Programm von 1959) hat sich r.S. Gedankengut durchgesetzt. Seit 1976 entfaltet der Bund der R.S. Deutschlands wieder eine regere Wirksamkeit. Der »Internationale Bund der R.S.« hat seinen Sitz in Bent- veld/Holland. - Auch in der Katholischen Kirche gibt es seit 1929 Ansätze einer r.S. Bewegung (Kath. Arbeitsgem. im Bund der R.S., Organ »Das Rote Blatt« der kathol. Sozialisten; Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Katholiken in Wien).
Lit.: Art. Rel.-sozial. Bewegung, Sozialismus II. in RGG, 3. Aufl. 1961 f. - H.-J. Birkner, R.S., in: W. Schmidt (Hsg.), Gesellschaftl. Herausforderung des Christentums, 1970, S. 29-38, G. Ewald (Hg.) Religiöser Sozialismus, Urban Taschenbücher (T- Reihe) r977
Schrey
Spätregenbewegung -» Perfektionismus III
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