Inhaltsverzeichnis Einleitung



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Gestalt

Die Gestaltpsychologie hat bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgewiesen, dass wir nicht Elemente wahrnehmen, die wir nachträglich zu einem Ganzen zusammenfügen, sondern Gestalten, die bestimmte Gesetzmäßigkeiten aufweisen (Metzger 1976). Das Gesetz der Nähe besagt beispielsweise, dass wir Elemente als zusammengehörig betrachten, die nahe beieinanderliegen. Das Gesetz der guten Gestalt bezieht sich auf unsere Wahrnehmungstendenz, unvollkommene und unfertige Figuren als vollkommen wahrzunehmen, so etwa vier senkrecht aufeinander stehende unverbundene Linien als Quadrat oder Rechteck zu sehen. Miteinander verbundene Elemente bilden häufig solche Gestalten. Am anschaulichsten ist die Gestaltbildung bei Melodien gegeben. Egal in welcher Tonart die Melodie gespielt wird, wir erkennen sie wieder, weil ihre Gestalt gleichbleibt. Die Bevorzugung von Symmetrie ist ebenfalls ein Produkt unserer Gestaltwahrnehmung, und dies führt uns schon näher an das Ästhetische heran. Ähnlich verhält es sich mit Proportionen. Bestimmte Seitenverhältnisse beim Rechteck werden von uns bevorzugt, wie etwa der Goldene Schnitt (1:1,63). Symmetrische Gesichter gefallen uns besser als verzogene, die wir als hässlich einstufen, aber perfekte Symmetrie bei Gesichtern hat nicht unsere höchste Präferenz, wie noch zu zeigen sein wird (s. u.).

Die Gestaltgesetze gelten auch für Tiere. Sie nehmen Gestalten wahr, auf die sie instinktiv reagieren. Es handelt sich um Reizmuster, die auch als AAM (angeborene Auslösermechanismus)bezeichnetwerden(Tinbergen1966; Lorenz1978)undeinangemessenes Verhalten (Flucht, Vermeidung, Annäherung) auslösen. Bei der sexuellen Selektion können die für Sexualpartner attraktiven Reizmuster als Gestalten interpretiert werden, die als attraktiv und schön eingestuft werden. Meist sind solche Gestalten als Auslöser im Instinktrepertoire des Tieres verankert, oft werden sie aber auch erlernt. Dies gilt zum Beispiel für den Vogelgesang. Da die Männchen immer wieder neue Variationen erfinden bzw. Gesänge anderer Vögel imitieren, kann das Gefallen dieser Produktionen nicht nur angeboren sein. Die Erfassung der Struktur einer Melodie und ihrer Motive als „gute Gestalt“ ist bei dieser Bevorzugung das Entscheidende.

Nicht nur angeborene Auslöser gibt es also im Tierreich, sondern Wahrnehmungspräferenzen von Gestalten, die apriori bzw. durch Erfahrung genutzt werden können. Bietet man beispielsweise einem Tier zwei verschieden große Rechtecke und verabreicht nur beim jeweils größeren (je nach Versuchsbedingung auch beim kleineren) Futter, so lernt das Tier rasch, auf den richtigen Reiz zu reagieren. Nun vergrößert man die Rechtecke, ohne die Proportion, also ihr Größenverhältnis zu ändern, und das Tier regiert wiederum adäquat. Diese Gestaltwahrnehmung der Größenproportion ist sogar schon bei Stichlingen zu finden, reicht also weit in der Tierreihe zurück. Wenn allerdings die Größe weiter ansteigt, sodass das kleinere Rechteck sehr groß wird, reagieren die Tiere dann doch auf das kleinere von beiden Figuren, vor allem, wenn es die Größe des ursprünglich großen Rechtecks überschritten hat. Zusammenfassend lässt sich festhalten: die Gestaltgesetze stammen aus unserer phylogenetischen Vergangenheit. Einige von ihnen lassen sich auf unser alltägliches Verständnis von Schönheit anwenden: Symmetriebevorzugung, Erkenntnis und Präferenz von Proportionen, Bevorzugung der „guten Gestalt“.



