12.1 Zur Evolution des Religiösen
Heute ist man sich mehr oder minder einig, dass Religionen ihre Wurzeln in der Evolution haben. Es gibt Hinweise, dass bereits Neandertaler Totenbestattung und Grabbeigaben kannten(s. Kap. 4), abersichersinddieHinweisefürReligionbeimHomosapiensauseiner Zeit vor 70.000 Jahren. Wie entsteht religiöses Denken in der Evolution? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es von drei Seiten her eine Annäherung:
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Religion als Vorteil für das Überleben der Gruppe,
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Neurologische Manifestation des Religiösen und
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Religion als Folge der psychischen Verfasstheit des Homo sapiens.
Hatte Religion in der Frühzeit Vorteile für das Überleben menschlicher Gruppen?
Diese Frage geht vom funktionalen Religionsbegriff aus. Wenn Religion ein Erzeugnis der Evolution ist, muss sie eine positive Funktion für die Gruppe gehabt haben. Dies gilt sogar, wenn Religion ein Nebenprodukt, ein Nebeneffekt, der Evolution ist. James Dow (2008) präsentiert drei Theorien, die von verschiedenen Autoren entwickelt wurden. In allen Theorien wird vorausgesetzt, dass der Ausgangspunkt die Entwicklung des Gehirns und seiner adaptiven Funktion war. Durch die Nutzung von Symbolen in der Kommunikation, wie Sprache, religiösen Symbolen oder Machtsymbolen, konnte in einer Gruppe (Horde) ein gemeinsames Verständnis aufgebaut werden. Ideen, auch religiöse Ideen, entstammen immer einzelnen Gehirnen, aber dadurch, dass sie kommuniziert werden können, entstehen gemeinsames Wissen, gemeinsame Werte und Glaubensüberzeugungen.
Die erste Theorie, die entwickelt wurde, nennt sich ökologische Regulationstheorie. Sie ist vor allem mit Rappaport (1984) verbunden. Er nahm an, dass sich Religion entwickelt habe, um „Kontrollsignale“ an die Gruppe (Horde) über ihr Verhältnis zur Natur zu vermitteln. Nur die Religion habe die emotionale Macht zur Veränderung einer Gruppe und ihres Verhältnisses zur Natur.
Ein zweiter Ansatz ist die Commitment-Theorie. Sie beginnt ihre Argumentation mit dem Paradoxon, dass Religion rational und zugleich irrational ist (Sosis 2004). Sie ist rational insofern, als sie die Menschen zur erfolgreichen Kooperation in der Gruppe führt, aber irrational insoweit, als sie den Glauben an übernatürliche Mächte verlangt, die nicht
12.1 Zur Evolution des Religiösen
verifizierbar sind. Personen, die anderen eine nicht überprüfbare Wahrheit vermitteln, signalisieren, dass man ihnen vertrauen kann. Irrationale Überzeugungen bildet analog zu den Fitnessmerkmalen bei Tieren ein kostspieliges aufwändiges Signal. Deshalb erscheint es glaubwürdig. Warum sonst sollte man kostenaufwändige Signale senden? Wie in der Tierwelt ein Fitnesskriterium gewissermaßen als Werbung dient, so sind Religionen Werbung für Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Vertrauen optimiert die Kooperation in der Gruppe.
Die dritte Theorie ist ein kognitiver Ansatz. Er geht von der Frage aus, warum Religionen so populär und weithin akzeptiert sind, und erklärt dies durch eine genetisch prägende Wirkung. Atran (2002) nennt vier Komponenten, die religiöse Überzeugungen attraktiv machen:
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Sie befriedigen das Bedürfnis nach einer Erklärung für das Bestehen der Welt und dereigenen Existenz.
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Sie präsentieren leicht zu merkende Geschichten.
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Sie erzeugen sinnstiftende und therapeutische Zustände im Gehirn.
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Sie bieten schöne Rhythmen und Klänge an.
Noch wichtiger als diese inhaltlichen Komponenten ist die Annahme, dass Religion nicht ein in sich abgeschlossenes Modul im Gehirn bildet, sondern dass es im Laufe der Evolution von unterschiedlichen Einflüssen her auch zu verschiedenen neurologischen Anteilen von Religiosität kam. Atran und andere Vertreter einer kognitiven Theorie von Religion führen eine Reihe von Gründen an, die mit der psychischen Struktur menschlichen Bewusstseins zu tun haben. Sie sollen im Folgenden erweitert und in Form von vier Wurzeln der Religion systematisiert werden.
