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Intuitive Theorien: manchmal falsch, aber immer nützlich



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9.2 Intuitive Theorien: manchmal falsch, aber immer nützlich

Die Säuglingsforschung hat Erstaunliches zu Tage gefördert. Neben dem Nachweis von Kausalität und Objektpermanenz verfügen Säuglinge, wie wir sahen, über physikalisches GrundwissenundbemerkenswertemusikalischeHörfähigkeiten. VerfolgtmansolcheLeistungen im Vorschul- und Grundschulalter weiter, zeigt sich, dass Kinder eine intuitive Psychologie, Biologie und Physik besitzen. Wir wollen einige dieser Entwicklungen im Überblick kennenlernen. Zuvor sollen aber noch zwei Arten von Erklärungen für das intuitive Wissen der Kinder diskutiert werden. Die eine Erklärung besagt, dass der Mensch mit einem Kernwissen ausgestattet ist, das später nur durch Lernen angereichert wird.

Dieses Kernwissen ist angeboren und bereichsspezifisch. Es existiert also getrennt für physikalisches, biologisches, musikalisches und mathematisches Wissen. Deshalb kann man auch von Modulen für diese Bereiche sprechen, die überlebenswichtig und daher angeboren sind. Diese Erklärung wird vor allem von Spelke (1994) vertreten, die zahlreiche Untersuchungen mit Säuglingen durchgeführt hat.

Die zweite Position besagt, dass sich das Kernwissen in Theorien organisiert und nicht einfach nur mengenmäßig angereichert wird. Dafür sprechen Befunde, dass die Kinder hartnäckig bestimmte Ansichten vertreten, die falsch sind und nicht einmal aufgegeben werden, wenn man sie durch Tatsachen widerlegt. Oft zeigen sich solche intuitiven Theorien auch noch bei Erwachsenen, die sich nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen in der Physik oder Biologie auseinandergesetzt haben.

Nach dem heutigen Erkenntnisstand findet beides statt, die Anreicherung des uns mitgegebenen Kernwissens und die Konstruktion von intuitiven Theorien, die teilweise falsch, aber offenkundig praktisch sehr nützlich sind, sonst hätten sie sich nicht etabliert.

Intuitive Psychologie und Biologie

Die Unterscheidung belebt-unbelebt ist in der Evolution für das Überleben von zentraler Bedeutung. Taucht nämlich in der Umwelt ein Lebewesen auf, so kann dies entweder Gefahr (gefressen werden) oder Nahrung (etwas Essbares) bedeuten. Daher müsste man erwarten, dass in unserer Evolution die Unterscheidung von belebt-unbelebt tief verankert ist und in der individuellen Entwicklung früh auftaucht. Dies ist in der Tat der Fall. Schon mit zwei Monaten unterscheiden Babys zwischen Menschen und unbelebten Objekten. Drei bis fünf Monate alte Kinder unterscheiden zwischen biologischen und nicht biologischen Bewegungen. Mit sechs Monaten interessieren sie sich für lebende Objekte mehr als für unbelebte, selbst dann, wenn man die Objekte nur durch Lichtpunkte ihrer Umrisse darstellt. Mit sieben Monaten „wissen“ Babys, dass sich Tiere und Menschen aus eigener Kraft bewegen können, nicht aber unbelebte Objekte. Schon neun Monate alte Kinder trennen Objekte (z. B. Vögel und Flugzeuge) trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeiten in zwei separate Kategorien. Mit elf Monaten unterscheiden sie, wie andere Untersuchungen belegen, analog zu diesem Befund Tiere kategorial von Fahrzeugen oder Möbeln; es gibt also bereits eine Begriffsbildung, die beide Objektklassen trennt (im Überblick s. Sodian 2008). Wie in der Physik gibt es also ein biologisch-psychologisches Kernwissen, das angeboren zu sein scheint. Dieses Wissen trennt vermutlich noch nicht zwischen psychologischen und biologischen Prozessen. Drei- bis vierjährige Kinder wissen allerdings bereits, dass biologische Vorgänge, wie Wachstum und Selbstheilung, nur bei Lebewesen und nicht bei unbelebten Objekten anzutreffen sind und dass biologische Prozesse, wie die Atmung, nicht durch psychologische Prozesse beeinflusst werden. So fragte man vier- bis sechsjährige Kinder beispielsweise, welches von den beiden nachfolgend beschriebenen Kindern sich eher erkältet:



  • Das Kind, welches nicht nett mit seinem Freund umgeht, aber jeden Tag viel und gut isst?

