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Spiel als Lebensbewältigung



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Spiel als Lebensbewältigung

DreiklassischeTheorien In der Evolution hat sich Spiel als Verhalten herausgebildet, weil es größere Flexibilität und damit effizientere Anpassung an neue Situationen gewährt. Spiel ist ein Mittel zur Daseinsbewältigung. Dies gilt für den Menschen in besonderem Maße, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Beginnen wir mit drei klassischen Erklärungen des Spiels. Sigmund Freud (1920, 1930) legt in seinen frühen Werken den Schwerpunkt auf die wunscherfüllende Funktion des Spiels. Das Spiel erlaubt dem Kind, den Zwängen der Realität zu entfliehen und ermöglicht das Ausleben tabuisierter Impulse, vor allem aggressiver Bedürfnisse. Das Spiel gehorcht dem Lustprinzip, während außerhalb des Spiels das Realitätsprinzip regiert. Im Zusammenhang mit der Wunscherfüllung spielt die Katharsis-Hypothese eine wichtige Rolle. Sie besagt, dass durch erneutes Ausleben früherer Probleme bzw. unerlaubter Triebwünsche eine „Reinigung“ erfolgt, die das Kind (bzw. den Patienten) von seinen Ängsten befreit. Der Mechanismus der Bewältigung von Problemen bzw. generell nicht verarbeiteter Alltagserfahrung ist die Wiederholung. Durch die Wiederholung macht sich das Kind zum „Herrscher der Situation“ und fügt der passiven Erfahrung ein aktives Gegenstück hinzu (Freud 1930). Dieser Gedanke wird von Erikson (1978) aufgegriffen und weiter elaboriert.

Nach Wygotski (1980, Org. 1933) entwickelt das Kind „unrealistische“ Wünsche, vor allem, groß und stark sein zu wollen und wie die Erwachsenen attraktive Tätigkeiten ausführen zu dürfen. Diese Wünsche können nicht in der sozialen Realität erfüllt werden. Andererseits kann das Kind nicht warten, bis es erwachsen ist, um seine Ziele zu verwirklichen. Es ist im Gegensatz zum Erwachsenen noch kaum in der Lage, Bedürfnisse aufzuschieben. Hier bringt das Spiel die Lösung: Die Wünsche können in der Spielrealität illusionär verwirklicht werden. Das Kind will groß und stark sein und lebt diesen Wunsch in mannigfaltiger Weise im Spiel aus: als Supermann, als Vater, als Lehrer, als Astronaut etc. Wygotski betont auch, dass dem Kind diese verallgemeinerten Wünsche nicht bewusst sind und dass es das Motiv seines Handelns nicht begreift. Darin unterscheidet sich das Spiel wesentlich von der Arbeit und anderen Tätigkeitsformen.

Piaget (1969) kennzeichnet Spiel generell durch einen Überhang an Assimilation, d.h. an kognitiven Aktivitäten, die die Umwelt einseitig an die Schemata des Individuums anpassen. Warum aber diese einseitige Assimilation im Spiel? Spätestens ab dem Symbolspiel, d.h. den Spielhandlungen, bei denen das Kind Gegenstände umdeutet und Fiktionen aufbaut, handelt es sich nach Piagets Ansicht um eine Gegenreaktion gegen den Sozialisationsdruck und andere Umweltzwänge. Spielhandeln ist „die Abwehr dagegen, dass die Welt der Erwachsenen und die allgemeine Wirklichkeit das Spiel stören, um sich an einer Wirklichkeit, die man für sich selbst hat, zu erfreuen...“ (a. a. O., S. 216). „Es ist die Welt des Ich, und das Spiel hat die Funktion, „diese Welt gegen die erzwungenen Akkommodationen an eine allgemeine Wirklichkeit zu verteidigen“ (a. a. O., S. 216).