Konkrete historische Hinweise auf die Entstehung der Religion glaubt Rossano (in Voland und Schiefenhövel 2009) gefunden zu haben. Der Vulkanausbruch des Toba auf Sumatra vor ca. 73.000 Jahren führte zu einer plötzlichen Eiszeit. Nur Menschen, die zu neuen und besseren Wegen der Kooperation fanden, konnten überleben. Sie erdachten sich göttliche Mächte, die moralische Regeln des Zusammenlebens vorschrieben. So wurde sichergestellt, dass niemand wagte, diese Regeln zu übertreten. Als Beleg führt Rossano an, dass man seit dieser Zeit die ersten Hinweise auf religiöse Symbolik (Totenbestattung, Speerspitzen als Opfergaben, gravierte Ockerstücke) findet. Diese Hypothese ist sehr spekulativ. Ein deutlich belegbarer Zusammenhang mit der Katastrophe und dem Auftauchen von Hinweisen auf religiöse Praktiken existiert bislang nicht. Man kann aber generell annehmen, dass Gruppen mit Religionen bessere Überlebenschancen hatten, da die Religion die Kooperation optimierte und absicherte.
Die Psyche des Homo sapiens als Schöpferin der Religion
Die Funktion, die Religionen für die Stabilität und den Erhalt der Gruppe haben, erklärt überhaupt nicht, wieso der Mensch zur Konstruktion von Religionen kommt. Sucht man nach kognitiven Leistungen, die religiöses Denken ermöglichen, so gehen sie in der Hauptsache auf vier Wurzeln zurück:
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Ichbewusstsein und mentale Zeitreise,
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Erklärung der Welt als Ergebnis von Akteuren,
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Unterwerfung unter einen Führer und
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Erlebnisse der Ich-Umwelt-Verschmelzung.
Erste Wurzel: Ichbewusstsein und mentale Zeitreise. Irgendwann im Laufe der Entwicklung des Menschen hat sich das Ichbewusstsein herausgebildet. In der Ontogenese taucht es mit etwa 1 ½ Jahren auf. Dann erkennt sich das Kind im Spiegel, was man durch den Roten-Fleck-Test nachweist. Man bringt, ohne dass das Kind es merkt, einen roten Tupfer auf seine Nase. Deutet es beim Anblick seines Spiegelgesichts auf die eigene Nase, so kann man daraus schließen, dass es sich im Spiegel erkennt und damit ein Ichbewusstsein besitzt. Auch bei Schimpansen, Delphinen und Elefanten funktioniert der Spiegelversuch. Beim Menschen kommt aber zusätzlich eine Fähigkeit hinzu, die Tiere nicht zu haben scheinen: die Zeitreise. Ab etwa vier Jahren sind Kinder in der Lage, sich geistig in der Zeit vorwärts und rückwärts zu bewegen. Ab da entsteht das Wissen, dass man auf die Welt kam und vorher noch nicht existiert hat, und dass man eines Tages nicht mehr existieren wird. Die gedankliche Vorwegnahme des Todes ist schwer erträglich und bedarf der Erklärungen sowie der Verarbeitung der Angst vor dem Tod. Religionen bieten verschiedene Lösungen an, wie der ewige Kreislauf des „Stirb und Werde“ oder ein Fortleben nach dem Tode, sei es in einem freudlosen Reich der Unterwelt oder im glücklichen Paradies. Nur höhere Mächte jenseits menschlichen Vermögens erklären und gewährleisten menschliche Existenz.
Zweite Wurzel: Akteure als Erklärungsprinzip. Viele Evolutionsforscher heben hervor, dass der Mensch dazu neigt, Erscheinungen und Wirkungen auf Agenten oder Akteure zurückzuführen. Hier werden zwei Erklärungsprinzipien zusammengeführt: das Kausalprinzip und der Akteur als Verursacher (s. Kap. 9). Einerseits führen wir zwangsläufig einen Effekt auf eine Ursache zurück, andererseits neigen wir dazu, Akteure als Ursache für Effekte anzunehmen. Wir haben in Kap. 9 gezeigt, dass beides, Kausalität und Agenten als Urheber, bereits von Säuglingen verstanden wird. Es handelt sich also höchstwahrscheinlich um ein angeborenes Wissen, das uns die Evolution mitgegeben hat. Es gehört zu unserer Psychostruktur. Alle Erscheinungen der Welt, die jenseits menschlicher Macht stehen, werden so zum Ergebnis der Wirkung höherer Mächte. Sie haben übernatürliche Akteure als Ursache.