  • Das Kind, welches nett mit seinem Freund umgeht, aber jeden Tag nicht viel und gut isst?

Die meisten Kinder sahen in biologischen Faktoren die Ursache für Erkältung, in diesem Beispiel tippten sie also auf das zweite Kind.

Biologisches Wissen ist nicht eine zusammenhanglose Anhäufung von Einzeltatbeständen, sondern ordnet sich zu einem Ganzen, das man als Theorie bezeichnen kann. Ähnlich wie wissenschaftliche Theorien gibt es in den intuitiven Theorien der Kinder (und der Erwachsenen) Aussagen, die aufeinander bezogen sind und sich voneinander ableiten. Die kindliche Theorie über Lebewesen, anfangs übrigens nur Tiere, wird als Essenzialismus bezeichnet. Damit ist gemeint, dass jede Spezies ein ihr innewohnendes angeborenes Potenzial (Essenz) besitzt, das sich unabhängig von der Umwelt, in der sich das Tier befindet, entwickelt. So meinen schon Vorschulkinder, dass aus einem Kalb, das mitten unter Schweinen aufwächst, eine Kuh und nicht ein Schwein wird. Dieser Essenzialismus findet sich auch bei Kindern aus ganz anderen Kulturen, z.B. bei vier- bis fünfjährigen Yukatek Mayas (Atran 1999).

Ein Streitpunkt der Forscher besteht darin, ob Kernwissen und intuitive Biologie (im Englischen auch Folkbiology genannt) eine Mischung von Psychologie und Biologie darstellt. Manche behaupten, dass kleine Kinder ein psychologisches, vom Menschen abgeleitetes Kausalschema hätten, das sie auch auf Tiere übertragen würden. So hätten Tiere Wünsche und Absichten wie der Mensch (Carey 1985). Sicher ist, dass Babys bereits über ein Kernwissen von Intentionalität verfügen. Schon sechs Monate alte Säuglinge interpretieren menschliche Greifhandlungen als objektgerichtet. Sie habituieren schneller, wenn die Hand nach einem Objekt greift, als wenn sie ins Leere greift. Um zu prüfen, ob nur die Bewegung oder doch das Objekt im Vordergrund der Beachtung stand, gab es zwei Versuchsbedingungen: In beiden Situationen befand sich der Akteur vor zwei Objekten, die an verschiedenen Plätzen lagen. In der einen griff er nach dem gleichen Objekt wie zuvor, das aber seinen Platz getauscht hatte. In der anderen Situation griff er nach dem neuen Objekt, das sich nun an der gleichen Stelle befand, wie vormals das erste Objekt. Bei Bevorzugung der Bewegung wäre sie aufmerksamkeitslenkend und nicht die Greifintention des Akteurs. Die Babys beachteten aber in der Tat den Objektwechsel bei gleichgebliebener Bewegungsrichtung stärker. Das Kind scheint also schon früh zu verstehen, dass Greifhandlungen auf Objekte gerichtet sind und dass Akteure eine Intention verfolgen, ein Ziel haben (Woodward 1998). Wiederum sticht der Objektbezug als zentrale menschliche Tätigkeit ins Auge.

Mit neun Monaten machten die Babys bereits Annahmen über ein rationales („vernünftiges“) Verhalten von Akteuren. In einer Versuchsanordnung zeigten die Forscher den Babys einen Film, in dem sich eine Kugel auf ein Hindernis zubewegte, dieses übersprang und sich auf der anderen Seite einer anderen Kugel näherte. Die Barriere wurde nun in der Szene entfernt. Die Kugel sprang in der einen Filmsituation wie zuvor hoch, obwohl dies ja unnötig zur Zielerreichung war. In der anderen Bedingung bewegte sich die Kugel direkt aufs Ziel zu. Die Kinder reagierten mit Erstaunen (längerer Blickkontakt) auf das „unvernünftige“ Verhalten (Sodian 2008). Uller (2004) fand bei jungen Schimpansen ein ähnliches Verhalten, sodass man von einer evolutionären Verankerung dieses Kernwissens sprechen kann. Zehn bis elf Monate alte Säuglinge unterscheiden zwischen abgeschlossenen und unterbrochenen Handlungen. Man zeigte den Kindern Alltagsverrichtungen in der Küche, wie Bücken – Handtuch aufheben – Handtuch aufhängen. Wurde die Szene am Ende abgebrochen, so habituierten die Kinder rascher als bei Unterbrechung mitten in der Handlung. Mit zwölf Monaten wird Intentionalität als zielgerichtetes und auf Objekte bezogenes Handeln voll verstanden (Sodian 2006).