Tätigkeit als sinnstiftender Austausch zwischen Individuum und Umwelt Mit Leontjew (1977) kann man drei Handlungsebenen unterschieden, die für das Verständnis von Spiel sehr hilfreich sind. Die unterste Ebene bilden die Operationen. Sie sind automatisierte Fertigkeiten, die durch Lernen erworben wurden und als Grundlage des Handelns notwendig sind. Um mit einem Ball spielen zu können, muss man das Greifen und Fangen beherrschen. Ein Rollenspiel erfordert als Operationen die Sprache und die Empathie für die Spielkameraden. Die mittlere Ebene ist die Handlungsebene. Sie ist zielgerichtet, bewusst und zunehmend planvoll. Die oberste Ebene ist die Tätigkeitsebene. Sie stellt den Rahmen für Handlungen dar und gibt das Motiv und den Sinn für die Handlungen ab. Mit ihr müssen wir uns genauer befassen.

Die Tätigkeitsebene ist nicht oder nur teilweise bewusst, da sie aus den gesamten bisherigen Lebenserfahrungen entspringt, die niemals simultan repräsentiert werden kann, denn unser Arbeitsspeicher ist dafür zu klein, er kann nur 7 ±2 Elemente gleichzeitig repräsentieren. Im Spiel wirkt die Tätigkeitsebene zunächst in Gestalt der jeweiligen Thematik ein, die das Kind beschäftigt, z.B. Geschwisterrivalität, Erwachsen-werden-wollen, Auseinandersetzung mit Krankheit, Strafe, Unfall etc. Daneben gibt es noch eine allgemeine Auseinandersetzung des Selbst mit der Umwelt, die sich vor allem im Umgang mit Gestaltungsmaterialien zeigt, wie mit Wasser, Plastilin und Bausteinen. Beispiele für die Tätigkeitsebene im Spiel sind die Bearbeitung der Ablösung von der Bezugsperson (relative Selbständigkeit) mit etwa zwei Jahren, die Wiederholung eines traumatischen Erlebnisses (sich Verlaufen), Konflikte zwischen den Eltern und Schulprobleme. Befassen wir uns nun mit den Anliegen und Thematiken, die hinter den offen sichtbaren Spielhandlungen stehen.



Infolge der wachsenden Lebenserfahrung, der anstehenden Entwicklungsaufgaben und der aktuellen Bedürfnisse entwickeln sich aus dem allgemeinen Person-Umwelt-Verhältnis Thematiken, diezurBearbeitunganstehen1. SolcheThematikenlassensichinlängerfristige und kurzfristige Thematiken aufgliedern. Eine Möglichkeit der Systematisierung langfristiger Thematiken ist die Orientierung an Entwicklungsaufgaben (s. Kap. 8). Sie stellen sich als kulturell normierte Ziele zu bestimmten Zeitpunkten ein und können im Spiel vorweggenommen und bearbeitet werden. In diesem Falle kann man von Entwicklungsthematiken sprechen. Sie reichen von dem allgemeinen Entwicklungsziel des Erwachsenwerdens bis zur Auseinandersetzung mit aktuell anstehenden Entwicklungsaufgaben, wie der Sauberkeitserziehung, dem Kindergartenbesuch und dem Schuleintritt. Die Zweijährigen setzen die Puppe aufs Töpfchen und schimpfen sie; die Vier- und Fünfjährigen spielen Erzieherin oder Lehrerin oder machen „Hausaufgabe“. Eine zweite Gruppe von Thematiken hat mit der Entwicklung und Ausformung des Selbst zu tun. Eine solche Thematik ist der Konflikt zwischen Bindung und dem Bedürfnis nach Autonomie. Diese allgemein anthropologischen Anliegen verschränken sich dann mit kulturellen Normen. Kinder spielen Thematiken in vielfältiger Weise aus.

Machtthematiken Kinder zeigen im Spiel oft Allmachtsphantasien, so, wenn sie Tiere oder menschliche Figuren fliegen lassen (Überwindung der Schwerkraft), zaubern (die Naturgesetze aus Kraft setzen), den Superman oder Pippi Langstrumpf (übermenschliche Stärke) spielen oder Spielfiguren töten und wieder auferstehen lassen (Herr über Leben und Tod sein). Macht und Kontrolle ist ein Themenbereich, der mit zunehmendem Alter weiterhin bedeutsam bleibt, im Spiel aber inhaltlich modifiziert wird. Gewöhnlich nehmen nach unseren Beobachtungen Allmachtsphantasien ab und weichen konkreteren und realistischeren Bemühungen um Macht und Kontrolle (Oerter 1999). So etwa als Sieg im Regelspiel, als Machtfigur im Rollenspiel und als Fertigstellung eines Bauwerkes oder eines Bildes im Konstruktionsspiel.

