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Kulturelle Entwicklung: Formen der Vergesellschaftung



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7.2 Kulturelle Entwicklung: Formen der Vergesellschaftung

In der kulturvergleichenden Forschung geht es weniger um Erklärung der Entstehung bestimmter gesellschaftlicher Strukturen und ihres Regelwerkes, als um die Beschreibung und Einteilung von Phänomenen. Zwei Einteilungsformen sollen im Folgenden dargestellt werden: Einteilung nach Familienbeziehung und Einteilung bezüglich ökonomischer Formen der Vergesellschaftung.



Familienbeziehungen

Gruppen, soziale Verbände und Gesellschaften haben als Kern die Beziehungen in der Familie und Sippe. Segall et al. (1990, S. 8) unterscheiden dabei vier Dimensionen.



  1. Familientypen. In allen Kulturen gibt es Familien, aber sie variieren von Monogamie (ein Ehemann – eine Ehefrau), über Polygynie (ein Ehemann – mehrere Ehefrauen) zur Polyandrie (eine Ehefrau – mehrere Männer). Diese Typen von Familien sind abhängig von bestimmten Faktoren. Einer davon ist die ökonomische Basis der Gesellschaft. In Jäger- und Sammlerkulturen, ebenso wie in hochindustrialisierten Gesellschatten herrscht die Einehe vor (unabhängige Kernfamilien), in Agrarkulturen mit ausgedehnten Großfamilien und Sippen gibt es bevorzugt Polygamie.

  2. Wahl des Wohnortes bei neuen Familiengründungen. Der patrilokale Wohnort, bei dem die Söhne bei den Vätern oder in deren Nähe wohnen und die Frauen den Männern folgen, ist charakteristisch für ca. 2/3 aller Kulturen. Der matrilokale Wohnort, bei dem das neuvermählte Paar bei oder in der Nähe der Mutter wohnt, ist bei ca. 15% aller Gesellschaften zu finden (Beispiel: Minangkabau auf Sumatra). Daneben gibt es bilokale Wohnorte, wo beide Formen möglich sind, und den avunkulokalen Wohnsitz, bei dem das Paar beim mütterlichen Bruder des Ehemannes wohnt.

  3. Regeln der Abstammung. Sie beziehen sich auf die Wege, wie Mitglieder einer Gesellschaft ihre Ahnen herleiten. Hier gibt es vier Formen: patrilineale Abstammung (Herleitung von der Familie des Vaters, die weitaus häufigste Form der Bestimmung eigener Abstammung), matrilineale Abstammung (Herleitung von der Familie der Mutter), bilaterale Abstammung (Herleitung von den Familien beider Elternteile) und ambilineare Abstammung (Herleitung entweder aus der väterlichen oder der mütterlichen Familie, was zu zwei verschiedenen Formen von Genealogien führt).

  4. Verwandtschaftsstrukturen. Sie definieren, welche Personen zur engeren oder weiteren Familie gehören. Die Zahl verschiedener Verwandtschaftssysteme ist sehr groß, wobei es sehr komplizierte Systeme gibt, sodass Ethnologen das jeweilige System nach der Kultur, in der sie es vorfinden, benennen (z. B. Omaha, Sudanesisch). Was in einem System zur Verwandtschaft zählt, bleibt in einem anderen ausgeschlossen. Daher variiert auch die Bedeutung von ,Onkel‘ oder ,Vetter‘ etc.

Vier ökonomische Formen der Vergesellschaftung

Fiske (1992) versucht, die Sozialbeziehungen menschlicher Gesellschaften in vier Hauptformen zu unterteilen: Beziehungen als Teile des gemeinsamen Besitzes (a), autoritäre Rangordnungen (b), Beziehung auf der Basis von Gleichheit (3) und Beziehungen als

7.2 Kulturelle Entwicklung: Formen der Vergesellschaftung

Marktaustausch (4). Diese Einteilung ist für die Wirkung von Kultur auf individuelle Entwicklung bedeutsam, da es sich um sehr allgemeine Beziehungsstrukturen handelt, die eine Kultur gänzlich durchdringen.