Es gibt noch eine weitere frühe Leistung, die mit der intuitiven Psychologie des Kindes zu tun hat, die triadische Interaktion. Unter ihr versteht man, dass sich Kind und Bezugsperson gemeinsam auf ein Objekt beziehen. Einen Schritt in diese Richtung haben wir schon früher als joint attention (gemeinsam auf ein Objekt gerichtete Aufmerksamkeit) kennengelernt. Sie soll hier nochmals unter einem neuen Gesichtspunkt aufgegriffen werden. Schon neun Monate alte Babys folgen dem Blick Erwachsener hin zu einem Zielobjekt. Das weist darauf hin, dass Kinder dieses Alters schon die Intentionalität des Akteurs verstehen. Genauer konnten Thoermer und Sodian (2001) zeigen, dass die Nutzung der referentiellen Hinweise, also das Schauen der Bezugsperson auf ein Objekt, dem Verständnis der Bewegung vorausgeht. Dieses stellt sich aber dann bereits mit zwölf Monaten ein. Dafür spricht auch, dass neun Monate alte Kinder noch keinen Unterschied in der Blickfolge machten, wenn die Bezugsperson die Augen geschlossen hielt und den Kopf zum Objekt wendete, während zwölf Monate alte Babys nur dann dem Blick der Bezugsperson folgten, wenn diese die Augen offen hatte.

Die joint attention ist der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich Evolution, Kultur und individuelle Entwicklung treffen. Einerseits bildet sie den entscheidenden Schritt zum gemeinsamen Gegenstandsbezug, den wir als zentral für menschliche Kultur ansehen (s. Kap. 6). Andererseits ist sie ein wichtiger Schritt für das Verständnis von intentional handelnden Akteuren, ein Verständnis, das sich dann mit zwölf Monaten zeigt. Man kann annehmen, dass die Evolution uns mit diesen Leistungen ausgestattet hat, denn sie treten früh und offenbar in allen Kulturen auf. So spiegelt die individuelle Entwicklung die phylogentische Entwicklung des Homo sapiens zur menschlichen Kultur wider (eine direkte Entsprechung von Phylogenese und Ontogenese gibt es jedoch nicht).

Je nachdem, wie die Kultur, in die das Individuum hineinwächst, mit diesem Entwicklungspotenzial umgeht, wird das Kind wenig oder viel Objekten begegnen, unterschiedliche Objektklassen kennenlernen und früh oder erst später lernen, mit Objekten zu manipulieren.

Intuitive Physik und kindliches Weltbild

Wie beim biologischen und psychologischen Wissen gibt es auch in der intuitiven Physik des Kindes Annahmen, aus denen Schlussfolgerungen gezogen werden. Piaget hat als erster die Konstruktionsleistungen von Kindern im Bereich der Physik untersucht und beschrieben. Aufgrund der Aufgaben, die er den Kindern im Vor- und Grundschulalter stellte, kam er zu der Ansicht, dass Kinder mit etwa sechs bis sieben Jahren den dreidimensionalen Raum, physikalische Merkmale des Gegenstandes und den Zeitbegriff aufbauen. Wählt man Piagets Aufgaben, dann zeigen auch heute Kinder noch das gleiche Lösungsverhalten. Wie bereits in Kap. 8 kurz dargestellt, verstehen Sechsjährige die Invarianz des Gegenstandes. Verformt man eine Kugel zu einer Walze, so erkennen sie, dass die Knetmenge sich nicht verändert hat. Aber erst ein bis zwei Jahre später erkennt es auch die Gewichtsinvarianz und wieder Jahre später versteht es erst die Volumenkonstanz, also dass beispielsweise eine verformte Knetmasse, die man in eine Flüssigkeit eintaucht, den Flüssigkeitsspiegel genauso hoch ansteigen lässt wie die ursprüngliche kugelförmige Knetmasse. Dass das Kind erst mit ca. sechs Jahren den dreidimensionalen Raum konstruiert, folgert Piaget unter anderem aus Zeichnungen der Kinder, die demonstrieren, dass Kinder zunächst den topologischen Raum mit den Merkmalen des Eingeschlossenseins, der Überschneidung und des Getrenntseins von Objekten aufbauen, und noch nicht die Gerade zur nächsten Verbindung zwischen zwei Orten nutzen. Inzwischen gibt es aber Belege, dass die Dreidimensionalität des Raumes viel früher erkannt wird und wahrscheinlich zum Kernwissen des Menschen gehört.