Beziehungsthematiken drücken sich besonders in zwei Feldern aus, der Geschwisterrivalität und den Beziehungen zu den Eltern. Als Beispiel für die Bearbeitung der Geschwisterrivalität sei ein Junge angeführt, der beim Spiel mit einem Eisenbahnzug nur männliche Figuren mitfahren lässt und bei der Auswahl von Puppen aus dem Szeno-Test alle weiblichen Puppen zu Boden wirft, wobei er ruft „die brauch‘ ich nicht!“ Der Junge, der sich durch das Herumkommandieren der älteren Schwester drangsaliert fühlt, versucht dieses Geschwisterverhältnis zu bewältigen und verallgemeinert seine Ablehnung auf alle weiblichen Personen. Ein zweites Beispiel bezieht sich auf die Verarbeitung des Verlustes des Vaters, der die Familie verlassen hat. Ein viereinhalbjähriges Mädchen verliebt sich in einen griechischen Jungen aus dem Kindergarten und lässt ihn im häuslichen Spiel als fiktive Person erscheinen. Er liegt fiktiv bei ihr im Bett, wird später gefangen genommen und wieder aus dem Gefängnis befreit. Schließlich stirbt er und erwacht wieder zum Leben. Thematisiert wird in dieser illusionären Beziehung vor allem die Kontrolle über den Partner. Das Mädchen, dessen Spiel wir über ein Jahr lang beobachtet haben, erfährt an sich die Unsicherheit von Beziehungen. Der geliebte Vater verschwindet aus ihrem Gesichtskreis. Die Mutter geht neue, aber nicht dauerhafte Beziehungen ein und ist auch nicht immer verfügbar. Die Bewältigung dieser Situation geschieht illusionär durch ein Maximum an Kontrolle. Der geliebte Partner steht jederzeit zur Verfügung. Zudem drückt das Kind die extremste Form der Kontrolle über den Partner aus, sie ist Herrin über Leben und Tod (Näheres s. Oerter 1999, S. 242; Dornauer 1989).

In unseren längsschnittlichen Beobachtungen konnten drei Etappen der Bearbeitung einer Thematik festgestellt werden (Oerter 1999). Zunächst spielt die Thematik noch keine Rolle und taucht auch im Spiel nicht auf. In einer zweiten Phase finden wir dann die typischen Formen der Realitätsbewältigung, so wie sie eben beschrieben wurden, und der Bearbeitung der jeweiligen Thematik. In einer letzten Phase stellt das Kind bereits die Bewältigung der Thematik dar. Es bringt zum Ausdruck, dass es mit dem betreffenden Problem bzw. mit der Entwicklungsaufgabe fertig geworden ist.

Für das Spiel gibt es besonders in der frühen Entwicklung noch eine andere basale Tätigkeitsform, den Aktivierungszirkel. Heckhausen (1963/1964) rechnet wie wir Spiel zu den zweckfreien Tätigkeiten, die um ihres eigenen Anregungspotentials willen aufgesucht und ausgeführt werden. Bei bestimmten Spielformen kommt es zu einer sukzessiven Aktivierungs- und Erregungssteigerung bis hin zum Höhepunkt mit einem darauffolgenden Spannungsabfall. Die Wiederholung dieses Aktivierungszirkels wird vom Kind als ausgesprochen lustvoll erlebt. Solche Spiele sind in der frühen Kindheit das Hochwerfen und Auffangen des Kindes, das Hammele-Stutz-Spiel und Hoppe-hoppe-Reiter. Dieser Aktivierungszirkel kann als gesteigerte Selbsterfahrung und fiktives Existenzrisiko interpretiert werden. Es findet seine Fortsetzung in den extreme Erfahrung vermittelnden Achterbahnen oder Schleuder- und Fallmaschinen der Rummelplätze.

Tätigkeit kann generell als die typische Form der Auseinandersetzung zwischen Umwelt und einem Organismus verstanden werden, eines Organismus, der Selbstbewusstsein und die Fähigkeit besitzt, die Umwelt und sich selbst ein zweites Mal, unabhängig von der aktuellen Wahrnehmung zu repräsentieren. Diese Fähigkeit führt zu einem besonderen Verhältnis zwischen Selbst und Umwelt, das durch die beiden Begriffspaare Aneignung – Vergegenständlichung und Subjektivierung – Objektivierung gekennzeichnet werden kann, die wir bereits in Kap. 6 kennengelernt haben. Tabelle 10.1 demonstriert ihre Kombination als Vierfeldertafel für Spielhandlungen.

