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Abb. 7.2 Zusammenhang zwischen genetischer Verwandtschaft und Sprachfamilie (Kirschner, Richter und Wagner, GEOWISSEN. Nr. 40, S. 91). (mit freundlicher Genehmigung von Picture Press GmbH Hamburg)

7.5 Die Ausbreitung der Sprachen

Abb. 7.2 (S. 150) ordnet Sprachfamilien und genetische (ethnische) Verwandtschaft einander zu. Auf der rechten Seite befinden sich die Sprachfamilien, auf der linken die ethnischen Gruppen. Die Korrespondenz ist augenfällig. Daran ist natürlich nichts Geheimnisvolles. Verwandte Gruppen lebten gemeinsam an bestimmten Orten der Welt und entwickelten als Gesellschaften ihre jeweilige Sprache. Bemerkenswert ist nur das Resultat, nämlich dass hinter einer Sprachfamilie eine genetische Gemeinsamkeit steht und dass Unterschiede zwischen Sprachen in vielen Fällen auch genetische Unterschiede bedeuten. Die Erklärung ist in diesem Falle nicht, dass bestimmte Gene bestimmte Sprachen erzeugen, sondern schlicht, dass genetische Verwandtschaft meist die Grundlage für eine ethnische Gruppe bildet, die, besonders bei Isolation, eine eigene Kultur und Sprache entwickelt (Abb. 7.2).

Ausbreitung der indogermanischen Sprachen

Auch bei der Ausbreitung der indogermanischen Sprachfamilie nutzt man genetische Analysen zur Klärung der Frage, wie und wann sie sich ausgebreitet hat. Die indogermanische oder auch indoeuropäische Sprachfamilie reicht von Sri Lanka bis Island. Ruth Berger (2010) hat den jetzigen Stand der Forschung sorgfältig und kritisch zusammengefasst. Es gibt in der Hauptsache zwei rivalisierende Thesen zur Verbreitung des Indogermanischen. Die eine These nimmt an, dass es durch Steppenvölker der Kupferzeit in Südrussland verbreitet wurde (Marija Gimbuta, zit. nach Berger 2010). Dafür spricht, dass sich das Indogermanische sowohl nach Westen als auch nach Osten ausgebreitet hat und sich die indoiranische Sprachfamilie von den europäischen Sprachen getrennt hat. Für diese These spricht auch, dass das Indogermanische sehr früh in der Schwarzmeerregion anzutreffen war. Die dortigen Flussnamen Don, Donez, Dnjepr, Dnjestr, Donau enthalten das altkeltische und altpersische Wort für Fluss: Danu. Die zweite These nimmt an, dass die anatolischen Bauern durch ihre Wanderbewegungen das Indogermanische verbreitet hätten, wobei Alt-Hethitisch die Ursprache gewesen sei (Colin Renfrew, zit. nach Berger 2010).

Genetische Analysen aus Gräbern zeigen, wie oben schon erwähnt, die Wanderbewegungen der anatolischen Bauern. Die Bandkeramiker wiesen in dem untersuchten mitochondrialen DNA-Abschnitt ein völlig anderes Bild auf als die Jäger und Sammler in dem gleichen Gebiet, sodass man ihre Zuwanderung mit einiger Sicherheit postulieren kann. Dennoch sind die genetischen Analysen, die sich vorwiegend auf die nur bei Frauen vorhandene DNA der Mitochondrien gründen, mehrdeutig. Hinzu kommt, dass sich die bei den steinzeitlichen Jägern und Sammlern aufgetretenen Varianten der mitochondrialen DNA in Europa noch heute finden. Für die Ausbreitung der Sprache ist das kein Hinderungsgrund, für die Ausbreitung der Landwirtschaft durch Einwanderer jedoch sehr

wohl.