Das Verständnis für die gleichmäßig verstreichende und gerichtete Zeit setzt Piaget ebenfalls ein zwei Jahre später an, als das Raumverständnis und die Mengeninvarianz. Er prüft auch den Zeitbegriff durch das Verständnis von Geschwindigkeit. Zwei Spielautos fahren gleichzeitig los und stoppen mit einem deutlichen Klack auch wieder gleichzeitig. Das eine Auto ist aber viel weiter gefahren als das andere. Die Kinder im voroperatorischen Stadium behaupten, dass das Auto mit der längeren Wegstrecke auch länger gefahren sei. Wiederum zeigt sich aber, dass Kinder den Zeitbegriff früher aufbauen, wenn man die Aufgaben vereinfacht (Bischof-Köhler 2000).

Die Vorstellungen von Raum und Zeit, die Kinder entwickeln, bildeten in der kulturellen Entwicklung bis in die Neuzeit die Basis physikalischen Wissens. Erst Einstein konnte bekanntlich in der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie zeigen, dass Zeit nicht überall gleich abläuft, sondern „gestaucht“ und „getreckt“ wird oder gar zum Stillstand (bei Schwarzen Löchern) kommt. Wiederum erweist sich die Alltagtheorie von Raum und Zeit als praktisch hinreichend und nützlich, auch wenn sie nur begrenzt Gültigkeit besitzt.

Es gibt aber intuitive physikalische „Theorien“, die von vorneherein nicht richtig sind und dennoch regelmäßig bei Kindern auftauchen. Zu ihnen gehören Vorstellungen, dass Schwimmen in einem 1.000m tiefen Gewässer schwieriger ist als in einem drei Meter tiefen See, dass Schiffe nur schwimmen können, wenn sie aus Holz gebaut sind (das Eisen ist nur drum herum gelegt), dass ein Körper, der sich von einem fliegenden Objekt löst, senkrecht zu Boden fällt (und nicht eine parabolische Kurve beschreibt) und dass kleine Teilchen, z.B. Eisenfeilspäne nichts wiegen, während die Metallplatte, von der sie abgefeilt wurden, als Ganzes schwer ist. Letzteres Beispiel ist besonders interessant, weil noch Schulkinder, die den mathematischen Vorgang des Teilens beherrschen, diese Meinung äußern. Die Auflösung eines Gegenstandes in kleinste Teilchen führt dazu, dass der vormals gewichtige Gegenstand in Form der Teilchen nichts mehr wiegt.



Abb. 9.3 Das geozentrische Weltbild von Kindern: Trotz des Wissens, dass die Erde eine Kugel ist, beharren die Kinder auf der Vorstellung, man könne nur auf ebenen Flächen leben. (Urheberrecht beim Autor)

Ein leichter nachvollziehbares Beispiel ist das Molekülverständnis: Kinder, die gelernt haben, dass Wasser aus Molekülen besteht, meinen dennoch, dass die Moleküle bei Eis fester und kompakter seien als bei Wasser, und dass Wasserdampf die leichtesten Moleküle hätte (Hatano 2001). Es dauert Jahre, bis die Kinder begreifen, dass der Aggregatszustand mit der Geschwindigkeit und Nähe der Moleküle und nichts mit ihrer Beschaffenheit zu tun hat. In diesem Beispiel leuchtet die „Theorie“ der Kinder (und vieler Erwachsener) ein, weil das Verständnis von Molekülen sehr weit von der Alltagsvorstellung entfernt ist.

