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Kinder auf Zeitreise: Handlungsorganisation und Handlungskontrolle



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Kinder auf Zeitreise: Handlungsorganisation und Handlungskontrolle

Wir haben in einem früheren Kapitel die erstaunlichen Leistungen des Homo heidelbergensis vorgestellt. Er war bereits in der Lage, einen Speer herzustellen, dessen Vollendung mindestens eine Woche benötigte. Die hypothetischen Arbeitsschritte sind in Tab. 3.4, Kap. 3 aufgelistet. In der menschlichen Evolution tritt also Handlungsorganisation frühzeitig auf. Wie bereits dargestellt, bedurfte es zur Werkzeugherstellung dieser Komplexität der Fähigkeit, Bedürfnisse aufzuschieben, Handlungsschritte in der Vorstellung zeitlich zu ordnen und sie dann in der richtigen Reihenfolge auszuführen.

Es ist also von unserem EKO-Modell her zu erwarten, dass diese Fähigkeit auch in der Ontogenese frühzeitig auftaucht. Doris Bischof-Köhler (2000) hat an Vorschulkindern interessanteUntersuchungendurchgeführt, dienachweisen, dassVier-bisFünfjährigeschon fähig sind, eine Abfolge von Handlungen, die für eine Zielsetzung benötigt werden, richtig zu planen und durchzuführen. Unter anderem führte sie zwei Experimente durch: das „Einkaufen-Planen“ und „Übernachtung bei der Großmutter“. Beim Einkaufen-Planen sollte das Kind angeben, welche Dinge man zum Einkaufen braucht. In einem späteren Versuch, der erst nach Bearbeitung anderer Aufgaben folgte, legte man den Kindern mehrere Gegenstände vor (unter anderem Einkaufstasche, nicht funktionierende Taschenlampe, Trinkglas, durchsichtiges Portemonnaie, Schere). Nun sollte das Kind auswählen, was es zum Einkaufen mitnehmen würde. Diese zweite Aufgabe verlangt die Blockade des Ergreifens attraktiver Gegenstände und ist deshalb trotz des Wissens, was man nicht braucht, schwerer zu meistern. Die Übernachtung bei der Großmutter verlangte selektives Planen. Ein kleiner Bär hat eine Reihe von Gegenständen, die er beim Zubettgehen braucht. Eines Tages plant er, bei der Großmutter zu übernachten. Dort befinden sich aber bereits einige der Gegenstände, sodass der Bär nur die fehlenden Sachen auswählen und mitnehmen muss. Erst 50% der Viereinhalb bis Fünfjährigen löste diese Aufgabe richtig.

Planungsaufgaben dieser Art erfordern zwei Kompetenzen: Umgang mit und Verständnis von Zeit sowie exekutive Kontrolle. Um die richtigen Dinge zum Einkaufen auszuwählen, muss man den Einkaufsvorgang selbst vorwegnehmen, also ein zeitlich späteres Ereignis, das zusätzlich noch fiktiv ist (stell dir vor, du wolltest zum Einkaufen) zu dem jetzigen in Beziehung zu setzen. Die Übernachtung bei der Großmutter verlangt die Vorwegnahme der Ankunft und der Vorstellung der dort befindlichen Gegenstände. Die exekutive Kontrolle beinhaltet zum einen bei beiden Aufgaben, dass man dem Impuls, attraktive Gegenstände auszuwählen, widerstehen muss und die Handlung auf die „richtigen“ Gegenstände einschränkt. Zum andern gehört natürlich zur exekutiven Kontrolle, die Schritte in die richtige Reihenfolge zu bringen und auszuführen. Wie die Evolution einst die Werkzeugmacher der Altsteinzeit zur Handlungsorganisation befähigte, so sorgt sie in der Ontogenese frühzeitig für den Aufbau dieser Kompetenz.