Man hat die Wurzeln der indogermanischen Sprache auch mit der technischen Entwicklung in Verbindung gebracht. Rad und Achse wurden vor etwa 6.000 Jahren erfunden. Sofern sich die Begriffe von Rad und Achse in allen indogermanischen Sprachen wieder-



Abb. 7.3 Entwicklung indogermanischer Sprachen und geschätztes Alter der jeweiligen Verzweigung. (Rolf Oerter, nach Daten von Atkinson et al. 2005)

finden, kann die Aufspaltung des Indogermanischen in Sprachfamilien erst später erfolgt sein. Dagegen versuchen die Vertreter einer früheren Aufspaltung des Indogermanischen die Ähnlichkeit mit Entlehnungen (von der Kultur, in der das Rad erstmals auftaucht) oder Parallelbildungen zu erklären.

Besonders interessant ist die Nutzung von statistischen Methoden bei der Ausbreitung des Indogermanischen. Dabei verarbeitet der Computer Listen des Grundwortschatzes jeder indogermanischen Sprache. Dann wird die Dauer errechnet, die nötig ist, bis in einer Sprache ein Wort durch eines mit anderer Herkunft ersetzt worden ist. Auf diese Weise kann man schätzen, um welche Zeit sich Sprachen und ganze Sprachfamilien getrennt haben. Abbildung 7.3 zeigt das Ergebnis einer solchen Berechnung. Es stammt von Atkinson und Mitarbeitern (2005). Der Stammbaum bringt nur eine Auswahl der heutigen indogermanischen Sprachen. Legt man andere Parameter zugrunde (z. B. beschleunigte Übernahme neuer Wörter), kommt man zu anderen Ergebnissen. Bedeutsam an den statistisch ermittelten Stammbäumen ist jedoch, dass die Schätzung der Aufspaltung des Indogermanischen viel früher liegt, als das bisher die Sprachforscher angenommen haben. Nach der Abb. 7.3 erfolgte beispielsweise die Abspaltung der anatolischen Sprachen bereits vor 9.000 Jahren, während die Schätzung nach der Methode des Auftretens der Sprachbezeichnung für Rad und Achse nur 6.000 Jahre für die Aufspaltung ergibt.

7.6 Kultureller Entwicklungsschub

Nicht nur die ethnische Zusammengehörigkeit, sondern auch physikalische Umweltbedingungen scheinen die Sprache mit zu formen. Caleb Everett hat nachgewiesen, dass die Höhenlage der Bewohner Einfluss auf die Konsonantenbildung nimmt. Bewohner in bestimmten Erdregionen über 1.500m, wie in den nordamerikanischen Kordilleren, auf den Hochebenen im Südosten Mexikos und entlang des Ostafrikanischen Grabens, benutzen gehäuft ejektive Konsonanten. Das sind Mitlaute, bei deren Erzeugung die Stimmritze geschlossen bleibt und zu deren Erzeugung nicht aus- oder eingeatmet werden muss. Stattdessen wird in der Rachenhöhle eine Lufttasche gebildet und die Luft komprimiert. Dieser Prozess ist in dünner Luft leichter zu bewerkstelligen als auf Meereshöhe. Außerdem wird bei ejektiven Konsonanten der Feuchtigkeitsverlust reduziert, was der Anpassung an größere Höhen dienlich sein könnte. Allerdings verwenden die Bewohner von Tibet keine ejektiven Konsonanten. Das Leben in größerer Höhe bedingt also nicht zwangsläufig die Herausbildung dieser speziellen Mitlaute (Plos One, Bd. 8,S.e65275, 2013).

7.6 Kultureller Entwicklungsschub: Schriftsprache verändert das Denken

Havelock (1980) behauptet, dass die Einführung des Alphabets die Denkweise einer Gesellschaft radikal verändert, und Klix (1980) sieht durch diese Leistung einen qualitativen Sprung in der kulturhistorischen Entwicklung des Denkens erreicht.