Besonders interessant ist das Weltbild des Kindes, nämlich seine Vorstellung von der Beschaffenheit der Erde. Schon früh wissen Kinder, dass die Erde eine Kugel ist, sie geben zumindest die korrekte Antwort auf die Frage. Zeichnet man aber die Erde als Kreis (Kugel) und fragt, wo die Menschen wohnen, dann meinen sie entweder: ganz oben auf der Kugel, weil sie sonst herunterfallen würden, oder innen am Boden der Kugel (Abb. 9.3). Wiederum dauert es Jahre, bis das Verständnis der Erde als kugelförmiger Planet (genauer als Geoid) aufgebaut ist.

Ebenso verhält es sich natürlich mit dem Verständnis der Sonne als fixem Himmelskörper, der nach Meinung der Kinder um die Erde wandert, wie es der Augenschein nahelegt. Mit anderen Worten, Kinder vertreten ein geozentrisches Weltbild. Dieses Faktum gilt nicht nur für unsere westliche Kultur, sondern für ganz verschiedene Kulturen (Vosniadou 1991). Das heißt, dass wir bei Kindern im Vor- und teilweise Grundschulalter dasselbe Weltbild antreffen, das die Menschheit über Jahrzehntausende bis in die Neuzeit besaß. Die Umstrukturierung zum heliozentrischen Weltbild und zum heutigen sich ausdehnenden Universum bedeutet eine gewaltige Denkleistung. Kein Wunder also, dass Kinder trotz verbalen Wissens über die Erde als Kugel einige Jahre brauchen, bis sie das geozentrische Weltbild aufgeben.

Welche Gesichtspunkte bietet das EKO-Modell für die Erklärung des merkwürdigen Tatbestandes, dass Kinder intuitive Theorien haben, die nur teilweise richtig oder sogar gänzlich falsch sind? Bleibt man bei der Ontogenese (dem O in unserem Modell), so lässt sich antworten, dass der Mensch immer nach Erklärungen sucht und diejenigen benutzt, die er versteht. Dann müsste man allerdings erwarten, dass es eine große Vielfalt solcher Theorien gäbe. Die Erklärungen sind aber in den oben genannten Beispielen überall die gleichen. Da ein Teil des Wissens als Kernwissen früh auftaucht und vermutlich angeboren ist, liegt es nahe, die Evolution als Spender dieses Wissens heranzuziehen (also unser E im EKO-Modell). Damit würde man aber nicht das geozentrische Weltbild und den totalen Gewichtsverlust bei kleinen Teilchen erklären, denn hier handelt es sich offenkundig um Konstruktionen der Kinder (und teilweise der Erwachsenen), die sie aufgrund eigener Beobachtungen entworfen haben. Man kann die Gleichartigkeit der intuitiven „Theorien“ wohl am besten erklären, wenn man hier nicht das Kernwissen als evolutionäre Basis, sondern das Prinzip der größeren Überlebenschancen heranzieht. Die von Kindern gewählten Erklärungen physikalischer Phänomene sind als Passung von Wahrnehmung und Handlung aufzufassen. Man sieht die Erde als Scheibe und man sieht die Sonne auf- und untergehen. Die Handlungen einschließlich der Handlungsplanung richten sich nach dieser Wahrnehmung, und man kam Jahrzehntausende damit zurecht. Ein anderes Wissen ist nicht nötig. Erst als verbesserte Verkehrsmittel (wie seefestere Schiffe) und die Erfindung des Flugzeugs, die Entfernungen stark verringerten, wurde das geozentrische Weltbild unbrauchbar.