Durchschnitt als Schönheitskriterium

Ein verblüffendes ästhetisches Phänomen stellt sich ein, wenn man Fotografien junger Frauen übereinanderlegt und einen „Durchschnitt“ aller Gesichter bildet (Daucher 1967).





Abb. 11.1 Durchschnittsgesichter für Frau und Mann, die als sexuell attraktiv eingestuft wurden. (Gründl2003; Bilderaus: http://epub.uni-regensburg.de/27663/1/Habil_Gruendl_gesamt_093m.pdf vom 9. 7. 2013 (mit freundlicher Genehmigung des Autors))

Heute lässt sich das eleganter mit Hilfe der Digitalfotografie bewerkstelligen (z. B. Johnston und Franklin 1993). Dabei entsteht ein schönes ebenmäßiges Gesicht. Der Durchschnitt über alle Gesichter nimmt die Unregelmäßigkeiten rechts und links, oben und unten weg und erreicht je nach Zusammensetzung der Stichprobe ein attraktives oder weniger attraktives Gesicht. Abbildung 11.1 zeigt je ein weibliches und männliches Durchschnittsbild, die vondenProbandenalsschönundsexuellattraktivbewertetwurden. JohnstonundFranklin „züchten“ mit Hilfe des Computers ihr Durchschnitts-Schönheitsbild weiter und operierten mit den einzelnen Schönheitsmerkmalen. Dabei fanden sie einen Typ, der als ideal eingestuft wurde. Das geschätzte Alter des Idealbildes betrug 24,9 Jahre. Eibl-Eibesfeldt (2004) interpretiert dieses Altersideal als die Zeit größter Fruchtbarkeit und charakterisiert es als stärker pädomorph im Vergleich zum Durchschnittsbild der erfassten Gruppe. Es trägt noch kindliche Züge. Das Idealbild der Frau steht zwischen Kindheit und vollem Erwachsenenalter, verspricht aber die größte Nachkommenschaft. Wie weit ist es von hier aus zur Pädophilie? An dieser Stelle greift die Kultur korrigierend und modifizierend ein. Doch davon später.

Man könnte nun meinen, dass vollkommene Symmetrie die Ästhetik des Gesichtes erhöht, denn Symmetrie spielt sicherlich bei vielen ästhetischen Eindrücken eine große Rolle. Gründl (2003) prüfte den Einfluss vollkommener Symmetrie mit einer Reihe von Methoden, z.B. der Spiegelung der linken Geschichtshälfte auf die rechte Seite und umgekehrt. Überraschenderweise wurden alle vorgenommenen perfekten Symmetrie-Bilder als Abb. 11.2 Das Kindchenschema bei Tier und Mensch. (Aus Lorenz 1943, S. 276) weniger ästhetische eingestuft als die Durchschnittsbilder oder Einzelbilder von konkreten Personen. Da auch in der Realität kein Gesicht vollkommen symmetrisch ist, wundert das nicht. Vollkommene Schönheit ist nicht gleichzusetzen mit vollkommener Symmetrie, die bei Gesichtern etwas Starres, Maskenhaftes hat.

Kindchenschema

Konrad Lorenz (1943) führte in die Verhaltensbiologie den Begriff des Kindchenschemas ein. Darunter ist zu verstehen, dass bei höheren Tieren die Form des kleinkindlichen Gesichts als Schlüsselreiz (Auslöser) für Pflege- und Fürsorgeverhalten wirkt (Abb. 11.2).

Zu diesen Merkmalen des Kindchenschemas gehören: eine hohe Stirne, große, runde Augen, eine kleine Nase, ein kleines Kinn, rundliche Wangen und eine zarte Haut. Der Kopf ist im Vergleich zum Körper größer als beim Erwachsenen. Ästhetisch wirkt das Kindchenschema als „süß“, „lieblich“ und „niedlich“ auf uns. Viele Stofftiere, Puppen und Fantasiefiguren werden mit dem Kindchenschema ausgestattet, um ihre Attraktivität zu erhöhen.

Evolutionär liegt der Vorteil des Kindchenschemas auf der Hand. Da es Pflegeverhalten auslöst, haben die Jungtiere größere Überlebenschancen, sie werden geschützt, gefüttert und umsorgt, solange sie das Schema besitzen.