Im schulischen Lernen wird die Handhabung der Sprache durch die Einführung der Schriftsprache bewusster und planvoller. Eine Aussage kann nochmals überprüft, und eine Folge von Aussagen nach rückwärts verfolgt werden (Olson 1986; Erickson 1984). Dadurch wird Sprache als „logische Gattung“ (Hymes 1974; Erickson 1984) wichtig, denn wesentlich klarer als bei der gesprochenen Sprache können logische Beziehungen herausgearbeitet werden. Olson (1995) geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist Schrift nicht Übertragung von Sprache in Buchstaben, sondern ein Begriffsmodell für Sprache. Durch die Schrift lernen Kinder, dass Sprache aus Wörtern besteht und dass sich Wörter aus Silben und Phonemen zusammensetzen. Durch die Schrift wird sich der Mensch der Sprache bewusst, er baut ein „deklaratives Wissen“ über die Struktur der Sprache auf. Auf diese Weise erwirbt er metalinguistische Fähigkeiten. Aber die Schrift repräsentiert nicht die Bedeutung von Sprache, diese muss durch einen aktiven Interpretationsakt oder eine Konstruktionsleistung erst vom Leser hergestellt werden.

Aussagenlogik

Die Schule vermittelt insgesamt ein Wissen, das anders geordnet ist als das Alltagswissen, nämlich logisch-wissenschaftlich. Damit wird dieses Wissen aus der Alltagserfahrung herausgelöst, „dekontextualisiert“. Lesen von Texten unterstützt diese Dekontextualisierung, weil Wissen in immer wieder neue Zusammenhänge eingefügt wird. Die Fähigkeit zur Dekontextualisierung zusammen mit der Handhabung der Sprache als logischer Gattung ermöglicht, logische Schlüsse unabhängig von konkreten Inhalten zu ziehen. Eine Reihe von Untersuchungen befasst sich mit dieser Fähigkeit in verschiedenen Kulturen. Als typisches Denkproblem verwendet man den Syllogismus, der aus zwei Prämissen und einer Schlussfolgerung (Conclusio) besteht.



Beispiel

Beispiel (Scribner 1984): Alle Menschen, die Häuser besitzen, bezahlen eine Haussteuer (Prämisse 1). Boima bezahlt keine Haussteuer (Prämisse 2). Besitzt Boima ein Haus? (Frage nach der Schlussfolgerung).

Es zeigt sich, dass solche Syllogismen umso besser beantwortet und verstanden werden, je länger der Schulbesuch der Befragten war. Während Probanden ohne Schulbildung Antworten auf dem Zufallsniveau geben (50% richtig), steigt die Zahl der richtigen Antworten mit den Jahren des Schulbesuchs an. Die Hauptursache für falsche Antworten liegt weniger in der Unfähigkeit logisch zu denken, als vielmehr in der Art der Erklärung. Bei Personen (Kindern wie Erwachsenen) ohne Schulbildung sind die Begründungen „empirisch“, sie stammen aus dem Erfahrungskontext der Befragten. Sie sagen etwa: „Wenn Boima kein Geld besitzt, kann er nicht zahlen“ oder: „Ich kenne Boima nicht, daher weiß ich nicht, ob er ein Haus besitzt.“ Personen mit syllogistisch richtigen Lösungen geben „theoretische“ Erklärungen, wie etwa: „Wenn du sagst, Boima bezahlt keine Haussteuer, kann er kein Haus besitzen.“

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Tulviste (1979), der bei den Nganassan in Taimin (im Norden von Russland) zeigen konnte, dass Syllogismen, die sich auf schulische Inhalte beziehen, besser gelöst werden als solche, die dem außerschulischen Alltag entnommen sind.

Beispiel für einen schulstoffbezogenen Syllogismus: Alle Edelmetalle rosten nicht. Molybdän ist ein Edelmetall. Rostet Molybdän oder nicht?