Befassen wir uns noch etwas näher mit der Fähigkeit des Bedürfnisaufschubs, die bei den Werkzeugmachern der Frühzeit und dem Kind gleichermaßen notwendig ist. BischofKöhler (2000) führte auch hierzu Experimente durch. In der einen Versuchsanordnung erhielt das Kind ein Geschenk, das es aber erst öffnen durfte, wenn die Sanduhr abgelaufen war. Zwischen dem Alter von vier bis fünf Jahren nahmen die „Manager“ stark zu, die es verstanden, sich durch Spiel abzulenken, die Sanduhr aber im Auge zu behalten und so die Wartezeit und damit den Bedürfnisaufschub zu „managen“. In einem anderen Experiment wurden die Kinder einem Motivkonflikt ausgesetzt. Sie befanden sich gleichweit von einer Videodarbietung und einer Smartie-Maschine entfernt, die in unregelmäßigen Abständen Süßigkeiten auswarf. Wenn man eine Dose richtig platzierte, konnte man die Smarties auffangen, ansonsten fielen sie in einen unzugänglichen Behälter. Die optimale Lösung für den Motivkonflikt zwischen Süßigkeiten und attraktivem Videofilm bestand also darin, die Dose richtig an die Smartie-Maschine zu positionieren und sich ganz dem Videofilm zu widmen, denn inzwischen sammelten sich die Smarties auch ohne Zutun des Kindes an. Dies erforderte, sich nicht durch das Geräusch der herabfallenden Smarties ablenken zu lassen. In der Tat gab es Kinder, die resistent gegenüber der Versuchung waren, zum Apparat zu laufen. Allerdings zeigen die Befunde, dass es schwerer ist, den eigenen realen Handlungsimpuls zu unterdrücken, als nur zu wissen, dass man eines der beiden Bedürfnisse aufschieben kann. Wenn Bedürfnisse sehr stark sind, genügt das Wissen um den Vorteil des Aufschubs (oder Verzichts) auch bei Erwachsenen nicht, um den Handlungsimpuls zu blockieren. Man denke an Suchtverhalten, aber auch an ganz gewöhnliches Konsumverhalten.

Zum Bedürfnisaufschub und Widerstand gegen eine Versuchung hat schon Jahrzehnte früher Mischel mit seinen Mitarbeitern (1972, 1989) Experimente durchgeführt. Die Kinder konnten wählen zwischen einer sofortigen kleinen Belohnung (Süßigkeit) und dem Warten auf eine spätere, aber größere Belohnung. Kindergartenkinder taten sich meist schwer, die sofort verfügbaren Süßigkeiten nicht zu nehmen. Fragte man sie jedoch, wie es ein kluges und ein dummes Kind machen würde, so antworteten sie bereits richtig. Das Wissen kommt vor der Fähigkeit zur Kontrolle der eigenen Bedürfnisse. Kinder entwickeln auch Strategien, wie man einer Versuchung widerstehen kann. So schlugen fast 90% der Sechsjährigen das Verdecken der begehrten Belohnung vor. Auch andere Ablenkungsmanöver, wie ein Lied singen, wurden vorgeschlagen. Die für menschliches Planen und Handeln so wichtige exekutive Kontrolle baut sich also früh auf, wobei das Wissen vor der tatsächlichen Handlungskontrolle auftritt. Man vergegenwärtige sich dabei, dass auch Erwachsene Probleme haben, den Erwerb begehrter Objekte aufzuschieben. Selbst wenn der Genuss schädlich ist, wie beim Rauchen, verzichten sie trotz besseren Wissens nicht.

Bischof-Köhler versucht, die im Vorschulalter auftretende Handlungsorganisation durch die drei Faktoren Theory of Mind, Zeitverständnis und exekutive Kontrolle zu erklären. Es ist allerdings nicht einsichtig, was die Theory of Mind zur Handlungsorganisation beitragen soll, sodass die zwei Bedingungen Zeitverständnis und Exekutive Kontrolle hinreichend für die Kompetenz der Handlungsorganisation sein dürften. Es erscheint besser, die Theory of Mind als eigenes Modul anzusehen, das sich im Laufe der Evolution entwickelt hat. Dass sich beides, Theory of Mind und Handlungsorganisation, um die gleiche Zeit entwickelt, hängt wohl mit der biologischen Gehirnreifung zusammen, die bestimmte neue Leistungen ermöglicht.