Neuheit und Mode

Mehrfach wurde gezeigt, dass bei der sexuellen Selektion Neuheit von Merkmalen eine Rolle spielt. Jungtiere sind neugierig und explorieren das Neue. Bei der sexuellen Partnerwahl wird das Neue beim Partner als attraktives Merkmal gesucht. Da die meisten Tiere ihre Neugier im Erwachsenenalter zurückschrauben, könnte man vermuten, dass Neugier nun auf das Wesentliche, die Partnerwahl eingeschränkt wird, denn hier geht es um den zentralen Nerv der Evolution, die erfolgreiche Fortpflanzung. Die „Kindereien“ hören auf, der Ernst des Lebens beginnt. Hier ist der Verlauf ähnlich wie beim Spiel. Neugier und Spiel sind vorzugsweise bei Jungtieren angesiedelt, im Erwachsenenalter gibt es hauptsächlich die Paarungsrituale und andere Spielformen beim Werbeverhalten.

Der Prototyp der Suche nach Neuem, das man für schön hält, ist in unserem Kulturkreis die Mode. Sie wechselt auf unerklärliche Weise von Halbjahr zu Halbjahr, wird für schön gehalten, und man treibt bemerkenswerten Aufwand, um an ihr teilzuhaben. Von außen betrachtet, ein irrationales Verhalten. Das bleibt es auch, solange wir nicht verstehen, dass seine Wurzeln in der Evolution liegen. Darwin (1875) hat sich ausgiebig mit Beispielen der Mode im Tierreich beschäftigt und nicht gezögert, von Capricen und Ticks zu sprechen angesichts der absurden Bemühung der Bewerber (selten Bewerberinnen), sich in Szene zu setzen. Wenn wir die Annahme der Wahl von haarlosen Weibchen beim Homo als Mode hinzunehmen, so rundet sich das Bild bis zum Menschen hin ab. Allerdings gibt es bei der Mode, wie bei der Herausbildung attraktiver sekundärer Geschlechtsmerkmale überhaupt, einen Einwand, den schon Darwin erfahren musste. Die Bevorzugung eines Merkmals, das den Partner attraktiver macht, müsste – analog zu unserer Mode – eine kurzlebige Erscheinung sein, sodass sich kein erbliches Merkmal herausbilden könnte. Darwin entgegnet dem Einwand mit Nachahmung eines Verhaltens, dem Erfolg der Präferenz und schließlich der zunehmenden Ausprägung des Merkmals, dessen Auffälligkeit zum wesentlichen Merkmal des Werbers wird. Es ist von Vorteil, Mode und Ästhetik hier zusammenzuführen. Das neu entwickelte Merkmal gefällt. Es gefällt sogar uns, wenn wir prächtige Hirschgeweihe oder einen Rad schlagenden Pfau sehen. Sicherlich gibt es eine Schnittmenge für gemeinsamen ästhetischen Geschmack zwischen Tier und Mensch: Landschaft, Gesang, Buntheit, Geweihe und Gehörne, starke Körper, elegante Beine und anderes mehr. Dass die menschliche Mode so kurzlebig geworden ist, zeigt, dass sie ihre ursprüngliche evolutionäre Funktion verloren hat. Modebewusste Frauen suchen nicht den Erfolg bei Männern (da genügt, wie Alice Schwarzer ironisch bemerkt, ein enger Pullover und eine Hose, die das Hinterteil gut zur Geltung bringt), sondern Ansehen und Bewunderung bei ihren Geschlechtsgenossinnen, ganz zu schweigen von dem narzisstischen Vergnügen, sich im Spiegel zu betrachten.