Beispiel für einen alltagsbezogenen Syllogismus: Saiba und Nakupte trinken ihren Tee immer zusammen. Saiba trinkt um 3 Uhr Tee. Trinkt Nakupte um 3 Uhr Tee oder nicht?

Scribner (1984) fasst die Ergebnisse zum logischen Denken in drei Punkten zusammen:


  • In traditionellen Kulturen ohne Schulbildung gibt es nur Zufallstreffer für richtige Schlussfolgerungen bei Syllogismen.

  • Innerhalb einer Kultur gibt es große Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Schulbildung.

  • Schulbildung ist entscheidender für das Verständnis von Syllogismen als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur.

7.7 Die Suche nach kulturellen Universalien

Der Zusammenhang zwischen Schulbildung und aussagenlogischem Denken bestätigt sich auch bei den formal-logischen Operationen sensu Piaget. Jugendliche in weiterführenden Schulen erreichen das Niveau der formal-logischen Operationen viel häufiger als Jugendliche mit niedriger Schulbildung (Prince 1968; Phils und Kelly 1974). Nach Kohlberg und Gilligan (1971) liegt der Prozentsatz der Personen, die dieses Niveau zeigen, in westlichen Kulturen zwischen 30 und 50%. Das formal-logische Denken wird im nächsten Kapitel näher beschrieben.



Zusammenfassendlässtsichfesthalten Durch die Schrift wird sich der Mensch der Sprache bewusst, er baut ein „deklaratives Wissen“ über die Struktur der Sprache auf, das heißt, er kann bewusst über Sprache verfügen, sie zergliedern und planvoll neu zusammen setzen. Auf diese Weise erwirbt er „metalinguistische“ Fähigkeiten. Er spricht nicht nur über Sachverhalte und Befindlichkeiten, sondern auch über die Sprache selbst, sie wird zum Gegenstand seiner Reflexion. Aber die Schrift repräsentiert nicht die Bedeutung von Sprache, diese muss durch einen aktiven Interpretationsakt oder eine Konstruktionsleistung erst vom Leser hergestellt werden. Hunderttausend Jahre lang kamen die Menschen ohne Schrift aus. Den bedeutungsvollen Schritt zur Schriftsprache vollzogen sie erst in historischer Zeit (Bilderschrift der Sumerer, Hieroglyphen der Ägypter, Buchstabenschrift der Phönizier und Griechen). Wenn Kinder in wenigen Jahren die Schriftsprache erwerben, so vollziehen sie also einen gewaltigen kulturellen Schritt. Da in Deutschland 10 bis 15% der Kinder und Jugendlichen Analphabeten sind, bedeutet dies, dass ihre Enkulturation frühzeitig in einem wichtigen Bereich gestoppt wurde und dass ihnen zeitlebens eine Fülle von Erkenntnissen verschlossen bleibt. Sie fallen gewissermaßen um Jahrtausende zurück!

7.7 Die Suche nach kulturellen Universalien

Menschen haben eine gemeinsame evolutionäre Vergangenheit. Ihre genetische Diversivität ist (mit Ausnahme von afrikanischen Populationen) gering. Und dennoch sind Tausende von unterschiedlichen Sprachen und Kulturen entstanden. Ethnologen und Kulturpsychologen betonen gerne die Unterschiede zwischen den Menschen verschiedener Kulturen und heben die Besonderheit und die Einmaligkeit einzelner von ihnen untersuchten Kulturen hervor. Man kann aber auch den umgekehrten Weg einschlagen und nach Gemeinsamkeiten in dieser riesigen Vielfalt menschlicher Lebens- und Denkformen suchen, also nach kulturellen Universalien. Dies erscheint aus zwei Gründen erforderlich, einem praktischen und einem theoretischen. Der praktische Grund ist die immer wichtiger werdende Verständigung zwischen Kulturen und Nationen, die im Zuge der Globalisierung notwendig wird. Die Kenntnis und Berücksichtigung von Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kulturen kann dabei helfen. Der theoretische Grund für die Suche nach Universalien ist die gemeinsame Herkunft des Menschen, die sich über alle Ausfaltungen der Kultur hinweg durchsetzen muss. Es sollte neben biologischen Gemeinsamkeiten auch eine besondere Merkmalsstruktur des Menschen geben. Seine Fähigkeit zu denken und zu planen, Sachverhalte symbolisch darzustellen und gedanklich in der Zeit vorwärts und rückwärts zu reisen sind Beispiele für gemeinsame Merkmale.