Geschichten anhören ist insofern eine subjektivierende Aneignung, als Inhalte und Handlungsabläufe aufgenommen und eingeprägt werden. Subjektivierend passt das Kind die Geschichte seinem bisherigen Wissensstand an. Das Symbolspiel ist der Prototyp für




Aneignung

Vergegenständlichung

Subjektivierung

Geschichten anhören, Sendungen anschauen

Symbolspiel

Objektivierung

Exploration von Gegenständen, Buch anschauen und Bilder benennen

Puzzle legen, Haus bauen, Regelspiel

Tab. 10.1 Das Zusammenwirken der vier Grundkomponenten von Handlung im Spiel des Kindes subjektivierende Vergegenständlichung, denn hier wird eine fiktive Welt nach eigenen Bedürfnissen und Wünschen aufgebaut.

Objektivierende Aneignung zeigt sich beim Buchanschauen, wenn das Kind Bilder und Szenen benennt und beschreibt. Handlungen, wie das Zusammenlegen eines Puzzles oder das Errichten eines Bauwerkes mit Bauklötzen sind Beispiele für objektivierende Vergegenständlichung, denn nur wenn objektiv-physikalische bzw. geometrische Sachverhalte berücksichtigt werden, kann das Vorhaben gelingen. Das Rollenspiel ist je nach Realitätsnähe eher objektivierend oder eher subjektivierend.



Resümee Spiel dient in der Ontogenese der Lebensbewältigung und damit der psychischen und körperlichen Hygiene. Kinder spielen nicht, um etwas zu lernen oder um Fertigkeiten einzuüben. Dies ist ein Nebeneffekt, der von Vorteil sein kann. Kinder spielen, weil ihnen das ermöglicht, mit dem Leben besser fertig zu werden. Spiel als Lebensbewältigung umfasst die Möglichkeit, seine Bedürfnisse sofort – wenn auch nur imaginär – zu befriedigen, gestalterisch in der Umwelt aktiv zu werden und damit Erfahrungen der Selbstverwirklichung zu sammeln und schließlich die persönlichen Nöte und Thematiken zu bearbeiten, wodurch das Kind sich von sozialem Druck und psychischem Stress befreien kann.

Die einzelnen Spielformen treten kulturübergreifend in einer bestimmten Reihenfolge auf: sensomotorisches Spiel, Als-ob-Spiel (Symbolspiel), Rollenspiel, Regelspiel. Diese Sequenz ist allerdings weniger evolutionär geprägt als vielmehr durch die Entwicklungslogik festgelegt. Das Rollenspiel erfordert höhere kognitive Leistungen, und die augenblicklichen Bedürfnisse müssen zugunsten der Rolle kontrolliert werden. Auch die geschilderte Abfolge im Sozialspiel folgt schlicht einer Entwicklungslogik von einfach zu komplex. Die jeweilige Kultur modifiziert aber das Spiel dennoch beträchtlich. So werden Kinder aus sozial benachteiligten Schichten häufig am Spielen gehindert, weil dies als unnütze Tätigkeit angesehen wird. In China wird Spiel in Vorschuleinrichtungen nur als streng reglementiertes Rollenspiel praktiziert. So spielen chinesische Kinder oft heimlich (Wang 1997). Bei den Eipos auf Neuguinea herrschen Jagd- und Kampfspiele vor. Außerdem bauen die Kinder Hütten, die denen der Erwachsenen möglichst getreu nachgebildet sind.