  1. Die nach Ansicht des Autors einfachste Beziehungsform ist die des Teilens des gemeinsamen Besitzes. Hier nehmen sich die Mitglieder der Gruppe, was sie brauchen und geben, was sie können. Ressourcen werden als Gemeingut angesehen, unabhängig davon, was der einzelne dazu beigetragen hat. Die Mitglieder beeinflussen und imitieren sich wechselseitig und regulieren ihr Handeln nach dem Prinzip der Konformität. Moralische Normen legitimieren sich aus der Tradition der Gruppe. Das Selbst definiert sich durch Rasse, Verwandtschaft und gemeinsamen Ursprung. Urform dieser Beziehungsstruktur ist die traditionelle Familie. Man findet diese Form aber auch in Stammesgesellschaften als Stammesgemeinschaft, vor allem als Sippe, die sich durch gemeinsame Ahnen verbunden weiß. In manchen asiatischen Kulturen gibt es diese Beziehungsform auch in der Wirtschaft, z.B. in Japan, in der sich Mitglieder eines Betriebes oder Konzerns als Solidargemeinschaft und große Familie verstehen.

  2. Beziehungsstrukturen mit autoritärer Rangordnung. Besitz und Zugriff zu Ressourcen richten sich nach dem Rangplatz in der Gesellschaft/Gruppe. Höhergestellte erhalten mehr, Niedriggestellte oft nur, was übrig bleibt. Die Hochgestellten besitzen Macht und Entscheidungsbefugnis über niedriger Gestellte, haben aber auch die Verpflichtung, für sie zu sorgen. Man folgt einem charismatischen Führer. Das Selbst definiert sich als FühreroderloyalerGefolgsmann. MorallegitimiertsichheteronomausdemGehorsam derAutoritätgegenüber. AutoritäreBeziehungsformenfindensichinpatriarchalischen Großfamilien, in der antiken Tyrannis, aber auch in der traditionellen javanischen

Gesellschaft, in der genau definierte Rangplätze und damit verbundene Aufgaben und Pflichten festgelegt waren.

  1. Die Beziehungsstruktur auf der Basis von Gleichheit ist durch Reziprozität der Mitglieder in der Gruppe/Gesellschaft charakterisiert. Jedem steht das Gleiche zu. Geben und Nehmen erfolgt als gerechter Austausch in zeitlicher Verzögerung. Jede Person ist gleichwertig, was sich in den Grundrechten einschließlich des Wahlrechtes zeigt. Das Selbst versteht sich als separates, gleichberechtigtes Gruppenmitglied. Identität hängt von der Beibehaltung der Gleichheit und der Aufrechterhaltung der Verbindung zur Bezugsgruppe ab. Moral legitimiert sich durch Fairness, Gleichbehandlung und Reziprozität.

Als Beispiel neben den bei uns geläufigen Formen von Gleichheit führt Fiske die rotierende Kreditgesellschaft an, wie sie in Afrika, in der Karibik und in Asien vorkommt. In bestimmten Intervallen geben die Mitglieder jeweils gleiche Beträge und erhalten sie von Zeit zu Zeit zurück, sodass sie am Ende genau das zurückbekommen, was sie gegeben haben.