Dritte Wurzel: Unterwerfung unter eine Führungsmacht. Homo sapiens ist wie andere frühere Menschenarten ein Herdentier, ein animal sociale, wie Aristoteles bereits erkannt hat. In einer Gruppe gibt es einen Führer, ein Alphatier, und darunter meist eine weitere Ranghierarchie der Macht. Angefangen von der Hackordnung der Hühner bis zu dem Führungstier in Wolfrudeln und den Alphas bei den Schimpansen hat sich das FührungsprinzipinderEvolutionentwickelt. AuchMenschenscharensichumeinenFührer, solange er Probleme der Gruppe erfolgreich angeht. Was aber, wenn er versagt, wie bei Wetter-
12.1 Zur Evolution des Religiösen
katastrophen, bei übermächtigen Feinden und bei dem Bewusstsein, sterben zu müssen? In diesen Fällen konstruieren sich Menschen übernatürliche Führer, deren Können und Potenz das Vermögen des Menschen übersteigen. Es sind Ahnen, Götter, Geister und schließlich der alleinherrschende monotheistische Gott, der keine fremden Götter neben sich duldet. Ob der monotheistische Gott des Christentums, Islams und Judentum tatsächlich eine Höherentwicklung gegenüber anderen Religionen ist, mag man bezweifeln, da er doch ganz offenkundig eine Projektion des ins Unendliche vergrößerten Menschen ist, was manche ironisch als Gipfel der Naivität bezeichnen. Zu diesem Aspekt werden wir im Abschnitt über den Zusammenhang von Kultur und Religion Näheres erfahren. Überirdische Führungsmächte haben in der Regel eine Kontaktperson (Schamanen, Zauberer, Priester) oder eine Vertretung, die der Gruppe bzw. dem Volk die Aufträge der göttlichen Macht vermittelt. Im katholischen Christentum ist diese Person bekanntlich der Papst.
Eine ergänzende Erklärung bietet Dawkins (2007) an. In der Wildnis lebte man als Kind gefährlich, wenn man die Warnungen der Eltern oder anderer Autoritäten missachtete. Gehorsame Kinder hatten größere Überlebenschancen und konnten sich daher auch mehr vermehren als aufmüpfige Kinder. Die Selektion hat wahrscheinlich die Unterordnung unter Autoritäten begünstigt.
VierteWurzel: Ich-Umwelt-VerschmelzungundaußerordentlicheBewusstseinserlebnisse. Die besonderen Bewusstseinserlebnisse, bei denen die Grenzen zwischen Ich und Umwelt aufgehoben sind, werden mehr zu den spirituellen als den religiösen Erlebnissen gezählt. Es macht jedoch keinen Sinn, im Feld der Evolution zwischen beiden Bereichen zu trennen. Die Erfahrung der Aufhebung der Grenzen zur Umwelt werden in verschiedenen Kulturen unterschiedlich herbeigeführt: durch Drogen, Meditation, rhythmische Musik und bei uns durch Arrangements wie Disko, Vergnügungsparks etc. Man muss aber davon ausgehen, dass Frühmenschen kein so ausgeprägtes Ichbewusstsein hatten wie Menschen der westlichen Welt in der Gegenwart. Bei uns ist der Normalfall eine scharfe Trennung, das Ich etwas gänzlich Verschiedenes vom Rest der Welt. Noch jetzt gibt es beträchtliche Unterschiede hinsichtlich dieser scharfen Scheidung, die das Individuum in die Isolation führen kann. Menschen der Frühzeit waren innig mit der Natur verbunden und viel näher an Verschmelzungserfahrungen als heutige Menschen. In Festen und Feiern konnte man zu besonderen Bewusstseinszuständen gelangen, sei es durch Drogen, sei es durch Tanz in Verbindung mit stereotypen Rhythmen.