Alles in allem lässt sich die von uns gewählte Definition des Ästhetischen halten, es wird lustvoll erlebt, es dient letztlich in der einen oder anderen Art der erfolgreichen Fortpflanzung, z.B. als Fitnesskriterium, als unmittelbares Signal für Stärke oder auch als attraktiver Ausschnitt der Natur, in dem sich eine Spezies aufgrund ihrer Ausstattung wohlfühlt (s. u.). Eine zu weite Definition, nämlich dass alles Nützliche ästhetisch sei, hilft uns wenig, da wir ja die Verbindung von Evolution, Kultur und Ontogenese im Blickfeld haben. Die Suche nach objektiven Kriterien des Ästhetischen führt uns zu Erkenntnissen der Gestaltpsychologie (Gesetze zur guten Gestalt, Symmetrie und Proportion) sowie zur VorliebefürdasNeue. WährenddieGestaltgesetzeindieNähedesallgemeinen(intuitiven) Verständnisses des Ästhetischen führen, geht es bei der Vorliebe für Neues durchaus auch um Skurriles, Hässliches, Abweichendes, das dann je nach Erfolg zum Ästhetischen werden kann. Beim Homo sapiens, mit dem wir uns als nächstes näher befassen wollen, treibt die Kultur seltsame Blüten: die Ästhetik des Hässlichen bei den Punks, Vorliebe für hässliche Übertreibungen bei Otto Dix, blutige Scheußlichkeiten bei Baselitz und vieles andere mehr. Ich übe hier wohlgemerkt keine Vulgärkritik an Kunst, sondern stelle nur fest, dass es fast nichts gibt, was nicht zur Kunst und damit ästhetisch werden kann.



11.4 Evolutionäre Wurzeln des Ästhetischen beim Menschen

Evolutionär gilt beim menschlichen Gesicht zunächst der Durchschnitt. Er repräsentiert das Typische und damit auch eine Art Fortpflanzungsdeal innerhalb der Population, in der man lebt. Kein Wunder, dass wir einen solchen Prototyp als schön empfinden. Auch das Kindchenschema übt eine starke Wirkung aus, wobei man annehmen kann, dass die Ästhetik des Gesichtes als Durchschnittsstruktur sich mit dem Kindchenschema verbindet, da das präferierte Frauengesicht noch kindliche Züge enthält (s. o.).

In Fortsetzung der Ornamenten-Ästhetik bei Tieren gilt auch beim Menschen, dass bestimmte sekundäre Geschlechtsmerkmale ästhetisch attraktiv sind und die Partnerwahl beeinflussen. Zu diesen Merkmalen gehören die weiblichen Brüste, sie sind außerhalb der Stillzeit überflüssig und insofern „Ornament“. Unsere nächsten Verwandten, die Schimpansinnen, haben keine vorgewölbten Brüste außerhalb der Stillzeit. Der bekannte Waist-to-Hip-Ratio, der in westlichen Kulturen 0,7 beträgt (enge Taille, breite Hüfte) ist bereits nicht mehr universell, denn manche Völker bevorzugen ein Verhältnis von 1 (Walzenform). Die Kopfhaare werden ebenfalls als Schönheitskriterium angesehen und dürften ein evolutionär begründetes Ornament sein, wobei natürlich je nach Kultur andere Haartrachten als schön und attraktiv gelten. Schließlich ist die Haarlosigkeit am Körper der Frau seit der Entstehung des Vormenschen offenkundig ein ästhetisches Merkmal. Hier gilt nach wie vor die Annahme Darwins, dass im Gegensatz zu den meisten Tierarten beim Homo das Weibchen die attraktiven (ästhetischen) Merkmale entwickelte, um das Männchen auf sich aufmerksam zu machen.
11.4 Evolutionäre Wurzeln des Ästhetischen beim Menschen

Für beide Geschlechter gilt wohl die Präferenz für symmetrische Gesichter, die aber nicht perfekt symmetrisch sein dürfen. Schließlich ist bemerkenswert, dass Homo sapiens und möglicherweise auch Homo neandertalensis Schmuck anfertigte und trug. Die Nutzung von Artefakten als reine Schmuckgegenstände sowie die Verzierung und Bemalung von Waffen und Werkzeugen zeigen, dass das Ästhetische beim Homo von Anfang an eine wichtige Qualität und Bedeutung erhält. Der Werkzeugmacher geht über die unmittelbare Nutzfunktion des Werkzeugs hinaus und widmet seine Erfindungskraft scheinbar überflüssigen ästhetischen Accessoires. Die Ästhetik als Merkmal von Werkzeugen beginnt bereits beim Faustkeil. Miller (2001) vermutet, dass der Faustkeil mit sexueller Selektion zu tun hat, weil er in riesiger Zahl hergestellt wurde und oft unpraktisch war, zum Teil zu groß, zum Teil zu klein für den handlichen Gebrauch. Ein Design, das sich über eine Million Jahre unverändert erhält, kann nach Millers Ansicht nicht allein aus der praktischen Nutzbarkeit erklärt werden, sondern muss darüber hinaus eine ästhetische Funktion, vermutlich als Werbeangebot, gehabt haben. Hier wird erneut unsere These bestätigt, dass die menschliche Kultur mit der Vergegenständlichung in Form der Herstellung überdauernder Objekte beginnt. Und weiterhin gilt: von Anfang an finden wir Spiel und Ästhetik, ohne die menschliche Kultur nun einmal nicht denkbar ist.