  1. Die Beziehungsstruktur des Marktwertes wird bestimmt durch Bezahlung oder Tausch für das, was man erhält. Die Verteilung von Gütern erfolgt nach Anteilen, die jemand erworben hat (Aktien, Immobilien etc.). Die Mitglieder der Gruppe (Gesellschaft) tragen anteilig zu ihrem Besitz/Einkommen mit einem festgelegten Prozentsatz bei. Arbeit wird auf der Basis von Zeit und Leistung entlohnt. Das Selbst definiert sich durch Beruf und ökonomischen Status. Identität ist ein Produkt von beruflichem und wirtschaftlichem Erfolg. Die Moral schließlich leitet sich aus universellen Prinzipien her, die utilitaristisch begründet werden. Diese Struktur findet sich in allen westlichen Kulturen mehr oder minder stark ausgeprägt. Sie erlaubt die beste Kosten-Nutzen-Relation und wird von Fiske als höchste und wohl auch wünschenswerteste Form des Zusammenlebens angesehen. Wie sich daraus eine Prinzipienmoral ableitet, wird allerdings nicht deutlich. Fiske unterliegt mit seiner Bewertung dem westlichen Ethnozentrismus und übersieht die Entfremdung des Menschen, die durch die Marktwirtschaft entsteht: Zwischen die menschlichen Beziehungen tritt die Ware als letztlich einzige, jedenfalls wichtigste Mittlerin (Marx, Ausgabe 1969–1970).

7.3 Kollektivismus und Individualismus

Sowohl bei Ethnologen als auch bei Kulturpsychologen hat sich die Unterscheidung zwischen kollektivistischen und individualistischen Kulturen eingebürgert (Triandis 1995; Hofstede 1980; Sinha und Verma 1987). Dabei schreibt man den westlichen Kulturen Individualismus und den nicht-westlichen Kulturen Kollektivismus zu. Tabelle 7.1 stellt KennzeichenvonkollektivistischenundindividualistischenKulturengegenüber(Tab.7.1).

Kollektivistische Kulturen schöpfen aus dem Zusammenhalt in der Gruppe (Familie, Sippe) und legen daher Wert auf Harmonie, Einordnung sowie Orientierung an gemeinsamen Normen. Das Selbst versteht sich als Teil des Ganzen und definiert sich durch die Gruppenzugehörigkeit. Individualistische Kulturen betonen die Wirksamkeit eigener selbständiger Leistungen. Eigene Interessen und Ziele stehen im Vordergrund. Konflikte werden nicht vermieden, sondern verhandelt, und das Selbst versteht sich als unabhängig und einmalig.

Ho und Chiu (1998) fassen die Unterscheidung zwischen Individualismus und Kollektivismus in fünf Komponenten zusammen:



Individualistische – kollektivistische Werte, Autonomie – Konformität, individuelle – kollektive Verantwortung, individuelle – kollektive Leistung und Selbstvertrauen – Interdependenz.

Die Gesamtentwicklung verläuft in individualistischen Kulturen von Abhängigkeit zu Unabhängigkeit; in kollektiven Kulturen bleibt die Abhängigkeit erhalten. Spätere Autonomie dient der Familie oder Gesellschaft, und die alten Menschen, von denen vormals die nachfolgende Generation abhängig war, werden ihrerseits von dieser abhängig. Selbst in ein und derselben Gesellschaft zeigen sich noch Unterschiede zwischen kollektiver und in-

7.3 Kollektivismus und Individualismus

Tab. 7.1 Gegenüberstellung von Kollektivismus und Individualismus

Kollektivismus

Individualismus

Betonung gemeinsamer Werte und Normen:

Kollektive Werte



Betonung individueller Bedürfnisse: Individuelle Werte

Internalisierung kollektiver Werte

Individuelle Konstruktion eines eigenen Wertsystems

Orientierung an gemeinsamen Interessen

Orientierung an eigenen Interessen

Betonung von Harmonie, Minimierung von

Konflikten



Austragen offener Konflikte, Austausch unterschiedlicher Meinungen

Teilung knapper Ressourcen

Kompetitives Ringen um Ressourcen

Meinungsbildung auf Gruppenniveau

Individuelle Meinungsbildung

Wechselseitige Abhängigkeit

Unabhängigkeit

Gruppenbezogenes Selbst

Individuelle Identität

Erkenntnishaltung: Selbst als Teil des Ganzen

Erkenntnishaltung: Selbst als einmalig und unverwechselbar

dividueller Orientierung, wenn in den Familien die ursprüngliche kulturelle Tradition weiterwirkt. Dies ist in breitem Umfang in den USA, in wachsendem Ausmaß aber auch in Deutschland und Europa der Fall. Folgendes Szenario mag diesen Sachverhalt illustrieren (zit. nach Greenfield und Suzuki 1998).