Antweiler (2009) hat sich seit Langem mit dem Thema Universalien auseinandergesetzt und sie gesammelt. Man könnte versucht sein, die kulturellen Gemeinsamkeiten auf die Evolution zurückzuführen. Antweiler kann jedoch zeigen, dass viele Universalien nicht unmittelbar mit der gemeinsamen Biologie (genauer: der biotischen Grundlage) des Menschen zu tun haben, sondern durch andere Ursachen entstanden sein können. So haben Kulturen, die benachbart lagen, eine Erfindung übernommen. Haustierhaltung, Viehzucht haben sich von einem Ort aus, in Europa z.B. von Mesopotamien, ausgebreitet. Universalien können also verschiedene Ursachen haben. In Tab. 7.2 wird eine Systematik der Entstehung von Universalien geboten. Sie erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit, noch kann man sie als eindeutig festliegende Ursachenaufklärung geltend machen.

Universalien, die aus unserer Evolution stammen, sind in Tab. 7.2 als Erstes aufgeführt, weil sie die Basis für weitere non-evolutionäre Universalien bilden. Von der Theory of Mind wird noch die Rede sein, ebenso ist dem Spiel ein eigenes Kapitel gewidmet. Ob das Inzesttabu tatsächlich auf evolutionärer Basis beruht, ist fraglich, denn es widerspricht streng genommen dem Prinzip Eigennutz und Gen-Egoismus (Voland 1988). Enge Verwandte könnten die eigenen Gene durch Paarung optimal weitergeben. Für das Inzesttabu spricht unter Umständen das Prinzip der genetischen Fitness, die bei Inzucht verloren gehen kann.

Der Nepotismus, der auch noch in jüngster Zeit eine Plage für viele Gesellschaften ist, leitet sich insofern aus der Evolution her, als es darum geht, die eigenen Verwandten – und zwar in der Reihenfolge ihrer genetischen Nähe – zu unterstützen. Hier gilt die Hamilton-Ungleichung (s. Kap. 5).

EthnizitätundEthnozentrismuswärendanndieFortsetzungdieserArgumentation. Die genetische Verwandtschaft innerhalb einer Ethnie ist größer als zwischen verschiedenen Ethnien. AuchwennderGen-EgoismusdieindividuelleSelektionbevorzugt, istdieChance der Genweitergabe in genetisch ähnlichen Gruppen größer, als wenn ein Individuum in einer fremden Gruppe leben würde.

Warum aber die romantische Liebe zu den evolutionären Universalien gezählt wird, scheint zunächst nicht einleuchtend. Viele Ethnologen behaupten ja gerade umgekehrt, dass die romantische Liebe in den meisten Kulturen für die Paarbeziehung und Familiengründung keine Rolle spielt, selbst wenn es sie dort geben sollte. Romantische Liebe als Universalie wird als Folge (und Interpretation) sexueller Attraktion verstanden. Sie rührt von Geschlechtsmerkmalen her, die den Partner oder die Partnerin als besonders attraktiv erscheinen lassen. Dies wird uns in einem späteren Kapitel über Ästhetik noch beschäftigen.