Neurologische Befunde zur Religiosität
Spannend ist natürlich die Frage, ob sich religiöse Aktivitäten in bestimmten Gehirnregionen wiederfinden. Dem gegenwärtigen Modetrend folgend, sind Neurologen und Neuropsychologen dieser Frage nachgegangen (Kraft, 2003). Ramachandran (2005) prägte die Bezeichnung „Gottesmodul“, denn er fand in einem Areal im Schläfenlappen erhöhte Aktivität bei Meditation und anderen religiösen Erlebnissen. Newberg von der Pennsylvania University und seine Mitarbeiter (2002, 2006, 2009, 2010) untersuchten neurologische Entsprechungen beim Bewusstseinszustand des Einswerdens mit dem Universum (bzw. mit Gott) mit Hilfe der single photon emission computed tomography. Das Orientierungs-Assoziations-Areal (OAA) in den Scheitellappen war bei tiefer Meditation inaktiv. DerlinkeTeildesOAAvermitteltdasGefühlfürdieGrenzendesKörpers, derrechte Teil verarbeitet Informationen über Raum und Zeit. Wenn das OAA abgeschaltet wird, verschwinden die Grenzen von Ich und Umwelt. Newberg vermutet, dass dafür der Hippocampus verantwortlich ist. Bei tiefer Konzentration schaltet er die Informationseingabe ab (Deafferentiation). Das bedeutet, dass keine Reize von außen mehr wahrgenommen werden. Newberg verglich Franziskanerinnen und Buddhisten. Bei den Franziskanerinnen kam es zunächst zur Aktivierung der Sprachzentren, was mit dem Beten, womit sie die Meditation einleiteten, zusammenhing. Danach ergab sich der gleiche neurologische Zustand wie bei den Buddhisten.
Persinger (1987) behauptet, durch Magnetstimulation religiöse Erlebnisse erzeugen zu können. In einer Untersuchung testete er zwei Gruppen, von denen die eine Gehirntraumata erlitten hatte, die andere gesund war. Beide Gruppen berichteten über Besuche von Göttern, Dämonen und sogar Entführungen durch Außerirdische. In der VersuchsanordnungPersingerssitztdieTestpersonalleinineinemschalldichtenabgedunkeltenRaumund trägt einen Helm, der mit Elektroden ausgestattet ist. Ungefähr zwanzig Minuten lang erhalten bestimmte Gehirnregionen der Testperson unregelmäßige Impulse von elektromagnetischenFeldern. EinigePersonenhatteneinenstarkenEindruckvonderGegenwarteines „anderen Bewusstseins“ in ihrer Nähe und fühlten sich berührt oder manipuliert. Andere hatten nur ein schönes Gefühl, aber weniger den Eindruck, dass jemand bei ihnen war.
Dass im normalen Leben ähnliche religiöse Erfahrungen auftreten, erklärt Persinger durch unbemerkte Arten von winzigen Schlaganfällen im linken oder rechten Schläfenlappen, die eine kurze Störung im ansonsten normalen Informationsfluss im Gehirn auslösen. Persinger nimmt an, dass Bewusstseinsaktivitäten kurz von der rechten in die linke Gehirnhälfte übergehen und dadurch ein fremdartiger Bewusstseinszustand und das Gefühl entstehen lassen, eine andere Person sei zugegen. Die Sache hat nur einen Haken: Grandqvist von der Universität Uppsala (zit. nach Linke 2003), der sich ebenfalls mit religiösen Erlebnissen befasst, wiederholte Persingers Untersuchung als Doppelblindversuch und fand keine Unterschiede zwischen Kontroll- und Versuchsgruppe. Bei beiden Gruppen gab es gleichhäufig oder gleichselten religiöse Erlebnisse. Dies hing von der Persönlichkeitsstruktur des Probanden ab. Suggestible Personen hatten unter beiden Bedingungen, neurologische Stimulation und keine Stimulation, mystisch-religiöse Erlebnisse, vermutlich weil die besondere Situation im abgedunkelten Raum und das (unter der Kontrollbedingung) falsche Bewusstsein, elektromagnetisch stimuliert zu werden, zu besonderen Erlebnissen führte.
Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass 1) religiöses Erleben Aktivitäten in bestimmten Gehirnregionen auslöst, was eigentlich trivial ist, und 2) dass religiöse Erlebnisse künstlich durch neurologische Stimulation erzeugt werden können, was nicht trivial ist. Dieser Sachverhalt wird uns bei dem Phänomen des Nah-Tod-Erlebnisses beschäftigen, das wir im Abschnitt über Ontogenese des Religiösen näher kennenlernen werden.
12.2 Religion und Kultur
Die Evolution hat uns mit neurologischen Strukturen ausgestattet, die religiöses Erleben ermöglichen. Man kann annehmen, dass unsere nächsten Verwandten diese Ausstattung nicht besitzen, obwohl wir dessen nicht sicher sein können.
Kapogiannis et al. (2008) untersuchte mit fMRI (funktioneller Magnetresonanztomografie) religiöses Denken und fand, dass die gleichen Areale wie bei der Theory of Mind aktiviert wurden. Dies traf auch beim Gebet zu. Man nimmt daher an, dass das Denken über Gott dem Denken über andere Autoritäten, wie Vater und Mutter, ähnlich ist. Andere Untersuchungen fanden, dass Religion Angstreaktionen reduziert, z.B. zeigten religiöse Menschen bei Fehlern im Stroop-Test eine geringere Erregung des ERN (error-related negativity).
Newberg lässt sich ein Hintertürchen offen: „Wenn es einen Gott gibt, macht es dann nicht absolut Sinn, dass er uns so geschaffen hat, dass wir ihn erfahren und mit ihm kommunizieren können?“ Die Theologen argumentieren ähnlich: Natürlich muss es eine neurologische Basis für religiöse Erfahrungen geben, wie sollte Gott sonst mit uns in Verbindung treten?
Abschließend bleibt festzuhalten: Trotz aller Kritik an den bisherigen neurologischen Befunden zu religiösen Erlebnissen kann man davon ausgehen, dass die neurologische Manifestation religiöser Erfahrungen tief in unserer evolutionärer Vergangenheit verankert ist. Die Lokalisierung relgiöser Erlebnisse in bestimmten Gehirnarealen geschieht nicht von heute auf morgen.
12.2 Religion und Kultur
Die Verzahnung von Evolution und Kultur ist bei dem Phänomen der Religion besonders eng und augenscheinlich. Soziologen und Ethnologen haben lange, bevor sich Evolutionspsychologen mit der Entstehung der Religion beschäftigten, die Funktion von Religionen für Gesellschaften untersucht. Beide Zugänge, Evolution und Kultur bzw. Gesellschaft führen zum gleichen Ergebnis: die Religion dient der Stabilisierung der Gruppe, indem sie Normen des Zusammenlebens von einer höheren Macht her ableitet und damit die absolute Gültigkeit der Normen festlegt. Graham und Haidt (2010) argumentieren, dass sich aus sozialpsychologischer Sicht uneingeschränkt die soziale Perspektive von Religion als Erklärung für ihre Entstehung und Erhaltung anbietet. Sie betonen also die funktionalistische Perspektive der Religion als Mittel der Entwicklung einer moralischen Gesellschaft. Religion ist ihrer Ansicht nach unter anderem mit folgenden moralischen Grundlagen verknüpft: 1) Innengruppe (in-group) und Loyalität dieser Gruppe gegenüber, 2) Autorität und Achtung gegenüber Autoritäten, 3) Reinheit und damit Heiligkeit. Diese Grundlagen stabilisieren und halten die Gesellschaft zusammen.
Norenzayan und Shariff (2008) bieten empirische Belege für die Hypothese, dass Religiosität prosoziales Verhalten fördert, und kostenaufwendige prosoziale Handlungen erleichtert. Untersuchungen zeigen auch, dass religiöses Denken Betrügen beim Spiel reduziert. Im Kulturvergleich gibt es Hinweise, dass ein Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein von über Moral wachenden Gottheiten und der Größe einer Gesellschaft besteht. In großen Gesellschaften gewährleisten Gottheiten, die moralische Gesetze vorschreiben, den Zusammenhalt. Religion bindet ansonsten fremde Menschen aneinander.