Beispiel

Probanden im späten Jugendalter (Undergraduates) wurden gefragt, wie sie sich in folgender Situation verhalten würden: Vor einer Woche warst du mit deiner Mutter beim Einkaufen. An der Kasse bemerkte sie, dass ihr 10 $ zum Bezahlen fehlten. Du liehst ihr das Geld, aber nach einer Woche zeigt die Mutter kein Anzeichen, dass sie sich an den Vorfall erinnert. Was würdest du tun?

Studenten aus Familien mit europäischer Herkunft äußerten, dass sie die Mutter in netter Weise an das geliehene Geld erinnern würden, denn sie habe es sicherlich vergessen. Studenten aus Familien japanischer Herkunft sagten, dass sie nicht nach dem Geld fragen würden, denn die Mutter habe so viel für sie getan, das sei mehr, als sie je zurückzahlen könnten. Sie seien glücklich, der Mutter Geld geben zu können.

Die Einteilung in kollektivistische und individualistische Kulturen ist dennoch sehr pauschal, obwohl sie wichtige Aspekte kultureller Unterschiede beleuchtet. Besser erscheint es, beide Konzepte nicht als einander ausschließende Dimensionen zu fassen, zumal heute in östlichen Kulturen individualistische Tendenzen durchaus eine bedeutende Rolle spielen und umgekehrt in westlichen Kulturen kollektive Orientierungen zwangsläufig ebenfalls unentbehrlich sind (z. B. bei Solidarisierung mit einzelnen oder Gruppen, innerhalb des Familienverbandes, in religiösen Gruppierungen und mit Benachteiligten).

Markus und Kitayama (1991) überführen die globale Aufgliederung in die Unterscheidung von bezogenem (interdepentem) und unabhängigem (independentem) Selbst. Das unabhängige Selbst resultiert aus den westlichen Zielen, von anderen unabhängig zu werden und seine Einzigartigkeit auszuformen. Das bezogene Selbst fußt auf der in kollektiven Kulturen geltenden Einsicht in die grundsätzliche Verbundenheit menschlicher Wesen und ihre wechselseitige Abhängigkeit. Besonders wichtig erscheinen den Autoren die Unterschiede in der erkenntnistheoretischen Haltung. Das bezogene (verbundene) Selbst (und damit die dieses Selbst erzeugende Kultur) versteht den einzelnen als Teil des Ganzen, als prinzipiell gleich mit anderen und gleich mit dem Universum. Das unabhängige Selbst betont die Einmaligkeit und damit aber auch die Andersartigkeit gegenüber dem Ganzen. Somit bestehen auch Unterschiede im Grad der Geschiedenheit (Separation) vom andern und der Welt als Ganzem.