Analog verhält es sich mit anderen Deutungen. Newtons Physik, die die Bewegung als Ausgangspunkt und die Beschleunigung als Veränderung auffasst, überschreitet das Alltagsverständnis erheblich. Sind wir doch gewohnt, Objekte und uns selbst als ruhend wahrzunehmen und Bewegung mit Kraftaufwand zu verbinden. Dass in einem nicht geozentrischen Weltbild alles in Bewegung und überhaupt nichts in Ruhe ist, bedeutet wiederum eine vollständige Umstrukturierung. Sogar Physikstudenten sollen Schwierigkeiten haben, den Ansatz Newtons zu verstehen. Vögel, die ihre eigene Bewegung mit der Bewegung ihrer Beute verrechnen müssen, hätten eine adäquatere Theorie als menschliche Laien, wenn sie wie wir denken könnten. Für uns ist eine Theorie von der Statik der Dinge praktischer, weil wir damit besser überleben konnten. Bewegung bedeutete Gefahr oder Beute, und schon der Säugling reagiert auf Bewegung, während er bei unbeweglicher Umwelt schnell habituiert bzw. keine Aufmerksamkeit aufwendet. Schwimmen im tiefen Wasser ist gefährlicher als im flachen Wasser, weil Gefahren von Tieren oder vom Wetter (Sturm) drohen. Deshalb es ist pragmatisch, Schwimmen in tiefem Wasser nach Möglichkeit zu meiden. Generell lässt sich festhalten: Unsere Alltagstheorien sind oft falsch, aber nützlich, sie dienen dem Überleben, vor allem in Gesellschaften, die das technische Rüstzeug wie in hochindustrialisierten Ländern nicht haben. Raum und Zeit sind adäquate Konzepte, die ebenfalls als Passung von Wahrnehmung und Handlung entwickelt wurden, auch wenn sie in einem umfassenderen kosmologischen Rahmen relativiert werden müssen. Wissenschaftliche Theorien, die dem Alltagswissen widersprechen, sind in Kulturen unbrauchbar, die dieses Wissen nicht nutzen können.

Natürlich entwickeln Menschen auch Theorien außerhalb der Physik, oder sagen wir amRandederPhysik. SieglaubenandieWunderkraftvonSteinen, diepsychischeWirkung des Vollmondes, die heilende Kraft von homöopathischen Mitteln, die Wünschelrute, an Schöpfungsmythen, sagen „Hals- und Beinbruch“, klopfen auf Holz, machen eine Wallfahrt und vieles andere mehr. Es geht gar nicht darum, ob Theorien wissenschaftlich zutreffen, sondern darum, dass sie nützlich sind und eine Passung von Individuum und Umwelt herstellen, die in einem bestimmten Kulturkreis oder in einer Subkultur von Vorteil ist. Manche dieser Theorien finden wir in allen Kulturen vor, wie die intuitive Physik und Biologie, andere Theorien sind kulturspezifisch, wie religiöse Erklärungsgebäude und Begründungen für Verbote und Gebote.

9.3 Das Vorschulalter: Entscheidende Schritte zur Menschwerdung

Wir haben in Kap. 8 das zweite Lebensjahr als markante Zeit für qualitative Entwicklungsfortschritte gekennzeichnet. Das Kind erkennt sich im Spiegel und baut ein erstes Selbstbewusstsein auf. Gleichzeitig entwickelt es Empathie für das Leiden anderer und versucht zu helfen. Es ist dies die Zeit des Aufbaus von Repräsentationen (Vorstellungen von früheren Wahrnehmungseindrücken) und schließlich die Zeit der ersten rasanten Sprachentwicklung. DasVorschulalterzwischenvierundfünfJahrenbringteinenerneutenEntwicklungsschub, der als entscheidender Schritt zur Menschwerdung angesehen werden kann. Wir werden dies an der sog. Theory of Mind, der Zeitreise und der Verhaltenskontrolle zeigen.



Theory of Mind

Unter einer Theory of Mind (Theorie des Verstandes, Bewusstseins, Geistes) versteht man die Zuschreibung von mentalen Zuständen für andere und für sich selbst. Die Theory of Mind beinhaltet die Erkenntnis einer Person, dass Menschen Wissen, Absichten und Wünsche haben, dass sie fühlen und bestimmte Überzeugungen besitzen. Wie bereits erläutert, hat schon der Säugling ein Verständnis für Intentionen und Gefühle anderer. Mit zwei bis drei Jahren benutzen Kinder mentale Zustände als Erklärung für Verhalten und treffen explizit die Unterscheidung zwischen mentaler und physikalischer Welt. Der entscheidende Schritt im mentalen Verständnis vollzieht sich, wenn das Kind zwischen Wissen und Überzeugung auf der einen und Realität auf der anderen Seite unterscheidet. Solange Wissen und Überzeugung mit der Realität übereinstimmen, kann man schwer erkennen, ob das Kind zwischen beiden Welten zu trennen vermag. Den Nachweis für diese Unterscheidung liefert daher das Wissen um den falschen Glauben, die falsche Überzeugung. Erkennt das Kind, dass jemand ein falsches Wissen besitzt, z.B. meint, die Schokolade befindet sich an einem bestimmten Platz, obwohl sie längst aufgegessen ist, dann hat sich die Welt endgültig in Mentales und physikalisch Reales geschieden. Der klassische Versuch zum Nachweis der Theory of Mind stammt von Wimmer und Perner (1983). Maxi, eine


