Inhaltsverzeichnis Einleitung


Das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Selbstgestaltung



Yüklə 2,08 Mb.
səhifə18/45
tarix26.07.2018
ölçüsü2,08 Mb.
#59660
1   ...   14   15   16   17   18   19   20   21   ...   45

8.2 Das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Selbstgestaltung

Der Dreierpack Anlage – Umwelt – Selbstgestaltung

Wie bereits in früheren Kapiteln erläutert, ermöglichen der Bedürfnisaufschub und die damit verbundene Emotionskontrolle die Handlungsplanung und deren Umsetzung in die Tat. Diese Leistung vergrößert aber auch die Freiheitsgrade des Menschen. Wenn er biologische und kulturelle Einflüsse kontrollieren kann, bleibt es ihm überlassen, aus dem Angebot auszuwählen, neu zu kombinieren und gegebenenfalls neue Leistungen zu entwickeln, wie die enorme Technik beim Piano- und Geigenspiel, bei Akrobatik und im Sport.





Abb. 8.1 Das Zusammenspiel von Evolution, Kultur und Ontogenese

Abbildung 8.1 zeigt den Zusammenhang von Evolution, Kultur und individueller Gestaltung, heruntergebrochen auf das Individuum. Hier wird die Evolution zur Anlage, die Kultur, aber auch die Natur, zur Umwelt; beide werden vom Individuum, dem Akteur und Dirigenten, genutzt. Die Abbildung verdeutlicht aber noch einen weiteren Zusammenhang: Gene brauchen für ihre Entfaltung geeignete Umweltbedingungen. In vielen Fällen sind sie in allen menschlichen Umwelten vorhanden. In manchen Fällen jedoch führen nur spezifische Bedingungen zum Durchbruch. Dies gilt für genetisch bedingte Krankheiten ebenso wie für Anlagen zu besonderen Leistungen. Mozart wäre ohne die anregende musikalische Welt, in der er aufwuchs, nicht der Mozart geworden, den wir kennen. Im afrikanischen Urwald hätte er wohl als guter Trommler brilliert.

Der Zusammenhang zwischen genetischem Potenzial und Umweltanregung soll an drei Beispielen erläutert werden: an der Sprachentwicklung, der Intelligenzentwicklung und an dem spezifischen Bereich der musikalischen Entwicklung.

Die Sprachentwicklung geht mit Sicherheit auf ein genetisch-evolutionär vorgegebenes Sprachvermögen zurück, bedarf aber sprechender Partner. Die sprachliche Interaktion zwischen kompetentem Partner, im Regelfall hauptsächlich Mutter und Vater, und dem Kind hat ein Zeitfenster. Das Kind kann die Muttersprache adäquat nur in den ersten sechs Lebensjahren erwerben. Spätestens mit Pubertätsbeginn ist der Erwerb von Sprache ausgeschlossen, fallszuvorkeineSprachreizevermitteltwurden. HiergiltinvollemUmfang das alte Sprichwort: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

Die Umweltbedingungen für die Entfaltung der genetischen Voraussetzungen für Sprache sind also 1) Kommunikation mit sprechenden sozialen Partnern, 2) Spracherwerb innerhalb eines Zeitfensters während der Entwicklung und 3) die Präsentation von Semantik und Grammatik der jeweiligen Sprache. Die genetischen Voraussetzungen für Sprache sind motorische, semantische und syntaktische Komponenten. Für die sprechmotorischen Leistungen ist bekanntlich das Broca’sche Zentrum und für die Semantik und Syntaktik das Wernicke’sche Sprachzentrum im Gehirn zuständig. Wie weit und differenziert sich Sprache entwickelt, hängt einerseits vom Bildungsgrad ab, also auch einem Umweltfaktor, andererseits aber auch von der individuellen Initiative. Ist das Individuum an Sprache und sprachlichen Inhalten interessiert, wird es sich zu höheren Sprachniveaus entwickeln, andernfalls weniger differenziert sprechen bzw. Sprache verstehen. Darüber hinaus ist die Eigeninitiative des Individuums grundlegend an der Sprachentwicklung beteiligt. Schließlich ist es ja der Konstrukteur seiner Sprache. Es muss aus den genetischen Voraussetzungen und dem Umweltangebot seine Sprachkompetenz aufbauen. Es ist also aktiver Konstrukteur seiner Sprachfähigkeit und -fertigkeit.