Spiel bei Erwachsenen

Sowohl beim Tier als auch beim Menschen liegt der Schwerpunkt spielerischer Betätigung im Kindes- und Jugendalter. Dennoch fällt schon bei Tieren auf, dass auch Erwachsene spielen. Die genannten Beispiele von spielenden Kraken, Schildkröten, Raben etc. bezogen sich auf erwachsene Tiere. Auch beim Menschen finden wir zeitlich ausgedehntes Spielverhalten im Erwachsenenalter. Dies trifft heute gewiss in besonders großem Umfang zu. Die Hauptabnehmer von Computerspielen sind junge Erwachsene, nicht Jugendliche. Außerhalb der Computerspiele bevorzugen Erwachsene verschiedensten Formen von Regelspielen, bei denen aber stets Wettbewerb, Gewinnen und Verlieren den Hauptanreiz bieten. Rechnet man noch die Sportspiele bis hin zum Radeln und Skifahren sowie die diversen Hobbys von Erwachsenen dazu, so nimmt heute das Spiel beim Erwachsenen den gleichen Raum wie die Arbeit ein, da das ausgedehnte Wochenende die zeitliche Begrenzung während der Arbeitswoche kompensiert.

Welche Funktion aber hat das Spiel im Erwachsenenalter? Wunscherfüllung und Lebensbewältigung sollte ja nun außerhalb des Spiels in der realen sozialen Welt gelingen. Letztlich müssen die Erwachsenen schließlich ihre Bedürfnisse, Thematiken und Ziele in der realen Welt bearbeiten. Spiel erscheint sogar kontraproduktiv, denn es bildet einen inadäquaten Ausweg für Lebensbewältigung. Bei der Suche nach einer Antwort beginnen wir wieder mit der evolutionären Funktion des Spiels. Die phylogenetischen Wurzeln des Spiels haben wir mit Beweglichkeit und besserer Anpassungsfähigkeit an neue Situationen in Verbindung gebracht. Diese Vorteile sind heute im Erwachsenenalter wichtiger als jemals zuvor. Weiterhin gehören Spiel und Neugier auch im Erwachsenenalter zusammen. Der Spaß am Denken und der Einsatz von Strategien beim Problemlösen macht dabei einen Teil des Erwachsenenspiels aus: Schach, Sudoku, Kreuzworträtsel und Computer-Strategiespiele. Daneben beobachtet man aber Spiel auch als Regression. Erwachsene begeben sich auf ein früheres Entwicklungsniveau, was Abbau von Alltagsstress und Entspannung bringen kann und somit der mentalen Hygiene dient.

Oft ist das Erwachsenenspiel eine Kompensation für Stagnation und Misserfolg im realen Leben. Wenn man dort nicht gewinnt, kann man dennoch im Spiel gewinnen und dann besser und erfolgreicher sein als andere. Spiel ist zuweilen eine Flucht in eine bessere Welt. Die Wiederbelebung der Welt des Mittelalters mit Trachten, Essgewohnheiten, Waffen und Spielen ist ein Beispiel für diesen Trend, ebenso wie die Flucht in die virtuelle Welt des Second Life, das jedem einen Platz und interessante Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Dann gibt es noch das Hobby, das mehrere Funktionen haben kann. Es bietet Betätigungsmöglichkeiten, die familiär und beruflich nicht angeboten werden, es bietet Rückzug in eine heile konfliktfreie Welt und es ist ein Handlungsfeld für die Entdeckung neuer Möglichkeiten. Eine Sonderstellung nimmt das Glücksspiel ein, das durch Zufall oder Schicksal, je nach Interpretation, Gewinn verspricht. Das Glücksspiel verbindet auf merkwürdige Weise soziale und Spiel-Realität, denn das Spiel hat Auswirkungen auf die soziale Realität, der Gewinn bringt Vorteile, der Verlust Nachteile. Spielsucht dokumentiert die pathologische Verbindung von Spiel und Wirklichkeit.





Abb. 10.1 Entwicklung des Spiels und seine Transformation in kulturelles Schaffen

Aber hier endet nicht etwa das Spiel im Erwachsenenalter, hier beginnt es erst! Die wichtigste Leistung des Spiels ist seine kulturschaffende Wirkung. Damit erweitern wir die Persdpektive der Ontogenese durch die Perspektive von Gesellschaft und Kultur.