Eine weitere Perspektive menschlicher Ästhetik betrifft die Naturliebe. Da wir ein Teil der Natur sind, fühlen wir uns wohl in ihr und finden sie bzw. bestimmte Aspekte von ihr „schön“. Manche meinen, dass die Savannenlandschaft, in der unsere Vorfahren lebten, als schönste Landschaft eingestuft wird. Das ist sicher nicht richtig. Andere behaupten, dass Naturschönheit mit dem Auffinden eines günstigen Lager- oder Wohnplatzes zu tun hat (Ruso et al. 2003). Empirisch nachgewiesen ist die Bevorzugung bestimmter Landschaftsmerkmale, wie das Vorhandensein von Wasser, großen Bäumen, halboffenen Räumen, das Ganze in mäßig bis hoher Komplexität der Landschaft. Solche Merkmale fanden sich auch bei einem als ideale (schönste) Landschaft bezeichnetem Computerbild, in dem alle positiven Komponenten zusammengefügt worden waren. Da aber Frühmenschen in recht unterschiedlichen Naturumgebungen aufwuchsen, liegt die Vermutung nahe, dass die genannten Landschaftsmerkmale bereits sekundärer Art sind und auf unsere gemeinsame (westliche) Kulturgeschichte zurückgehen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass unser Wohlgefallen an der Natur evolutionäre Wurzeln hat. Wenn wir uns in einer schönen Naturumgebung von den ersten warmen Sonnenstrahlen bescheinen lassen, so unterscheiden wir uns nicht von der Katze, die auf einem warmen Stein liegt und sich den Pelz von der Sonne wärmen lässt. Naturverbundenheit und Freude an den Schönheiten der Natur haben also sicherlich mit unserer Vergangenheit während der Entwicklung zum Homo zu tun, aber alle Vorlieben und alles „ästhetisches Wohlgefallen“ an der Natur sind kulturell überformt. Es gibt Menschen, die die verschneite Gebirgswelt als besonders schön empfinden und andere, die eine „Schneephobie“ haben. Hängt unser Wohlgefallen an der Schneelandschaft mit Genen, die uns unsere in der Eiszeit lebenden Vorfahren vererbt haben, zusammen? Wohl eher nicht. Wir müssen, wie in anderen Bereichen, das Zusammenwirken von Evolution, Kultur und individueller Entwicklung zu Hilfe nehmen, um zu einem besseren Verständnis zu gelangen.

Am Rande sei noch auf die gegenwärtige Mode hingewiesen, den Urlaub möglichst unter Palmen am Meer zu verbringen. Hier haben wir einerseits die Sehnsucht nach einer Landschaft vor uns, die Pflanzen mit Wärme und Wasser verbindet und wohl in der Tat unser evolutionär begründetes Wohlbehagen in der Natur anspricht. Andererseits hat das moderne Fernweh mit der Präferenz des Neuen vor dem Vertrauten und der Variation der Umwelt zu tun. Diese Neigung haben wir ja bereits im Zusammenhang mit der sexuellen Selektion als eine Basis für das Ästhetische kennengelernt.



11.5 Ästhetik und Kultur

Das Thema Ästhetik und Kultur ist so umfangreich, dass man damit hundert Bände füllen könnte. WarumalsodiesesUnterfangen? WirwollenunsdemThemaÄsthetikaufderBasis der bisherigen „evolutionsverträglichen“ Definition von Kultur nähern. Dabei versuchen wir zwei Fragen zu beantworten, nämlich: wie wird das Ästhetische zum Bestandteil der Kultur und wie wird es von ihren Mitgliedern aufgenommen und übernommen?