Die Intelligenz bildet ein Paradebeispiel für das Zusammenwirken der drei Komponenten Anlage, Umwelt und Selbstgestaltung. Zunächst ist festzuhalten, dass Intelligenz einen massiven Erbfaktor hat, was nicht nur die Zwillingsforschung, sondern noch deutlicher die Adoptionsforschung belegt. Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge sind sich bezüglich ihrer Intelligenz ähnlicher als gemeinsam aufgewachsene sonstige Geschwister (Bouchard, 1993). Kinder, die bei Adoptiveltern aufwachsen, ähneln mit zunehmendem Alter bezüglich ihres Intelligenzniveaus ihren biologischen Eltern mehr als den Adoptiveltern (Munsinger 1975). In diesen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass die Umwelt Intelligenz nicht beliebig modifizieren kann. Das heißt aber nicht, dass sie keinen Einfluss ausübt. Im Gegenteil, ohne Umweltanregung entfaltet sich Intelligenz überhaupt nicht, das Individuum bleibt geistig stark retardiert und ist massiv gestört. Viel hängt davon ab, wie früh und wie angemessen Kinder intellektuell angeregt werden. Am Ende des ersten Lebensjahres finden wir noch keine Intelligenzunterschiede zwischen verschiedenen sozioökonomischen Schichten. Aber bereits mit drei Jahren sind Kinder aus niedrigeren Sozialschichten Kindern aus höheren Schichten unterlegen, zumindest bezüglich der in Tests erfassbaren Leistungen. Ein weiterer Befund aus einer Längsschnittuntersuchung belegt den negativen Einfluss von Risikofaktoren auf Intelligenz. Sameroff und Mitarbeiter (1993) haben Kinder mit vier Jahren und neun Jahren, später mit dreizehn Jahren untersucht. Neben der Intelligenz erfassten sie auch eine Reihe von Risikofaktoren, wie Verhalten der Mutter, ihre Ängstlichkeit, ihr Bildungsniveau, ihr Minoritätenstatus und andere Faktoren. Insgesamt waren es zehn Faktoren. Der Einfluss der erfassten Faktoren auf die Intelligenzentwicklung ist verblüffend. Je mehr Risikofaktoren zusammenkamen, desto mehr war die Intelligenz der Kinder mit 13 Jahren beeinträchtigt. Risikofaktoren stellen also Umweltbedingungen dar, die sich massiv auf die Intelligenz auswirken. Andererseits kann man angesichts des Anlagefaktors nicht erwarten, dass auch bei optimaler Anregung die Intelligenz beliebig hoch geschraubt werden kann. Da auch die Schulart und die Jahre des Schulbesuchs sich auf die Intelligenzentwicklung auswirken, bekommt das Individuum die Chance, seine Intelligenzentwicklung mit in die Hand zu nehmen und sie zu optimieren. Interesse, Bildungsmotivation und Fleiß sind Bedingungen für eine solche Optimierung. Sofern aber das Bildungssystem für das Individuum hemmend wirkt, muss sich dieses andere Wege der Förderung der eigenen geistigen Leistungsfähigkeit suchen. Aus den Biografien Hochbegabter gibt es Beispiele für diese Situation. Justus v. Liebig, der schon als Kind an Chemie interessiert und Lehrern und Mitschülern weit überlegen war, experimentierte zu Hause bereits als Kind, versagte aber dann in der Schule und danach in der Apotheke, wohin ihn der Vater schickte. Durch glückliche Umstände kam er nach Paris, wo er die Chemie in ihrem aktuellen Forschungsstand studierte. Er kehrte dann nach Deutschland zurück, was zur Folge hatte, dass damit Deutschland die Führung im Fach Chemie übernahm! Diese unglaubliche Lebensgeschichte demonstriert eindrucksvoll das Zusammenwirken von Anlage, Umwelt und Selbstgestaltung. Keiner der drei Faktoren durfte fehlen. Der Umweltwechsel ermöglichte die Entfaltung der Begabung, und beides führte durch die Selbstgestaltung zu der Entwicklung eines der größten Chemiker seiner

Zeit.