Durkheim, der große französische Soziologe, hat sich auch ausgiebig mit der Religion in menschlichen Gesellschaften beschäftigt (Durkheim 1912). Den Ursprung der Religion sieht er in der Wirkung des kollektiven Erlebens, nicht im Glauben an übernatürliche Mächte. Dies widerspricht in gewisser Weise unseren vorherigen Überlegungen zu Psyche des Menschen und der durch sie bedingten Notwendigkeit, religiös zu denken. Die Besonderheit kollektiver Erfahrung in Form von besonderen Bewusstseinserlebnissen in der Masse (Begeisterung, Wut) und die Erfahrung, wie viel weiser und stärker die Gesellschaft als Ganzes im Vergleich zum Einzelwesen ist, führt nach Durkheims Meinung zu Erlebnisformen, die religiöser Natur sind. Religion ist Abbild der Gesellschaft; Kultur und Religion entsprechen sich. Aber da Religion aus der Erfahrung der Macht und Größe der Gesellschaft stammt, betet sich die Gesellschaft auch in der Religion selbst an. Das Sakrale entspricht in der Gesellschaft dem Überich beim Individuum. Religionen bilden in den meisten Kulturen das Gewissen der Gesellschaft. Durkheim spricht vom Zwangscharakter des Religiösen und seiner normativen Macht. Weiterhin besteht aus Durkheims Sicht in allen Gesellschaft die Trennung von profan und heilig. Es gibt Bereiche, die wenig oder nichts mit Religion zu tun haben, und solche, die von der Religion dominiert werden. Es existiert also ein duales Ordnungsschema in der Gesellschaft. Was profan oder heilig ist, bestimmt jeweils die Gesellschaft selbst. Wer einen Gottesstaat errichten will, versucht, auch noch den profanen Bereich der Religion einzuverleiben.
Schon vor Durkheim hat Feuerbach (1849) die Position vertreten, dass Gott die Gesamtheit der Gesellschaft darstellt. Der Einzelmensch wird durch die Gesamtgesellschaft mächtig, gewissermaßenallmächtig. SomitistGottnichtsanderes, alsdasvonallenSchranken befreite Wesen des Menschen. Wie der Mensch denkt, so ist sein Gott. Das Bewusstsein des Menschen ist das Bewusstsein Gottes. Die Erkenntnis Gottes ist nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Menschen. Das Menschliche Bewusstsein ist unendlich und bezieht sich auf das Unendliche. Die wahre Unendlichkeit des Menschen aber besteht in der das Individuum überschreitenden Menschheit, in der Gattung Mensch. In der Gesamtheit der Menschen liegt die Transzendenz. Religion gehört nach Meinung Feuerbachs dem kindlichen Stadium der Menschheit an und geht der Philosophie voraus (siehe hier zu auch Fries, 1979).
Das Wertvolle an der Religion ist für Feuerbach die Liebe zu den Menschen als Gattung. Feuerbach predigt daher Menschenliebe statt Gottesliebe und Glaube an den Menschen statt Glaube an Gott. Feuerbachs Analyse erscheint ethnozentrisch insofern, als er nur die monotheistischen Religionen im Auge zu haben scheint, während die Fremdartigkeit und Vielgestaltigkeit von Gottheiten und Geistern in anderen Kulturen wohl nicht als Eigenschaften der Gesamtgesellschaft aufgefasst werden können.