Aneignung–Vergegenständlichung

Kultur erscheint uns im engeren begrifflichen Sinne als das Universum von Kunst, Musik, Literatur, Tanz und Sport. Ein Gegenstück zu diesen künstlerischen Bereichen wären die Wissenschaften, die hier nur sekundär von Bedeutung sind (s. aber Kap. 13). Das Künstlerisch-Musische der Kultur ist ein Produkt der Vergegenständlichungen ihrer kreativen Mitglieder. Die Freude und das „Wohlgefallen“ an diesen Kulturgütern ist ein Prozess der Aneignung. Damit sind wir bei den in Kap. 6 dargestellten Grundkomponenten menschlichen (kulturellen) Handelns. Das Ästhetische in der Kultur akzentuiert die subjektivierende Aneignung und Vergegenständlichung. Maler und Musiker schaffen ihre Gegenstände aus ihrem persönlichen Wissen, ihren eigenen Anliegen, Wünschen und Zielen (subjektivierende Vergegenständlichung). Die Rezipienten eignen sich das Ästhetische, das die Kultur zu bieten hat, an, indem sie es zu etwas Subjektivem machen, zu einem ästhetischen Erlebnis, das nur sie selbst, jeder auf seine Weise, an sich erfahren (subjektivierende Aneignung). Der Künstler vergegenständlicht also subjektivierend, der Betrachter oder der Hörer eignet subjektivierend an.

Vergleicht man den Künstler (auch Musiker, Tänzer etc.) mit dem Wissenschaftler, so liegen beide Gruppen einander diametral gegenüber: Künstler vergegenständlichen subjektivierend, Wissenschaftler eignen objektivierend an, sie wollen ja Gesetze der Natur, so wie sie „wirklich“ sind, also objektiv, erfassen und verstehen. In Tab. 11.1 sind noch die technische Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse als objektivierende Vergegenständlichung und die ästhetische Wahrnehmung des Rezipienten als subjektivierende Aneignung eingefügt.

Tab. 11.1 Aneignung und Vergegenständlichung bei Künstlern und Wissenschaftlern




Aneignung

Vergegenständlichung

Objektivierung

Wissenschaftler: Erkenntnis als objektivierende Aneignung

Praktische Anwendung: technische

Umsetzung = objektivierende

Vergegenständlichung


Subjektivierung

Rezipient: Ästhetische

Wahrnehmung als subjektivierende

Aneignung


Künstler: Kunstwerk als subjektivierende Vergegenständlichung

Zur Funktionalität des Ästhetischen

Die vier Grundkomponenten des Handelns gelten für alle kulturellen Erscheinungen. Was macht nun die Besonderheit des Ästhetischen aus? Es erscheint sowohl in der Evolution wie in der Kultur überflüssig und spielt doch eine zentrale Rolle. Eine Antwort bietet ein interessanter Ansatz, den Menninghaus (2003) vorgestellt hat. Er versucht die Ästhetik Kants mit Aspekten der Ästhetik in der Evolution zu verbinden, indem er nach den Funktionen des Ästhetischen fragt. Menninghaus präsentiert acht Funktionshypothesen, in denen evolutionstheoretische Überlegungen mit der Kant’schen Auffassung von Ästhetik in Beziehung gebracht werden.



  1. Einstimmen und Optimieren mentaler Operationen

Spiel und ästhetische Praktiken dienen einer Optimierung, Koordination und wechselseitigen Abstimmung von Verhaltensdispositionen. Hier ist die Verbindung zur Evolution unmittelbar gegeben, denn das Spiel als Verhaltensrepertoire reicht weit in die Phylogenese zurück.

  1. Passung von Subjekt und Natur

Menninghaus zitiert Kant, der sagt: „Die schönen Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe.“ Evolutionstheoretisch ist in der Menschheitsgeschichte ein Konflikt zwischen Natur und Mensch entstanden. Unsere biologische Ausstattung ist immer noch die des steinzeitlichen Jägers und Sammlers. Unsere ästhetischen Präferenzen tragen in sich eine alte Erbschaft: naturbelassene Habitate werden als schön bewertet. Hier wäre die Liebe zur Natur begründet (Biophilie-Hypothese). Diese Hypothese haben wir bereits im vorigen Abschnitt kennengelernt.