Das Beispiel musikalische Entwicklung

Viele stellen sich Musiker als besonders begabte Menschen vor, denen ihre Fähigkeit des Musizierens in die Wiege gelegt wurde und die deshalb ihr Können mit großer Leichtigkeit erworben haben. Diese Meinung stimmt jedoch mit der Realität nicht überein. Ericsson und seine Mitarbeiter (Ericsson et al. 1993) konnten anhand von umfangreichen Befragungen belegen, dass das erreichte musikalische Können direkt mit dem Übungsaufwand zusammenhängt. In einer Untersuchung an Geigern der Hochschule Berlin hatten Lehrer in ihrem Leben weniger geübt als Geiger, die als „gut“ eingestuft waren und diese wiederum weniger als mit hervorragend bewertete Geiger. Einer Reihe von weiteren Studien erbrachte ähnliche Ergebnisse. Also könnte man meinen, dass die Anlage überhaupt keine Rolle spielt. Dem widerspricht die hohe Leistung von Wunderkindern, die schon schwere Instrumentalkonzerte spielen, ohne die lange Übungszeit akkumuliert zu haben, wie ihre jugendlichen oder erwachsenen Kollegen. In einer von Sloboda (1993) zitierten Untersuchung an Studierenden hatten solche mit außergewöhnlichen Leistungen bei ihrem ersten Instrument nicht einmal halb so viel geübt wie durchschnittliche Studenten.

Immerhin steht fest, dass ohne konzentrierte, gezielte Übung musikalisches Potenzial nicht zu seiner vollen Entfaltung gelangen kann. Je nachdem wie motiviert, konzentriert und willensstark Lernende sind, werden sie mit Hilfe der gewiss oft auch unangenehmen und anstrengenden Übungsarbeit unterschiedlich hohe Leistungsniveaus erreichen.

Es gibt eine zweite Verzahnung zwischen Genen, Umwelt und Selbstgestaltung, nämlich ein Zeitfenster für optimale musikalische Entwicklung. Es zeigt sich, dass Kinder, die früher mit dem Erlenen eines Instruments begonnen haben, im Vorteil sind. Sie sind anderen überlegen, die später angefangen haben, selbst wenn der Übungsaufwand bei beiden Gruppen gleich ist. Abbildung 8.2 zeigt die Bedeutung günstiger Umweltbedingungen für die musikalische Laufbahn. Die Biografien berühmter Musiker belegt z. B., dass ihr Üben beaufsichtigt wurde. Das Schüler-Lehrer-Verhältnis spielt eine wichtige Rolle, und das finanzielle und zeitliche Engagement der Eltern ist Voraussetzung für eine Solistenkarriere auf internationalem Niveau, vor allem in Form der Ermöglichung von Reisen zur Teilnahme an Wettbewerben. Der Vater von Liszt gab seinen Beruf auf und widmete sich nur noch der Karriere des Sohnes. Leopold Mozart sorgte für die musikalische Ausbildung seines Sohnes wie keiner seiner Zeitgenossen im damaligen Europa. So zeigt sich gerade bei der musikalischen Entwicklung das Zusammenspiel der drei Komponenten Anlage, Um-





Abb. 8.2 Dreierpack der musikalischen Entwicklung

welt und Selbstgestaltung in eindrucksvoller Weise. Abbildung 8.2 veranschaulicht diesen Sachverhalt. Die individuelle Entwicklung vollzieht sich, wie das EKO-Modell postuliert, im Rahmen der Evolution, die uns allen musikalische Grundkompetenzen bereitstellt, und im Rahmen der jeweiligen Musikkultur.

Der Volksmund und die Bibel halten Redensarten bereit, die auf die musikalische Entwicklung passen, wenn man sie zusammen nimmt:


  • Früh übt sich, was ein Meister werden will.

  • Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.

  • Man muss mit seinen Talenten wuchern und soll sie nicht vergraben.

Nicht hingegen passt: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf (Psalm 127/1–2).