7.4 Kulturelle Entwicklung: Der Mensch wird sesshaft; die Entstehung von Stadtkulturen

Die kulturelle Entwicklung des Homo sapiens verändert sich entscheidend mit dem Wandel seiner Lebensweise. Fast 200.000 Jahre (sofern man die frühen Formen des Homo sapiens einbezieht) lebte der Mensch als Jäger und Sammler (oft wird auch die Bezeichnung Wildbeuter verwendet). Die Gründe für diese Lebensform sind einerseits in dem Überfluss an Nahrung, andererseits in klimatischen Bedingungen zu sehen. Die menschlichen Populationen, die sich über die Erde verbreiteten, waren klein und hatten genügend Raum, Nahrung zu finde. Waren die Nahrungsquellen erschöpft oder aus klimatischen Gründen nicht mehr zugänglich, zogen die Menschen weiter und suchten sich neue Reviere. Es war nicht nötig, sesshaft zu werden und Pflanzen gezielt anzubauen. In entlegenen Gegenden der Erde gibt es heute noch Jäger und Sammler, wie wir bereits festgestellt haben. Diese Kulturen haben sich in Jahrtausenden kaum verändert, weil es nicht nötig war. In der Umwelt der Jäger und Sammler waren und sind die Ressourcen zwar auch begrenzt, aber durch kluges ökologischen Handeln, das religiös begründet wird, gelang es ihnen, bis heute zu überleben. Der wohl entscheidende Faktor war das Konstanthalten der Geburtenrate. Erst die Vergrößerung der Population macht es nötig, einen kulturellen Wandel herbei zu führen.

Der zweite Faktor ist das Klima. Bis etwa 10.000 v. Chr. herrschte in unseren Breiten die Eiszeit. Sie wurde zwar immer durch warme Zwischeneiszeiten unterbrochen, doch reichte dies wohl nicht für einen kulturellen Wandel aus. Als sich die Temperaturen zu einem warmen bis mäßigen Klima änderten, waren die Voraussetzungen geschaffen, über andere Möglichkeiten der Nahrungsgewinnung nachzudenken. Die Veränderung in Richtung Subsistenzwirtschaft bewegte sich auf zwei Pfaden. Der eine nutzte die Züchtung von Tieren, der andere führte zum Anbau von Getreide, Gemüse und Früchten. Der Anbau von Pflanzen begann im Nahen Osten. Dort erwärmte sich das Klima bereits ab 13.500 v.

7.4 Kulturelle Entwicklung

Chr. Es gab um diese Zeit bereits dörfliche Gemeinschaften, die aber noch von der Jagd, Fischerei und von dem Sammeln von Wildpflanzen lebten. Das Biotop war paradiesisch. Es gab genügend Wildgetreide, sodass man noch nicht gezielt anbauen musste, und es gab genug Wild in der Umgebung. Daher brauchten die Menschen nicht mehr weiter zu ziehen und wurden sesshaft. Nach Gronenborn (2009) veränderte sich dort das Klima zum Schlechteren. Das abtauende nordamerikanische Eisschild unterbrach den Golfstrom und in Europa und im Nahen Osten wurde es wieder kalt. Die bei uns lebenden nicht sesshaften Jäger und Sammler konnten sich leichter umstellen als die bereits sesshaften Bewohner des Orients. Gronenborn vermutet, dass die Not sie zwang, das vorher in Hülle und Fülle vorhandene Wildgetreide nun anzubauen, weil in freier Wildbahn nicht mehr genug zur Verfügung stand bzw. der einholbare Sammelertrag zu sehr schwankte.