Verschränkung von Evolution, Kultur und Ontogenese

Wie lassen sich nun gemäß unserem EKO-Modell die drei Säulen von Evolution, Kultur und individueller Entwicklung verbinden? Der Zusammenhang zwischen Evolution und individueller Entwicklung wurde bereits skizziert. Man kann davon ausgehen, dass sich die Theory of Mind und die Handlungsorganisation im Lauf der Evolution des Homo entwickelt haben und fortan dem Menschen zur Verfügung standen. In der Ontogenese können sie aber dennoch nicht bei Geburt auftreten, weil das Gehirn noch nicht voll funktionsfähig ist. Das Faktum aber, dass wir im Alter zwischen vier, fünf und sechs Jahren, also doch erstaunlich früh, die Kompetenzen für die Theory of Mind und die Handlungsorganisation beobachten, spricht für eine genetisch-evolutionäre Basis. Hinzu kommt, dass diese Fähigkeiten, soweit man dies schon auf Grund der Forschungslage sagen kann, in allen Kulturen während der Kindheit auftreten.

Welche Rolle spielt aber dann die Kultur? Zunächst vermittelt sie als vom Menschen gemachte Umwelt die Voraussetzung für die Entwicklung dieser Fähigkeiten, denn ohne die Erfahrung typisch menschlicher Interaktion und Kommunikation gibt es weder Theory of Mind noch Handlungsorganisation. Die Kultur kann gegen das Evolutionsprogramm arbeiten oder es unterstützen. Die westliche Konsumgesellschaft tut alles, um die Exekutivkontrolle menschlicher Bedürfnisse außer Kraft zu setzen. Sie wirbt intensiv für sofortige Bedürfnisbefriedigung. Objekte, die man gerne kaufen möchte, erhält man auf Anzahlung, sodass man nicht warten muss. Auf diese Weise verschulden sich immer mehr Haushalte. Indianische Kulturen waren bekannt dafür, dass dort Selbstbeherrschung, Willensstärke und Bedürfnisaufschub sehr viel galten – ein Gegenprogramm zu unserer Gesellschaft.

Leistungen der Empathie und Theory of Mind sind in kollektivistischen Kulturen stärker gefragt als in individualistischen. In kollektivistischen Kulturen steht die Harmonie innerhalb der Gruppe als wichtiger Wert im Vordergrund. Man muss wissen, ob man mit einer Äußerung sein Gegenüber verletzen könnte, man muss mögliche Konfliktpunkte vorwegnehmen, kurzum, man muss die Theory of Mind der anderen Personen, mit denen man in Kontakt steht, kennen. In individualistischen Kulturen steht die Darstellung der eigenen Position und der eigenen Gefühle im Vordergrund.

Aber auch innerhalb der gleichen Kultur gibt es eine große Variationsbreite der Beeinflussung von Theory of Mind und Handlungskontrolle. Der elterliche Erziehungsstil bei uns bewegt sich zwischen uneingeschränkter sofortiger Bedürfnisbefriedigung und übertriebener Versagung von Wünschen. Schon das Vorhandensein älterer Geschwister modifiziert Auftreten und Intensität der beiden Kompetenzbereiche. So tritt die Theory of Mind früher auf, wenn das Kind ältere Geschwister hat. Die Geschwisterrivalität sorgt auch für die Notwendigkeit, sich gegenüber den Älteren zu behaupten und die Exekutivkontrolle sowie die Handlungsorganisation zu optimieren. Umgekehrt kann es bei Eskalation der Affekte zum Zusammenbruch der Handlungskontrolle und der Theory of Mind kommen. Bei Erwachsenen sagen wir in einem solchen Falle, er kenne sich selbst nicht mehr, was trefflich den Ausfall der Selbstreflexion und -regulation kennzeichnet.

Zum Nachdenken

Aus den in diesem Kapitel ausgewählten Entwicklungsbereichen lässt sich für die Ontogenese festhalten: Wir haben das mentale Rüstzeug für die Entwicklung von der Evolution mitbekommen, die Nutzung erfolgt frühzeitig im Laufe der individuellen Entwicklung, und die Kultur wirkt modifizierend und variierend auf diesen Vorgang ein.