Universalien auf biotischer Basis haben mit Ausnahme rein körperlicher Veränderung (Pubertät) und frühkindlicher Entwicklung (Bindung) ein Kausalproblem. Entsteht die Universalie als direkt genetisch gesteuertes Verhalten oder wird sie als gelernte Erfahrung in das kulturelle Gedächtnis eingespeist? Kommt der Ethnozentrismus aus Erfahrung, die

7.7 Die Suche nach kulturellen Universalien

Tab. 7.2 Beispiele für Universalien (zum großen Teil übernommen aus Antweiler 2009), Versuch einer Einteilung

Evolution

Gemeinsamer Gegenstandsbezug

Fremdeln

Bindung und Exploration

Theory of Mind

Pubertät als Zeit starker körperlicher Veränderungen

Spiel

Sprache


Sexualität und Sexualverhalten

Nepotismus

Ethnizität und Ethnozentrismus

Romantische Liebe als Konzept

Inzesttabu?

Entwicklungs- und Lebensaufgaben

Riten und Rituale bei kritischen Lebensereignissen (Hochzeitsriten, Initiationsriten, Begräbnisrituale)

Religion oder religionsähnliche Überzeugungen

Genderrollen, -status, -ideale

Alterskategorien

Alltagsbewältigung, Ähnlichkeit der Lebens- und Umweltprobleme, Sicherung des Zusammenlebens in Gesellschaften

Zeitkonzept (als Pfeil oder als Kreislauf)

Verhütungstechniken

Magie-Konzepte

Anthropomorphe Konzepte

Religion als gesellschaftliches Legitimations- und Stabilisierungsprinzip

Ethik und gesellschaftliche Verhaltensvorschriften

Wettervorhersage-Techniken

Musik, Tänze, Performanzformen

Kunst als „making special“

Höflichkeit, z.B. mittels langer Einführung bei Reden

Diffusion

Früher Ackerbau (in benachbarten Regionen)

Ausbreitung und Übernahme von Nutztieren (Pferd, Kamel)

Ausbreitung von Ess- und Trinkgewohnheiten (Kaffee, Alkohol, heute: MacDonald)

Ausbreitung des Rades.

Moderne Technik: Autos, Fernsehen, Computer, Handys



Tab. 7.2 (Forsetzung)

Ähnlichkeiten, die auf physikalischen und sachlogischen Gesetzmäßigkeiten beruhen

Pyramidenbau, der unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen entsteht

Gleichzeitiges Aufkommen des Ackerbaus in weit voneinander entfernten Regionen

Ähnlichkeit gesellschaftlicher Strukturen in komplexen Gesellschaften, wie Verwaltung, Recht, soziale Schichtung (Ultrasozialität)

den Fortpflanzungsvorteil erkannt und kulturell weitergegeben hat oder ist er ein genetisch verankertes Prinzip?

Eine Wurzel für Universalien bildet sicherlich die Gleichheit oder Ähnlichkeit von Entwicklungs- und Lebensaufgaben, die in allen Kulturen existieren. In jeder Ethnie bzw. Gesellschaft gibt es Geburt, Erwachsenwerden, Wahrnehmung von Erwachsenenaufgaben und Tod. Religion kann hierbei als Form und Technik der Lebensbewältigung gelten.



7.8 Akkulturation als Problem der Gegenwart

Wir haben den Begriff der Akkulturation bereits im letzten Kapitel kennengelernt. Er beinhaltet den Aufbau einer neuen kulturellen Identität, die sich in Auseinandersetzung mit der bisherigen Enkulturation sowie der dabei entwickelten Identität und den neuen kulturellen Einflüssen bildet. In einer globalisierten Welt stellt Akkulturation für viele Menschen eine neue Entwicklungsaufgabe dar. Akkulturation ist beispielsweise bei Migranten und bei Flüchtlingen eine solche Entwicklungsaufgabe, betrifft aber mehr und mehr alle Menschen, da die beruflichen Anforderungen längere Auslandsaufenthalte mit sich bringen und da Teams international zusammengesetzt sind, sodass unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen. Der im Zuge der Globalisierung erfolgende kulturelle Austausch, aber auch Imperialismustendenzen sind heute so allgegenwärtig, dass Akkulturationsprozesse auch für Bevölkerungsgruppen, die keine lokalen Veränderungen vornehmen und nicht fremden politischen Mächten unterworfen sind, zum Normalfall werden.