10.4 Kultur und Spiel: ein Kreislauf

Es wäre verkürzt, wenn man Spiel nur als Phänomen der Ontogenese des Menschen betrachten würde. Die Rolle des Spiels als schöpferische Kraft in der Kultur ist ebenso bedeutsam wie in der individuellen Entwicklung. Abbildung 10.1 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Ontogenese und Kulturgenese. Im Erwachsenenalter wird das Spiel in kulturelles Schaffen transformiert. Die einzelnen Spielformen, wie sie typischerweise in der kindlichen Entwicklung in einer bestimmten Reihenfolge auftreten, gehen nicht verloren, sondern münden in kulturelle Tätigkeiten. Produktive Arbeit enthält stets Spielelemente, die kreative Leistungen ermöglichen und gleichzeitig Reaktanz und Ermüdung herabsetzen. Die großen Handlungsfelder der Kultur, wie Kunst, Musik, Literatur, Theater, Tanz und Sport, setzen einzeln und kombiniert Spielformen der Kindheit fort. Aus sensomotorischem Spiel entfalten sich Sportarten und Tänze, aus dem Konstruktionsspiel entstehen die bildende Kunst, die Architektur und die Ingenieurskunst, aber auch Musik als Weiterentwicklung kindlicher Improvisation. Rollenspiele führen zu Theater und Oper, und Regelspiele bilden eine Basis für Regeln in der Gesellschaft überhaupt (Piaget 1954). Erst


10.4 Kultur und Spiel: ein Kreislauf

die Sichtweise der Verschränkung von Ontogenese und Kulturgenese lässt die Bedeutung des Spiels und damit auch des Menschen als Homo ludens erkennen. Hier ist Schillers berühmter Ausspruch anzusiedeln: Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen).

Auch die Wissenschaft hat im Kern spielerische Elemente. Allein schon die Beschäftigung mit Erkenntnisfragen, die nichts mit der alltäglichen Lebensbewältigung zu tun hat, zeigtSpielcharakter. MansetztsichinGedankenmitPhänomenenauseinander, denenman im Alltag begegnet und die einen trotz ihrer Alltäglichkeit in Erstaunen und Neugierde versetzen. Crick und Watson hatten sich monatelang mit der Struktur der DNA beschäftigt. Eines Morgens traf Crick früher im Labor ein und spielte mit den Nukleinbasen, die in Form von Kärtchen vor ihm lagen, herum. Plötzlich hatte er den Einfall, sie als Doppelhelix anzuordnen, und als Watson eintrat, rief er, ich hab’s! Der Physiknobelpreisträger Hentsch von der Ludwig-Maximilians-Universität München war bekannt für seine Neigung zum Spiel im Labor und zur Herstellung von Filmen über die Mitarbeiter bei der Laborartätigkeit und bei Feiern wissenschaftlicher Ergebnisse. Das Aufkommen der Wissenschaft als vom ökonomischen Prozess losgelöste Tätigkeit im klassischen Griechenland trägt Züge des Spiels. Man hat Zeit, „müßige“ Fragen zu diskutieren, mit Gedanken und Hypothesen zu spielen und die Ergebnisse auszutauschen. Ohne das spielerische Element wären weder Philosophie, noch Mathematik und Physik im Alten Griechenland entstanden.

Darüber hinaus hat das Spiel offenkundig wichtige Funktionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Roberts et al. (1959) sowie Sutton-Smith (1986) haben das Vorkommen von Spielen in verschiedenen Kulturen untersucht. Nach ihrer Auffassung sindWettbewerbs-undKampfspiele, wieFußball, Handball, Tennis, Autorennenetc., ritualisierte Kriege, die risikofrei zwischen verschiedenen Ländern oder Regionen ausgetragen werden. Bei solchen Spielen werden die Karten neu gemischt. Ein kleines Land wie die Niederlande kann eine Weltmacht wie die USA besiegen. Hier herrscht Analogie zum privaten Gesellschaftsspiel der Erwachsenen, die Misserfolge oder fehlenden soziale Aufstieg durch Siege im Spiel kompensieren. Die Erfindung von Kampfspielen als Ersatz für Kriege stammt wieder einmal von den Griechen. Mit der Gründung der Olympischen Spiele im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelang es, alle Griechen zu gemeinsamen Spielen zusammen zu führen. Während der Spielzeit durften keine kriegerischen Auseinandersetzungen stattfinden. Die olympische Idee ist in der Moderne wiederbelebt worden, sie ist allerdings heute zu einem wirtschaftlichen, sensationslüsternen und letztlich inhumanen Spektakel verkommen.