Evolution und Kultur können nicht vorhersagen, was aus dem Individuum wird. Sie geben nur den Rahmen ab, innerhalb dessen sich das Individuum entwickeln kann. Die Psychologie, die sich mit dem Individuum und seiner Entwicklung befasst, kann hingegen bereits bessere Vorhersagen darüber treffen, wie sich ein Individuum entwickelt. Aber auch sie scheitert angesichts der riesigen Zahl von Freiheitsgraden, die dem einzelnen zur Verfügung stehen, an genauen Verhaltensvorhersagen. Dieses Faktum ist ein positives Signal für die menschliche Freiheit. Während die Wissenschaft permanent nach Verbesserung der Vorhersageleistung ihrer Modelle sucht, und die Psychologie über jeden weiteren Schritt der richtigen Verhaltensvorhersage jubelt, sollte man im Gegenteil danach forschen, welche Bedingungen im menschlichen Leben die Vorhersagbarkeit von Verhalten und Erleben verringern und wie sich ihre Varianz vergrößern lässt. Doch davon später.

Gespräch der Himmlischen

Aphrodite: Ihr wisst, ich habe es gern mit einzelnen Sterblichen zu tun, nicht mit der Menschheit als Ganzem. So war mir das Verständnis von Kultur als Universum von Gegenständen zu abstrakt. Jetzt empfinde ich Harmonie zwischen Kultur und dem kleinen Kind, das so frühzeitig die Objektpermanenz aufbaut und bei der gerichteten gemeinsamen Aufmerksamkeit die interessanten Dinge, die es in der Kultur gibt, kennenlernt. Das passt!

Apoll: Als Freund der Kunst und Musik möchte ich hervorheben, dass die Musik vor der Sprache entstanden ist. Vielleicht haben sich die Vormenschen durch Singen verständigt. Singsang und Geste, aus der ja ebenfalls die Sprache entstanden ist, sind mir fast lieber, als sprachliche Verständigung allein, vor allem, wenn sie so monoton wie bei den heutigen Europäern ist. Da lobe ich mir das griechische Theater, nicht nur weil wir Götter darin eine wichtige Rolle spielen, sondern weil es in der „Musike“ Sprache und Musik vereint.

Athene: Mich beschäftigt das Thema Kausalität. Es ist gewiss ein sehr nützliches evolutionäres Geschenk, aber es zwingt die Menschen dazu, immer nach Ursachen suchen zu müssen. Letztlich sind wir als Erfindung der Menschen ja auch ein Produkt der Kausalität, denn aus Ermanglung anderer Erklärungen mussten wir für Naturereignisse, Kriegsverläufe und als Glückbringer herhalten. So fällt es Menschen ungeheuer schwer, sich mit akausalen Vorgängen auseinanderzusetzen. In der Quantenphysik ist es aber schwierig, Kausalzusammenhänge zu finden. Teilchen erscheinen plötzlich aus dem Nichts (sog. virtuelle Teilchen) und verschwinden wieder. Ja, das gesamte Universum entstand nach Meinung vieler gescheiter Leute aus dem Nichts. In den Feynman-Diagrammen, die der berühmte Quantenphysiker Feynman entwickelt hat, kanndieZeitauchrückwärtslaufen. DaswäregegenjedesKausalverständnis, weilUrsache und Wirkung ja in zeitlicher Reihenfolge geordnet sind. Soll man den Menschen raten, nicht alles auf die Karte Kausalität zu setzen?

Dionysos: Ob Kausalität nur ein praktisches nützliches Prinzip ist oder tatsächlich die Wirklichkeit bestimmt, ist für mich sekundär. Wenn wir uns in der Natur damit besser zurechtfinden und uns das Leben angenehmer machen können, soll mir das genügen. Im Übrigen sollten die Menschen nicht größenwahnsinnig werden. Ihre Erkenntnisfähigkeit ist und bleibt beschränkt, Wenn ich abends die schönen Nymphen beobachte, taucht in meiner Nähe ein Frosch auf und quakt aus Leibeskräften. Er ist mit seiner Welt zufrieden und hat auch eine Weltsicht. Sie ist beschränkt, aber sie reicht ihm zum Überleben. Ob der Mensch auch begreift, dass seine Weltsicht analog zu der des Frosches begrenzt ist?