Betrachtet man das Ergebnis der Akkulturation, so lassen sich mit Berry (1988) vier Formen unterscheiden, die in Tab. 7.3 zusammengefasst sind. Werden beide Kulturen für wertvoll erachtet, so kommt es zur Integration, die kulturelle Identität verbindet beide Kulturen zu etwas Neuem. Bei der Missachtung bzw. Abwertung einer der beiden Kulturen entstehen Lösungen, bei denen die kulturelle Identität nur eine der beiden Kulturen assimiliert. Im Falle der einseitigen Beibehaltung der Ursprungskultur zeigt sich das als SeparationundSegregation. WerdenbeideKulturennichtfürwertvolloderattraktivgehalten, geraten die Individuen in Isolation und erfahren damit eine Marginalisierung. Diese ist mit einem Zustand der Anomie (Verneinung der Werte und Gesetze beider Kulturen) oder hoher Individualität (nur die eigenen Wertvorstellungen und Ziele zählen) verbunden.

7.8 Akkulturation als Problem der Gegenwart



Tab. 7.3 Vier Formen der Akkulturation (Berry, 1988)

Die eigene Kultur wird als wertvoll angesehen









Ja

Nein

Die fremde Kultur wird als wertvoll angesehen

Ja

Integration

Assimilation

Nein

Separation

Isolation

Tab. 7.4 Verschiedene Formen von Akkulturation hinsichtlich der Beziehung zwischen Kulturen (Silbereisen et al. 1999)

Massenbewegungen: von der

Ursprungskultur zum Gastland

Freiwillig:

Einwanderung



Vorübergehend: Gastarbeiter dauerhaft: neue Heimat




Unfreiwillig: Flüchtlinge

Vorübergehend: Land als Zwischenstation dauerhaft neue Heimat




Unfreiwillig:

Zwangsumsiedelung



Vorübergehend: Rückwanderung dauerhaft: neue Heimat

Individuelle Bewegung

Privat

Freiwillig: Auswandern aus persönlichen oder politischen Gründen unfreiwillig: Asylsuche




Beruflich

Vorübergehend: Aufenthalt im

Gastland im Auftrag einer Firma oder als politischer Rollenträger dauerhaft: wirtschaftlich oder politisch langfristige Aufgaben



Kulturimperialismus und kultureller Austausch

Unfreiwillig: unidirektional

Eroberung oder Majorisierung der Urbevölkerung




Freiwillig:

unidirektional und bidirektional



Übernahme attraktiver kultureller Angebote aus anderen Kulturen (z. B.

Nahrungsgerichte, Technik, Musik



Je nach der Richtung der Akkulturation sind unterschiedliche Prozesse der Anpassung und Verarbeitung am Werk. Tab. 7.4 verdeutlicht fördernde und gefährdende Bedingungen für Akkulturation sowie Verarbeitungsprozesse beim Individuum (übernommen in der Fassung von Silbereisen et al. 1999). Wird Anpassung nur als Erwerb von Fertigkeiten verlangt, so lässt sich dies für Immigranten oder Berufstätige in internationalen Produktions- oder Servicesystemen bewerkstelligen. Verlangt die Akkulturation jedoch eine umfassende Neuausrichtung, so tritt zur Herausforderung die Belastung und erfordert Leistungen der Stressbewältigung.