Drei Formen der Gen-Umwelt-Interaktion

Die genetische Ausstattung und die Umwelt stehen einander nicht beziehungslos gegenüber. Scarr und McCartney (1983) unterscheiden im Anschluss an Plomin drei Möglichkeiten der Wechselwirkung von Anlage und Umwelt: die passive, die evokative und die aktive Interaktion. Die passive Wechselwirkung besteht darin, dass die Eltern, von denen das Kind die genetische Ausstattung erhält, ein Umweltarrangement bereitstellen, das ihrer eignen genetischen Ausstattung und damit auch der des Kindes entspricht. In intellektuell anregendem Milieu können sich intellektuelle Anlagen entfalten, in einem musikfreundlichen Milieu wird die musikalische Begabung des Kindes angeregt. Die zweite Form der Interaktion ist die evokative Interaktion; sie besteht darin, dass die soziale Umwelt, im Normalfall also die Eltern, die besondere Begabung des Kindes entdecken und sie fördern. Viele Musiker haben bereits im Vorschulalter nach einem Instrument verlangt und frühzeitig ein hohes Niveau an Fertigkeit erreicht (Ann-Sophie Mutter, Friedrich Gulda, Julia Fischer). Wenn Eltern das Instrument bereitstellen und für eine gediegene Ausbildung sorgen, kann die genetische Begabung sich entfalten. Gerade in der Musik ist dies bis heute vorwiegend nur in der gebildeten Mittelschicht der Fall, während soziale Schichten mit niedrigem Bildungsniveau (und geringem Einkommen) die Talente ihrer Kinder nicht oder wenig fördern (Dollase 2005). Die dritte Form der Gen-Umwelt-Wechselwirkung, die aktive Interaktion, ist für die hier anstehende Frage die wichtigste. Bei dieser Form sucht sich nämlich das Individuum selbst die zu seiner genetischen Ausstattung passende Umwelt aus. Die Maler versammelten sich um 1900 in Paris, die Musiker reisten in die Länder, in denen neue musikalische Entwicklungen stattfanden (im 18. Jahrhundert nach Italien; im 19. Jahrhundert nach Deutschland). Die ersten Psychologen versammelten sich im ausgehenden 19. Jahrhundert um Wilhelm Wundt. Im 20. Jahrhundert wurde Berkeley, MIT und Stanford zu Attraktoren für Wissenschaftler beiderlei Geschlechts. Die Herstellung der Passung zwischen Genotyp und Umwelt ist ein Beleg für den aktiven Gestaltungseingriff des Individuums in sein Schicksal. Johann Sebastian Bach reiste zu Fuß nach Lübeck, um von Buxtehude zu lernen und mit ihm musikalische Ideen auszutauschen. Er überzog den ihm gewährten vierwöchigen Urlaub in Arnstadt um drei Monate. Gershwin lernte Klavierspiel an einem elektrischen Klavier, indem er den sich bewegenden Tasten mit den Fingern folgte. Frank Sinatra tingelte singend in diversen Lokalen, obwohl sein Vater ihn ausschimpfte und ermahnte, einer ordentlichen Arbeit in der Fabrik nachzugehen.



8.3 Das Individuum wird Mitglied der Kultur

Die Zone nächster Entwicklung

In Kap. 7 wurde bereits der Ansatz Wygotskis dargestellt, wonach psychische Phänomene zweimal in der individuellen Entwicklung auftauchen, zunächst als interpsychisches, dann als intrapsychisches Phänomen. Erst existieren psychische Leistungen wie Sprache und Denken im sozialen Austausch, später dann als verinnerlichte Tätigkeiten beim Individuum. Erst ist Sprache ein Medium zwischen den Menschen, vor allem zwischen Mutter und Kind, später kann das Kind Sprache als Werkzeug des eigenen Denkens und Handelns benutzen, es denkt allein und spricht (auch) zu sich selbst. Wygotski (1978, 1987) hat