Apoll: Immerhin hat der Mensch ein einmaliges Instrument zur Verständigung und zur Konstruktion von Wissen: die Sprache. Wenn man der Beschreibung der Sprachentwicklung des Kindes Glauben schenken darf, dann gilt sie nur für Homo sapiens. Aliens könnten sie nicht lernen, ebenso wenig wie Menschen die Sprache von Aliens erwerben könnten. Wir brauchen also Übersetzungsmaschinen. Sie sind, wie ScienceFiction-Autoren berichten, gewöhnlich als Kästchen umgehängt und baumeln auf der Brust.

Dionysos: Meinen Wein würden die Aliens aber gerne trinken und unsere Feste mitfeiern.

Aphrodite: Und von Schönheit würden sie auch was verstehen.

Athene: OhihrNaiven! Nichtsdavonistrichtig. Alienshättennichtnureinefremdartige Sprache, sondern auch andersartige Nahrungspräferenzen und Schönheitsideale. Doch von der Ästhetik werden wir später noch mehr hören.

Aphrodite: Die sogenannte Theory of Mind spricht mich besonders an, weil Kinder schon so früh sich in die Gemüter und Überzeugungen anderer einfühlen können. Das ist wichtig für die sozialen Beziehungen, erst so werden sie zu menschlichen und damit göttlichen Beziehungen, göttlich, weil man dem anderen ins Herz schauen kann.

Apoll: Mir imponiert die frühe Impulskontrolle und Fähigkeit zur Handlungsorganisation. Hier wird der junge Mensch apollinisch, wie Friedrich Nietzsche es formuliert hat. Der Mensch nähert sich frühzeitig meinem Wesen und das freut mich.

Dionysos: Er ist und bleibt auch dionysisch. Kinder streifen sich erst allmählich die Zwangsjacke moralischer Verhaltensregeln über. Ein nettes Beispiel hierfür habe ich in einem Aufsatz von Nunner-Winkler und Sodian (1988) gelesen. Fragt man Vorschulkinder, ob eine aggressive Handlung böse oder gut ist, so geben sie die richtige Bewertung ab. Fragt man jedoch, wie sich der Täter gefühlt habe, so antworten die Jüngeren, dass er sich gut, toll fühlt. Später schreiben sie dem Täter dann ein schlechtes Gewissen zu. Die jüngeren Kinder sind noch ehrlich.

Apoll: Das ist so nicht richtig. Schuld und Scham entstehen nicht einfach aus der Übernahme gesellschaftlicher Normen. Freud hat bekanntlich Schuld und Scham mit der Bildung des Überichs erklärt, das durch die Introjektion, die Hereinnahme des Vaters in die eigene Psyche entsteht. Wer damit nichts mehr anfangen kann, mag sich an die Deutung von Norbert Bischof halten. Bischof (2000) argumentiert von den Mythen her und setzt sie zur menschlichen Entwicklung in Beziehung. Im Vorschulalter, so meint er, trennen sich das Männliche und Weibliche voneinander, die vormals eine Einheit gebildet haben und in der sich das Kind eingebettet und geborgen fühlte. Durch die Trennung Vater – Mutter sieht sich auch das Ich des Kindes herausgelöst aus der ursprünglichen geborgenen Einheit, es kommt zur Entfernung vom Vater und dem späteren Versuch, ihn wieder in ein Bezugssystem zu integrieren. Die Entfremdung vom bedrohlichen Vater belegt Bischof unter anderem durch unsere eigene griechische Mythologie. Die Erdmutter Gaia stiftet ihren jüngsten Sohn Kronos an, Uranos mit einer Sichel zu entmannen, was er auch tut. Aber Kronos geht es nicht besser. Da ihm geweissagt wurde, dass seine Söhne ihn entthronen würden, verschlingt er einen nach dem andern. Doch Rhea gelingt es, Kronos einen Stein anstelle des neugeborenen Zeus zum Verschlingen zu geben. Und Zeus entmachtet dann später Kronos. Athene: Diese Verbindung zur Mythologie scheint mir doch etwas weit hergeholt. Apoll: Zugegeben. Aber Bischof und seine Mitarbeiterinnen führten eigene Untersuchungen an Kindern durch, die eindrucksvoll die Trennung von Himmel und Erde mit zunehmendem Alter zeigen. Das männliche (der Himmel) und weibliche (die Erde) Prinzip scheiden sich. Weiterhin demonstriert er an einer Versuchsanordnung mit zwei Bergen und einer Schlucht dazwischen, wie die Vier- bis Fünfjährigen Vater und Mutter trennen und im Spiel die Fremdartigkeit des Vaters zum Ausdruck bringen, während jüngere Kinder im Spiel eher eine harmonische Situation darstellen.