Entscheidend für das Gelingen der Akkulturation sind Moderatoren vor und während des Anpassungsprozesses. Stehen z.B. Strategien der Bewältigung, soziale Unterstützung und positive Einstellungen zur Verfügung, so gelingen Bewältigung und Anpassung leichter. Günstige moderierende Bedingungen vor Einsetzen der Akkulturation sind unter anderem das Bildungsniveau (Hochschulabsolventen auf der ganzen Welt sind sich in einer Vielzahl von Aspekten ähnlich), Persönlichkeit (hohe Kontrollüberzeugung) und kulturelle Nähe von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Auch die Reaktionen des Aufnahmelandes beeinflussen in gravierender Weise den Akkulturationsprozess. In manchen Ländern, wie in Kanada, ist die Möglichkeit von Bi-Kulturalität gesetzlich verankert. In anderen Ländern wird Zuzug durch religiöse oder ethnische Zugehörigkeit geregelt, wie in Japan oder Israel. Wenn ein Land mehrere Integrationsmodelle vorsieht, wie etwa in Deutschland bei deutschstämmigen Aussiedlern gegenüber Gastarbeiter-Immigranten, so kann dies zu Konflikten zwischen den Zuwanderungsgruppen führen.

Unter der Perspektive des kulturellen Wandels ist die von Mead (1971) getroffene Unterscheidungvonpost-, kon-undpräfigurativenKultureninteressant. Diepostfigurative Kultur ist eine statische und durch Traditionen bestimmte Drei-Generationen-Kultur, in der die Kinder primär Erfahrungen der Erwachsenengenerationen übernehmen. Der Sozialisationsprozess ist über Generationen hinweg stabil. Die für die Lebensbewältigung notwendigen Fähigkeiten werden früh erworben, sodass biologische und soziale Reife identisch sind und nach Abschluss der Pubertät der Status des Erwachsenseins erreicht ist. Identität wird im Zuge der Internalisierung traditioneller Sinnkonzepte und Werte erworben, deren universelle Richtigkeit und dauerhafte Gültigkeit nicht in Frage gestellt wird.

Die konfigurative Kultur, der gegenwärtige Lebensformen entsprechen, ist eine mobile, durch raschen Wandel gekennzeichnete Kultur, in der die Gleichaltrigen voneinander lernen und sich gegenseitig sozialisieren. Schon früher gab es die Kinderkultur, in der Spiele, Reime und Redensarten nur von Kindern an Kinder weitergegeben wurden. Heute ist diese Form der Enkulturation und Sozialisation besonders im Jugendalter zu beobachten. Jugendliche entwickeln Subkulturen mit eigenem Verhaltenskodex und tauschen ihr Wissen über Computerspiele, Filme und Musik untereinander aus. Aber auch auf anderen Altersstufen gibt es konfigurative Kultur. Junge Erwachsene stehen über Kontinente per Computer in Verbindung und spielen miteinander. Sie helfen sich durch gegenseitigen Informationsaustausch im Beruf. Ältere Menschen, die sich mit neuen Moden und musikalischen Trends schwer tun, finden sich zu subkultureller Gruppen zusammen und pflegen ihre kulturellen Präferenzen. Subkultur der Gleichaltrigen wird also zur wesentlichen Orientierungsinstanz.

Die präfigurative Kultur erwächst aus dem raschen technischem Fortschritt und soziokulturellen Wandel. Die zunehmende Distanz zwischen den Generationen erschwert die Identitätsbildung. Ein zentrales Moment für den Austausch zwischen den Generationen stellt die Veränderung der Kommunikation dar. Hierfür wird die Bereitschaft und Fähigkeit der Erwachsenen wichtig, von Kindern zu lernen. Der Sozialisationsprozess kehrt sich um: die Älteren lernen von den Jüngeren. Wir erfahren das im Alltag besonders an der Überlegenheit junger Menschen im Umgang mit den neuen Medien. Großeltern lernen von ihren Enkeln und Enkelinnen und lassen sich von ihnen helfen. Insgesamt gesehen leben wir in einer Kultur, in der alle drei Formen der Vermittlung und Enkulturation am Werke sind. Dies kann gewiss als Vorteil und Erweiterung der Lebensgestaltung gegenüber früheren Zeiten gesehen werden.

7.8 Akkulturation als Problem der Gegenwart



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