8.3 Das Individuum wird Mitglied der Kultur

noch ein weiteres Konzept eingeführt, das griffig die Wechselwirkung zwischen Kultur und Individuum beschreibt, nämlich die Zone nächster Entwicklung. Sie ist der Bereich, in dem sich die interpsychischen Prozesse in intrapsychische verwandeln. Menschliche Individuen entwickeln sich nicht allein, denn sie müssen eine Fülle von Wissen und Fertigkeiten, die von der Kultur bereitgehalten werden, bei sich aufbauen. Sie bedürfen der Hilfe von sozialen Partnern. In der Regel sieht sich das Kind Partnern gegenüber, die es zu Aktivitäten und Leistungen oberhalb des derzeitigen Entwicklungsniveaus anregen. Auf dieser „Zone nächster Entwicklung“ gelingen gemeinsam Leistungen, die das Kind allein noch nicht fertig bringt. Mit Hilfe der Mutter oder anderer Sozialpartner wird die Entwicklung angehoben. Beispiele für diesen Prozess sind die Benutzung von Werkzeugen, wie Malstift, Knet und Bausteine, der Spracherwerb, die Übernahme sozialer Verhaltensregeln und der Aufbau von Gedächtnisstrategien. Letzteres Beispiel bedarf einer Erläuterung. Um sich Inhalte einzuprägen, benutzt man Gedächtnisstrategien, wie das Wiederholen (rehearsal) und das Ordnen von Gedächtnismaterial. Diese Strategien werden von Eltern und Lehrkräften dem Kind nahegelegt, das sie dann allmählich auch allein und selbständig verwendet. In der Zone nächster Entwicklung werden also psychische Aktivitäten gemeinsam praktiziert und sind somit teilweise äußerlich, sie sind ein Vehikel des gemeinsamen Handelns. Später, wenn das Kind bestimmte Fertigkeiten allein ausüben kann, sind die Prozesse zu intrapsychischen Vorgängen geworden.



Konstruktion und Ko-Konstruktion als Entwicklungsprinzip

Lange Zeit war man der Meinung, dass Entwicklung mechanisch als Folge der Interaktion zwischen Anlage und Umwelt abläuft. Das Individuum als Akteur spielte allenfalls bei Training und Übung eine Rolle, weil es Motivation und Anstrengung aufbringen muss. Die heutige Entwicklungspsychologie stellt aber eine andere Aktivität des Individuums in den Mittelpunkt: seine Konstruktionsleistungen. Piaget (1966) konnte zeigen, dass das Kind seine physikalische und soziale Welt konstruiert und nicht als Wahrnehmungs-Abbild übernimmt. Er demonstrierte dies an physikalischen Größen, wie dem dreidimensionalen Raum, der Zeit, dem Zahlbegriff und dem Gegenstandsbegriff. Wenn man beispielsweise eine Knetkugel in eine Walze verwandelt, behauptet das Kind mit vier bis fünf Jahren, dass es nun mehr Knet sei, weil die Walze höher ist, oder auch weniger Knet, weil die Walze dünner ist. Erst mit sechs bis sieben Jahren erkennen die Kinder aufgrund logischer Operationen, die sie nun einsetzen können, die Invarianz der Masse. Generell behauptete Piaget, dass wir die physikalische Welt erkennen, indem wir ihre Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten nachkonstruieren. Die heutige Forschung bestätigt prinzipiell Piagets Grundannahme, zeigt aber zusätzlich, dass der Mensch eine Reihe von Erkenntnisleistungen schon sehr früh, also im ersten Lebensjahr, zustande bringt, wodurch spätere Konstruktionsleistungen erst möglich werden. Im nächsten Kapitel werden wir darauf noch genauer eingehen.