Nach Befunden von Roberts, Kozelka und Sutton-Smith (zit. nach Oerter 1999) gibt es eine Entsprechung zwischen der Art des Spiels und dem Aufgabentypus in der Kultur. Strategiespiele sind assoziiert mit strenger Primärsozialisation, psychologischer Disziplinierung, stärkerem Gehorsamkeitstraining und höherer kultureller Komplexität. Glücksspiele sind assoziiert mit Bestrafung persönlicher Initiative und Glauben an das Wohlwollen übernatürlicher Mächte. Wettspiele, die körperliche Geschicklichkeit zum Ziel haben, findet man in Kulturen, die Wert auf Leistung legen und in denen das Konkurrenzprinzip vorherrscht.

Spiele sind also in der Kultur fest etabliert. Sie haben verschiedene Aufgaben, dienen aber generell der Verminderung von Konflikten und der Lenkung von Spannungen in risikofreie Kanäle. Panem et Circenses war die Strategie, mit der sich die römischen Kaiser das Wohlwollen der Massen erkauften. In Leistungs- und Konkurrenzgesellschaften wie der unseren werden Kampfspiele bevorzugt, bei denen Sieg und Niederlage stellvertretend für gesellschaftlichen Erfolg und Misserfolg stehen, ohne dass dieses „Spiel“ ernst genommen werden muss. Die Hooligans vergessen dies leider, sie nehmen den Wettkampf „ernst“ und werden manifest aggressiv.

DassSpielunseregesamteKulturundGesellschaftdurchzieht, zeigtsichamdeutlichsten bei der Börse. Diese merkwürdige Einrichtung tut nichts anderes, als mit den Werten von Aktien zu spielen. Im Gegensatz zum Glücksspiel gibt es bei Aktien reelle Chancen auf Gewinn, vor allem dann, wenn man zum Experten wird und nichts anderes mehr tut als spekulieren. Die Broker sowie mancher Privatmensch verbringen ihr Dasein mit dem Spiel mit Aktien. Das Verhängnisvolle an der Börse ist ihre reale Macht. Sie demonstriert eindrucksvoll, was passiert, wenn Spiel gleichzeitig blutiger Ernst wird. Spieltheorie wird denn auch in den Wirtschaftswissenschaften eifrig genutzt und hat z.B. Robert Aumann 2005 den Nobelpreis eingebracht.

In abstrakter Form haben wir die Spieltheorie in der Mathematik vor uns. Dort stellt die Spieltheorie das Werkzeug zur Analyse von Konflikten und von Kooperation bereit. Zugrunde liegt ein mathematisches Modell für Entscheidungssituationen mit folgenden Merkmalen:



  • Das Ergebnis der Entscheidungssituation hängt von mehreren Spielern ab, sodass ein einzelner Spieler das Ergebnis nicht unabhängig von der Wahl des anderen Spielers erzielen kann.

  • Jeder Spieler weiß um diesen Sachverhalt und weiß auch, dass die anderen Spieler diesen Sachverhalt kennen.

  • Jeder Spieler berücksichtigt daher die genannten Punkte rational bei seiner Entscheidung.

Bekannt geworden ist das Buch über Spiel des Nobelpreisträgers Manfred Eigen und seiner MitarbeiterinRuthildWinkler, indemSpielalsRegelwerkausStrategieundZufalldefiniert wird. Mit diesem breiten Begriff lässt sich die Evolution als Spiel beschreiben. Die Feststellung: „Das Spielprinzip der Evolution ist Naturgesetz“ ist auch Erklärungsprinzip für die Entwicklung des Lebens. Die Regeln sind Selektion und Mutation, bei denen der Zufall eine maßgebliche Einflussgröße bildet. Die Autoren wenden ihre Spieltheorie auf das gesamte Naturgeschehen an, übertragen sie dann aber auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge und die Regeln von Sprache und Musik. Das klingt danach, als würde die Spieltheorie zu einer Theorie über alles (about everything). Dann aber wird sie unbrauchbar. Immerhin ist die Möglichkeit bedenkenswert, die Evolution selbst als Spiel zu betrachten und damit dem Spiel eine noch grundlegendere Bedeutung beizumessen als es in diesem Kapitel geschieht.

Wir bleiben aber bei unserem engeren Spielbegriff.

10.5 Resümee



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