  1. Widerstand gegen den „Begriff“

Ästhetische Wahrnehmung sperrt sich gegen logisch distinkte Analyse. Das zeitigt einen Gewinn an sinnlicher Komplexität und Ganzheitlichkeit. Logisch-begriffliche Informationsverarbeitung ist vorwiegend in der linken Gehirnhälfte, ästhetische Wahrnehmung und Verarbeitung in der rechten Gehirnhälfte lokalisiert. Ästhetik enthält ein „Widerstandspotential“ gegen die Dominanz der Begrifflichkeit. Denkt man an den Werkzeugmacher Homo sapiens, so wäre das Logisch-begriffliche die reine Funktion des Werkzeugs, seine Verzierung und Bemalung das Ästhetische, das sich gegen die reine Funktion sperrt und „Überflüssiges“ hinzufügt.

  1. Kognitive Vorteile

Aus evolutionstheoretischer Perspektive arbeitet Kunst dem Anbahnen und Bereitstellen neuer kultureller Adaptationen zu: Durchspielen von Möglichkeiten, Entwerfen neuer Realitäten. Dieser von Kant angeführte erweiternde Aspekt der Kognition hat mit dem Spiel, vor allem dem Als-ob-Spiel, zu tun, das fiktive Realitäten entwirft und sich in ihnen bewegt.

  1. Produktive Einbildungskraft

In Weiterführung dieser Idee geht es um die Funktion des Imaginären. Die produktive Einbildungskraft, die wir oben als subjektivierende Vergegenständlichung kennengelernt haben, erzeugt imaginäre Welten, die täuschungsanfällig und interpretationsbedürftig sind (Literatur, bildende Kunst, Musik). Dadurch entsteht eine flexible Reaktion auf neue Herausforderungen. Hierbei ist aus unserer Sicht das Spiel amWerk, dessenFunktionjainderflexiblenundraschenReaktionaufneueSituationen gekennzeichnet wurde (s. Kap. 10).

  1. Ästhetischer Commonsense

Einübung in soziale Gefühlsskripte und Handlungsdispositionen. Ästhetische Urteile erfordern nach Kant die Zustimmung der anderen. Die Partizipation an gemeinsamen Glaubenssystemen, ästhetisch elaborierten Riten und symbolischen Objekten entschärft den Kampf um Ressourcen (Nahrung, Revier, Nachwuchs etc.). Idealbildung und verehrte Kultobjekte ermöglichen auch den Unterprivilegierten Identifikation mit der herrschenden Kultur. Der ästhetische Commonsense gewährleistet gemeinsame Gefühlslagen und Präferenzen.

  1. Schule der Täuschungen

Täuschungen in Bild und Wort sind ein Kernstück der Ästhetik (Illusion, Als-ob, „der schöneSchein“). SieverhelfenschonimTierreichzuadaptivenVorteilen. SichEinlassen auf ästhetische Täuschungen führt zu kollektiven und individuellen Selbstillusionen, die dem Wohlbefinden der Gruppe und des Einzelnen dienen und aus dem Alltag herausheben. Auch hier liegt der Bezug zum Illusions-, Rollen- und Regelspiel sowie zum Ritual nahe. Das Ästhetische dient der mentalen Hygiene. Die reale Welt wird durch Illusion und Selbsttäuschung von Zwängen befreit, das Ästhetische eröffnet mehr Freiheitsgrade.

  1. Leistung des Paranormalen

Paranormale Fähigkeiten und Zustände (Rausch, Trance, Flow) sind in allen Kulturen etabliert und evolutionär in dem Sinne adaptiv, als sie zu Lösungsvorschlägen in Krisen führen können (Orakel, Priester, Schamanen). Hier wird eine enge Verbindung zum Religiösen hergestellt. Bereits die frühe Kunst der Skulpturen, die in der Schwäbischen Alb gefunden wurden, dürfte religiösen Charakter gehabt haben. Die meisten Bauten früherer Hochkulturen dienten religiösen Zwecken. Dieser Aspekt des Ästhetischen macht verständlich, warum auch bei uns bis zur Renaissance die religiöse Kunst dominierte.

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