Ein besonders interessantes Beispiel für Konstruktion während der Entwicklung ist die Geschlechtsrollenidentifikation. WährendderKindheitundJugendmüssenMädchenoder JungensichmitihrerGeschlechtsrolleauseinandersetzenundsienachihremGustodefinieren. Vor allem aber geht es darum zu begreifen, dass man unabwendbar einem bestimmten Geschlecht angehört. Kohlberg (1974) hat die Etappen der Geschlechtsrollenidentifikation theoretisch begründet. Später wurden sie empirisch vielfältig nachgewiesen. Zunächst unterscheidet das Kind in seiner Umwelt die beiden Geschlechter und vermag sich schon zu Beginn des zweiten Lebensjahres im Regelfall selbst dem richtigen Geschlecht zuzuordnen, wobei die sprachliche Kategorisierung ,Junge, ,Mädchen‘ und die Personalpronomen ,er‘ und ,sie‘ sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund dieser Zuordnung wählt nun das Kind die Verhaltensweisen und Vorlieben aus, die zu seinem Geschlecht passen. Das erkennt man daran, dass nur solche Merkmale, die das Kind bereits verstehen kann, übernommen werden, wie Stärke und Kampf bei Jungen (Tarzan, Superman) und schönes Aussehen bei Mädchen (Prinzessin). Auf diese Weise entwickeln sich Geschlechtsstereotype, die erst allmählich aufgeweicht und modifiziert werden (Trautner 1987). Freilich gibt es auch biologisch-evolutionäre Wurzeln für geschlechtliche Präferenzen, wie wir bereits in Kap. 5 dargestellt haben.

Eine sehr umfassende Konstruktionsleistung ist der Aufbau der Identität, die wir im nächsten Abschnitt näher kennenlernen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Übernahme der Kultur als Aufbau isomorpher Strukturen zu verstehen ist, nämlich als Re- oder Nachkonstruktion der objektiven Strukturen (s. Kap. 6).

Vieles, was das Individuum von der Kultur lernen muss, vermag es nicht allein bei sich aufzubauen. Es handelt sich um komplexes Wissen und um Fertigkeiten, die der Hilfe von kompetenten Partnern bedürfen. Man halte sich vor Augen, dass das, was Kinder in der Schule lernen, Hunderte und Tausende von Jahren kultureller Entwicklung benötigt hat. Die Hilfe, die die Kinder durch Eltern und Schule erhalten, besteht nicht im Eintrichtern von Wissen, sondern im gemeinsamen Konstruieren. Eltern und Lehrkräfte sind gewissermaßen die Experten der Kultur, die mit der nachwachsenden Generation gemeinsam das Wissen aufbauen und im günstigen Falle in der Zone nächster Entwicklung operieren. Diese Ko-Konstruktion ist ein Kernstück der menschlichen Enkulturation.

Einem möglichen Missverständnis gilt es vorzubeugen. Die Bezeichnung Konstruktion und Ko-Konstruktion legt nahe, dass es sich immer um bewusste Denkleistungen oder bewusst kontrolliertes Verhalten handelt. Das wäre zu eng gesehen, denn die meisten hier genannten und angedachten Leistungen sind nicht bewusst. Dass Gehirn führt die meisten Prozesse ohne begleitendes Bewusstsein aus, zum einen, weil sie sehr rasch ablaufen, zum andern, weil sie dadurch Energie sparen.



Apprentiship, Nachahmung und Lernen durch Verstärkung

Nun gibt es Lern- und Entwicklungsprozesse, die relativ wenig mit Konstruktionsleistungen zu tun haben, aber auch Bestandteil der Enkulturation sind. Zu ihnen gehört das Lernen durch Verstärkung und die klassische Konditionierung. Dieses basale Lernen, dass

8.3 Das Individuum wird Mitglied der Kultur

wir bis weit ins Tierreich hinab beobachten können, ist auch beim Menschen tausendfach undtäglichamWerk. LernendurchVerstärkung(operanteKonditionierung)bestehtdarin, dass ein erwünschtes Verhalten belohnt und ein unerwünschtes Verhalten nicht beachtet wird (Bestrafung ist bei diesem Mechanismus nicht optimal, da sie auch als Verstärkung des unerwünschten Verhaltens wirken kann). Kinder erhalten bei erwünschtem Verhalten Lob oder materielle Belohnung. In der Schule sind Noten positive Verstärker, im Berufsleben das Geld. Ein wichtiger Verstärker ist die Belohnung durch liebevolle Zuwendung sowie Gewährung von Bindung und Schutz.