Max Weber (1934) versucht in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ die Frage zu beantworten, weshalb sich ausgerechnet in den
12.2 Religion und Kultur
Abstrakte Valenz
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Geld
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Monotheistischer Gott
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Allmacht
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Geld verleiht Allmacht
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Göttliche Allmacht
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Vereinigung aller Inhalte
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Geld als Tauschwert für aller Inhalte
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Inbegriff des Guten, Wahren und Schönen
|
Allgegenwart
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Bei allen Handlungen und
Transaktionen beteiligt
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Bei allen Vorhaben,
Handlungen und Ereignissen gegenwärtig
|
Höchster Wert
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Fiktiv als Wert unendlich; irdisch/profan
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Unendlicher Wert; heilig
|
Freiheit
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Geld als Inbegriff von Freiheit
|
Gott als Inbegriff von
(Entscheidungs-)Freiheit
|
Selbstzweck
|
Geld wird im Kapitalismus Selbstzweck
|
Gott ist Selbstzweck, muss sich nicht auf etwas außerhalb von ihm beziehen
|
Anbetung
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Geld, der „Mammon“ wird
angebetet
|
Anbetung Gottes zu seinem Lobpreis
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Tab. 12.1 Gemeinsamkeiten zwischen Geld und Gott angelsächsischen Ländern der Kapitalismus entwickelt hat. Weber erklärt dies durch die protestantische Ethik, insbesondere durch die Prädestinationslehre. Sie besagt, dass wir selbst nichts unternehmen können, um die ewige Seligkeit zu erlangen, sondern diese nur durch einen Gnadenakt Gottes erhalten. Da aber der Mensch nicht untätig angesichts dieser göttlichen Zuweisung bleiben kann, bemüht er sich um wirtschaftlichen Erfolg, denn dieser kann als Zeichen göttlicher Auserwähltheit gelten. Andererseits führt diese Glaubensüberzeugung zur innerweltlichen Askese. Diese Tugend, selbst auf Reichtum und Genuss zu verzichten, bildet eine wichtige Voraussetzung für den Kapitalismus. Denn bei ihm geht es ja darum, den erzielten Mehrwert zu investieren und ihn nicht für das eigene Luxusleben nutzbar zu machen. In der Tat sind die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung von katholischen und protestantischen Staaten in der Neuen Welt eklatant. Sie könnten nicht größer sein.
Die Verbindung von Kapitalismus und Religion führt zwangsläufig zum Vergleich von Geld und Gott. Georg Simmel (1907) hat sich mit der Philosophie des Geldes in seinem gleichnamigen Buch befasst und findet interessante Parallelen zwischen Gott und Geld. Geld und Kapitalismus setzen sich seiner Meinung nach an die Stelle der Religion. Diese neue „Religion“ ist durch Rationalität, durch Werte und Individualisierung gekennzeichnet. Rationalität zeigt sich im permanenten Rechnen, genauso wie in der Rationalisierung der Produktionsweise. Der neue zentrale Wert ist nun das Geld, es erhält im Kapitalismus Selbstzweck. Schließlich vermittelt Geld Freiheit und ermöglicht damit eine noch nie dagewesene Individualisierung.
Es lohnt sich, die Parallele von Geld und Gott noch etwas weiter zu verfolgen. Tabelle12.1präsentierteineGegenüberstellungvonGeldundGotthinsichtlichbestimmter Kategorien.
Auch hier gilt die Parallele nur für den christlichen Monotheismus. Es liegt die Vermutung nahe, dass ein Kausalzusammenhang zwischen christlicher Religion und Geldvermehrung besteht, wie ihn Max Weber annimmt. Wer Gott als absolute unendliche Größe konzipiert, vermag dies auch für das Geld zu tun.
Sofern Religion nur funktionalistisch als Band für Kooperation und Dauerhaftigkeit der Gesellschaft angesehen wird, bleibt dies unbefriedigend, da die Entstehung von Mythen, der Glaube ans Jenseits und an übernatürliche Mächte nicht erklärt werden. Dafür haben wir bereits die Besonderheit der menschlichen Psyche angeführt. Oevermann (2003) versucht, diese Lücke zu schließen. Er unterscheidet zwischen Struktur und Inhalt der Religion. Die Struktur ist universell, der Inhalt kulturspezifisch. Die Struktur von Religion leitet sich seiner Meinung nach von der menschlichen Lebenspraxis ab, in der es zwei Welten gibt, zum einen die repräsentierte Welt der Wirklichkeit, das, was wir für real halten, zum andern die „zeichenhaft repräsentierte“ Welt, die durch die Sprache und andere Zeichensysteme, wie etwa religiöse Symbole, entsteht und die Entwicklung menschlicher Kultur kennzeichnet. Die reale von uns repräsentierte Welt bezieht sich auf das Hier und Jetzt, die zeichenhaft repräsentierte Welt bezieht sich (auch) auf Vergangenheit und Zukunft und deren hypothetische Möglichkeiten. Diese zweite Welt beinhaltet auch das, was hätte geschehen können und was noch geschehen wird. Dabei spielt das Wissen um die Endlichkeit des Lebens eine entscheidende Rolle. Dieses Bewusstsein führt nach Oevermann zu dem Bewährungsproblem, das eine „nicht stillstellbare“ Dynamik hervorrufe.
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