Athene: Das mag den Gleichklang von Mythos und individueller Entwicklung demonstrieren, aber zwingend erscheint mir die Annahme Bischofs nicht. Er müsste uns erst einmal erklären, wieso Menschen überhaupt so etwas Merkwürdiges wie Mythen erfinden, woher die sonderbaren Ungeheuer in den Mythen kommen und warum Menschen ihre Grundthematiken symbolisch in Geschichten über Monster, Götter, Tiere und was weiß ich erzählen und nicht einfach sprachlich direkt zum Ausdruck bringen. Apoll: Hier gibt es in der Tat noch viel zu klären. Einen wichtigen Zugang bildet das Spiel, von dem wir ja im nächsten Kapitel einiges erfahren werden.

Dionysos: Obwohl mir die Mythen gefallen und ihr Bezug zur menschlichen Entwicklung einiges für sich hat, möchte ich doch eure Aufmerksamkeit auf die materielle Seite des Menschen lenken. Es gibt inzwischen neuronale Befunde über die Entwicklung der neuen Leistungen im Vorschulalter. Bei der Theory of Mind ist der mittlere präfrontale Cortex aktiv sowie einige andere Regionen. Man nimmt an, dass dort die Fähigkeit verankert ist, zwischen dem äußeren Verhalten eines Akteurs und seiner Vorstellungswelt zu unterscheiden. Dies ist nur möglich, wenn das Kind beides bei sich repräsentiert, also in der eigenen Vorstellung diese Unterscheidung treffen kann.

Aphrodite: Das ist mir zu kompliziert, du redest doch sonst nicht so. Außerdem mag ich nicht, wenn man im Gehirn herumfuhrwerkt. Der Mensch ist ein Ganzes, also betrachten wir ihn auch als Ganzes.

Athene: Es ist schon wichtig zu wissen, wie die Theory of Mind oder die Handlungsorganisation im Gehirn funktionieren. Wenn sich, wie bei der Theory of Mind, zeigen lässt, dass dabei bestimmte Gehirnpartien funktional miteinander verkoppelt sind und wenn sie in einem bestimmten Alter, etwa mit vier bis viereinhalb Jahren, zu arbeiten beginnen, dann liegt der Schluss nahe, dass es sich um eine angeborene Funktionseinheit, um ein Modul handelt, das nach seiner Reifung zu arbeiten beginnt.

Dionysos: Das würde den Zusammenhang zwischen Evolution und Ontogenese auch naturwissenschaftlich untermauern. Aber noch einmal zurück zu den Polen apollinisch und dionysisch. Wenn die Kultur nur zulässt, dass sich der Mensch nur apollinisch entwickeln darf und nicht dionysisch, wird er zu einer Karikatur seiner selbst. So etwas hat das Christentum versucht und ist gescheitert. Das Dionysische gehört zum Menschen. Lassen wir es ihm und lassen wir es uns!

Alle: Wir stimmen zu von fern und nah – bei Nektar und Ambrosia!

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Mischel, W., Ebbesen, E. B

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