Weiß und Wehrmann (2010) charakterisieren die Entwicklung zu Ackerbau und Viehzucht als neolithische Revolution. Um 9.500 v. Chr. hat sich der Golfstrom wieder stabilisiert und seine segensreiche Wirkung mit einer kurzen Unterbrechung um 6.200 v. Chr. bisheutebehalten. AbdiesemZeitpunktgibteseinerasanteEntwicklung. Esentstehen im Nahen Osten im „fruchtbaren Halbmond“, kulturelle Zentren mit aufwendiger Architektur. Zunächst überwiegen immer noch Sammler und Jäger, aber die Landwirtschaft verbreitet sich. Wie Gronenborn in seinem Überblicksartikel darstellt, waren Ziegen und Schafe die ersten Tiere, die auf der Weide gehalten wurden. Das Rind folgte erst später. Die Viehzucht wurde noch nomadisch betrieben. Wir finden schon um 6.000 v. Chr. in Süditalien, Südfrankreich und auf der iberischen Halbinsel die Mischform zwischen Jagd, Viehzucht und Anbau (sog. Cardialkultur). Aus Bodenanalysen und anderen Anzeichen (keine Ackergeräte) ergibt sich, dass um diese Zeit nirgends größere Flächen bebaut wurden. Daher geht man davon aus, dass Getreide und Gemüse nur in Gärten gezogen wurden. Die Ausbreitung des Anbaus von Getreide und Hülsenfrüchten erfolgte vom Vorderen Orient. Die Bauern aus dem „fruchtbaren Halbmond“ (s. Abb. 7.1) wanderten über die heutige Türkei nach Griechenland und besiedelten auch die Inseln. Als nächstes ist ihre Anwesenheit und die Übernahme ihres Wissens im Karpatenbecken (Ungarn und Rumänien) um 6.200–6.000 v. Chr. nachweisbar. Sie ist mit der Bandkeramik-Kultur verbunden. Die Keramik dieser Bevölkerung wies typische Linien und Bänder auf, nach denen diese Kultur benannt wurde. Die Bandkeramik breitete sich dann ziemlich rasch nach Nordwesten aus, und gleichzeitig finden wir ab etwa 5.600 v. Chr. Ackerbau und Viehzucht, verbunden mit Jagd, in ganz Mitteleuropa. Genetische Untersuchungen an Mitochondrien, die wir bereits beim Stammbaum der Eva kennengelernt haben, zeigen allerdings, dass die Cardialkultur auf eine andere Bevölkerungsgruppe zurückgeht als die Bandkeramik-Kultur. Die Cardialkultur hat sich vermutlich direkt von Griechenland oder dem Orient über Boote an den Küsten des westlichen Mittelmeeres ausgebreitet.

Da der Anbau zunächst nur sehr kleine Flächen umfasste, kamen Forscher zu der Hypothese, dass nicht Brot das erste Produkt aus Getreide war, sondern Bier. Reichholf (2012) von der Universität München hat diese Hypothese ausgebaut. Er argumentiert, dass Bier zunächst aus Wildgetreide hergestellt wurde und man erst dann allmählich kleine Flächen anbaute. Die Körner des Wildgetreides seien so klein gewesen, dass sie nicht als Aus-



Abb. 7.1 Entstehung der Sesshaftigkeit in verschiedenen Regionen der Erde. Die Zahlen geben die Jahre vor unserer Zeitrechnung an. Am frühesten wurde die Menschen im Vorderen Orient sesshaft (rot gekennzeichnet). (Zeitangaben von Geo special 2010. S. 133. Weltkarte übernommen aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Winkel-tripel-projection.jpg)

gangsmaterial für Mehl und Brot hätten dienen können. Hingegen war die Herstellung des Bieres einfach. Es genügte, eine geringe Menge Getreidekörner zu zerstampfen, reichlich Wasser und etwas Speichel hinzuzufügen – und die alkoholische Gärung begann von selbst. Das primitive Bier war zwar leicht verderblich, aber es schmeckte angenehm süß und war noch dazu ziemlich nahrhaft. Die Nutzung des Getreides für Brot ist viel komplizierter. Sie erfordert größere Anbauflächen, Zugtiere und Ackergeräte, Mühlen oder andere Vorrichtung zum Mahlen und schließlich die Technik des Brotbackens selbst. Diese Hypothese hat vieles für sich, weil die Herstellung von Bier dann unabhängig von den späteren Bauern oder dem durch Handelsverkehr übermittelten Wissen erfunden worden sein könnte. Allerdings bleibt die Besiedelung Europas durch Bauern aus dem Orient als Faktum bestehen. Es gibt jedoch viele Archäologen, die das Aufkommen der Landwirtschaft als eigene Leistung der jeweiligen Ureinwohner ansehen. Die Anregung und ein Teil des Wissens mag zwar durch den orientalischen Einfluss verursacht worden sein, doch seien die Sesshaftigkeit und die Landwirtschaft eine eigene kulturelle Entwicklung der Urbevölkerung gewesen. Dann aber wird die Bier-vor-Brot-Hypothese wahrscheinlich. Reichholf argumentiert von einer kulturellen Perspektive aus. In einer Umwelt voller Überfluss an Nahrungsmitteln, wie es der fruchtbare Halbmond bildete, stand nicht die Sorge um Nahrung im Vordergrund, sondern das gemeinsame Feiern im Rauschzustand. Bei solchen Anlässen kam es nach Ansicht von Reinholf zum Austausch von Getreidesor-