Die klassische Konditionierung arbeitet nicht an der Reaktion, sondern am Reiz. Dabei handelt es sich um Reize, die automatisch mit einer Reaktion gekoppelt sind, wie beim Reflex (Koppelung eines Reizes mit einer engumschriebenen Reaktion) und beim Instinkt (Koppelung von Reizmustern mit Reaktionsmustern). Der erste und berühmteste Versuch zum Nachweis dieses Lernens stammt von dem russischen Physiologen Pawlow. Er präsentierte einem Hund Nahrung vor seinen Augen, was bei diesem Magensekretion in Gang setzte. Daraufhin koppelte er den Nahrungsreiz mit einem Glockenton, der Bruchteile von Sekundenzuvorerklang. NacheinigenWiederholungenkamesbeimHundschonbeimErklingen des Tones ohne Präsentation der Nahrung zur Magensekretion. Beim Menschen hat man die klassische Konditionierung unter anderem beim Lidschlagreflex (ausgelöst durch einen Luftstrom) durch Koppelung mit einem neutralen Reiz (Lichtsignal) erprobt. Der berühmteste Versuch der klassischen Konditionierung wurde von Watson an einem Kleinkind mit Namen Albert durchgeführt. Watson konditionierte die Schreckreaktion des Kindes mit einem neutralen oder eher positiven Reiz nämlich einer Ratte, an der das Kind zuvor Gefallen hatte. Die Präsentation des Tieres zusammen mit dem Schreckreiz (lautes Geräusch) führte nach wenigen Wiederholungen zu panischer Angst vor dem Tier.

Eysenck (1967) hat das Prinzip der klassischen Konditionierung auf den Aufbau moralischen Verhaltens in der Gesellschaft angewandt und behauptet, dass die Moral in einer Gesellschaft während der Kindheit durch die Koppelung unerwünschten Verhaltens mit der Erregung von Angst zustande käme. Er versuchte seine Annahme durch die Unterschiede in der Konditionierbarkeit zu untermauern. Sehr leicht Konditionierbare sind überängstlich und neurotisch, normal Konditionierbare zeigen das typisch angepasste moralisch korrekte Verhalten, und schwer Konditionierbare empfinden keine Angst bei Regelübertretung, sie werden zu kriminellen Psychopathen. Diese verlockende Idee wird heute nicht mehr vertreten, dürfte aber für Extremgruppen zutreffen. Wohl aber gilt nach wie vor, dass Verstärkungslernen und klassische Konditionierung wichtige Instrumente der Sozialisation und Enkulturation darstellen.

Es gibt noch eine weitere basale Form des Lernens bei der Enkulturation. Die Nachahmung. Sie bildet vor allem in schriftlosen Kulturen die einzige Möglichkeit, beobachtetes kompetentes Verhalten zu übernehmen. Wie die übrigen Menschenaffen auch, haben wir Menschen eine neurologische Grundlage für Nachahmung, nämlich die Spiegelneuronen. Sie scheinen dafür verantwortlich zu sein, dass wir allein schon bei der Wahrnehmung von Trauer und Freude bei anderen mit den gleichen Gefühlen reagieren. Sie ermöglichen auch die motorische Nachahmung von beobachteten Handlungen. Menschliche Nachahmung trittschonkurznachderGeburtauf(MelzoffundMoore1988)undgehörtzurbiologischen Ausstattung. Die konstruktive Tätigkeit setzt ein, wenn komplexere Handlungen imitiert werden sollen, wie die Nachahmung von Wörtern und Sätzen, von Werkzeuggebrauch undWerkzeugherstellung. ImMeister-Lehrling-Verhältnis(Apprentishiplearning, Rogoff 1991) ist die konstruktive Nachahmung der wichtigste Mechanismus. Die Tendenz zur Nachahmung hat leider auch zur Folge, dass attraktive aber unsoziale Verhaltensweisen gerne imitiert werden. So übernehmen Vorschulkinder beobachtetes aggressives Verhalten selbst dann noch, wenn das aggressive Modell, das sie beobachtet haben, vor ihren Augen bestraft wird (Bandura et al. 1963). Je mehr Imitation bewusst wird, desto eher kann sie auch kontrolliert und nötigenfalls blockiert werden.


Yüklə 2,08 Mb.

Dostları ilə paylaş:
1   ...   14   15   16   17   18   19   20   21   ...   45




Verilənlər bazası müəlliflik hüququ ilə müdafiə olunur ©muhaz.org 2024
rəhbərliyinə müraciət

gir | qeydiyyatdan keç
    Ana səhifə


yükləyin