7.5 Die Ausbreitung der Sprachen

ten und zu Anbauversuchen. Schließlich habe man auch bessere Getreidesorten gezüchtet, die für die Brotgewinnung geeignet waren.

Wie es auch immer gewesen sein mag, Sesshaftigkeit und Etablierung der Landwirtschaft bedeuten einen grundsätzlichen kulturellen Wandel. Nun können komplexere soziale Gebilde entstehen. Stadtsiedlungen und Staatenbildung sind jetzt auf Dauer möglich. Die bäuerliche Gesellschaft erfordert eine arbeitsteilige Struktur. Davon sind in erster Linie die Frauen betroffen. Sie verlieren an Status, weil sie durch die Pflege und Aufzucht der Kinder nun stärker an das Haus und die häuslichen Tätigkeiten gebunden sind. In Freibeutergesellschaften besteht größere Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, was sich noch heute in den verbliebenen Jäger- und Sammlergesellschaften zeigt.

Sesshaftigkeit hat sich unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen der Erde gebildet. Abbildung 7.1 zeigt im Überblick, wo sie entstanden ist.



7.5 Die Ausbreitung der Sprachen: Verzahnung von Biologie und Sprachgemeinschaft

Ausbreitung der Weltsprachen

Sprache wird von vielen als das eigentliche Trennkriterium zwischen Tier und Mensch angesehen. Sicherlich sind Sprache und Kultur aufs engste miteinander verbunden. Die Vielfalt der menschlichen Sprachen spiegelt die Vielfalt der menschlichen Kulturen wider. Lange Zeit haben die Sprachforscher biologische Aspekte nicht beachtet, denn Sprache ist ja schließlich ein Kulturphänomen, das wenig mit genetischen Komponenten zu tun hat, mit Ausnahme unserer generellen genetischen Ausstattung für Sprache (Chomsky (1999): „Language Acquisition Device“, abgekürzt LAD). Es zeigt sich jedoch, dass es eine erstaunlich gute Entsprechung zwischen genetischer Verwandtschaft und Sprachverwandtschaft gibt.

Beginnen wir mit der genetischen Verwandtschaft (s. Abb. 7.2, S. 150). Die ältesten Ahnen sind, wie schon oft konstatiert, afrikanisch. Früh tritt in den Ahnen die asiatische Linie hinzu, die sich in nord- und südostasiatisch aufspaltet. Letztere Gruppe teilt sich auf in Festlandbewohner und Inselbewohner südlich des Festlandes sowie Bewohner der pazifischen Inseln, Australiens und Neu-Guineas. Die nordeurasische Gruppe verzweigt sich in kaukasoid (zu der wir gehören), amerikanisch (Ureinwohner von Nord- und Südamerika) und nordostasiatisch.

Letztere Gruppe führt zu den Asiaten (z. B. Japaner, Mongolen, Tibeter) und den arktischen Völkern (Inuit, Tschukten). Verfolgen wir unsere genetischen Verwandtschaftspfade, sofindenwirunsalsEuropäerimgemeinsamenBootmitIranern, Sardenund Indern. Diese Gruppen haben als gemeinsame Sprachfamilie das Indogermanische. Ähnliche Entsprechungen gibt es bei anderen Sprachfamilien und genetisch näher verwandten Gruppen.





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