Handpuppe, legt Schokolade in den grünen Schrank, dann geht er zum Spielplatz. Die Mutter holt die Schokolade heraus und platziert sie in den blauen Schrank. Die Kinder werden nun gefragt, wo Maxi suchen wird, wenn er zurückkommt. Jüngere Kinder (unter vier Jahren) antworten, dass er in dem blauen Schrank suchen wird, ältere Kinder ab etwa vier Jahren sagen, dass Maxi im grünen Schrank, also an der falschen Stelle suchen wird. Sie wissen, dass er einen falschen Glauben, eine falsche Überzeugung besitzt. Ab da verstehen die Kinder auch, was Lügen und Betrügen ist und nutzen dieses Wissen, um andere zu täuschen, also in den falschen Glauben über einen Sachverhalt zu versetzen. Bei der Fortsetzung der Maxi-Geschichte möchte Maxi nicht, dass seine Schwester Susi die Schokolade findet. Er sagt auf ihre Frage als betrogener Betrüger: im blauen Schrank (in dem sie sich tatsächlich befindet). Kinder, die verstanden haben, dass Maxi am falschen Ort suchen wird, erkennen meist auch, dass er Susi wegen seiner falschen Überzeugung den richtigen Ort verrät. Ab jetzt setzen Kinder Täuschung und Lüge absichtsvoll ein.

Die Theory of Mind bedeutet einen grundlegenden Entwicklungsschub, denn sie impliziert eine philosophische Position, die zwischen der äußern und der vorgestellten Realität trennt. Man bezeichnet diese Position gewöhnlich als kritischen Realismus, d.h. als Erkenntnis, dass Realität und unser Wissen von ihr zwei verschiedene Dinge sind. Da sich die Theory of Mind vermutlich in allen Kulturen entwickelt (Sodian 2006), stellt sich die Frage nach den Wurzeln dieser Leistung. Die umgebende Kultur nimmt nur insofern Einfluss, als soziale Erfahrungen und soziales Lernen überall in ähnlicher Weise auftreten. Kulturen bieten also nur den sozialen Rahmen, in dem sich das „Wissen vom falschen Glauben“ aufbauen kann. In Regionen mit starker Deprivation, in denen Kinder mit Hunger und Krankheit ums blanke Überleben kämpfen, dürften solche Rahmenbedingungen fehlen. Ein wichtiger Hinweis für die Evolution als Quelle der Theory of Mind liefert das Alter der Kinder. Im Regelfall stellt sich die Theory of Mind nicht vor dem Alter von vier Jahren ein. Selbst wenn man zusätzliche Hinweise und Hilfen anbietet, gelingt es nicht, Kinder ad hoc, von einem auf den anderen Tag zu der neuen Erkenntnishaltung zu bringen. Es scheint so, als wären bestimmte neurologische Reifungsvorgänge, die eine gewisse Zeit brauchen, Voraussetzung für den Aufbau der Theory of Mind. Manche Forscher nehmen ein biologisch verankertes Modul, ähnlich wie bei anderen frühen Leistungen, an (im Überblick siehe Sodian 2006). Wenn dem so ist, dass es eine biologische Basis für die Theory of Mind gibt, dann hat die Evolution frühzeitig dem Homo etwas geschenkt, das anderen Tieren verwehrt bleibt. Premak (1988), von dem die Bezeichnung Theory of Mind stammt, hat vergeblich versucht, diese Leistung auch bei Schimpansen nachzuweisen. Vermutlich besaßen auch schon der Homo erectus und der Neandertaler die Theory of Mind. Der Zusammenhang zwischen Evolution und Ontogenese bringt einen neuen Aspekt in die Diskussion. Da die Entwicklung bis zum Erwachsenenalter beim Menschen sehr lange währt, treten die Gaben der Evolution nicht alle schon bei der Geburt auf. Sie müssen reifen und brauchen gleichzeitig, wie immer wieder betont, die passenden Umweltanregungen.

Die Ontogenese fördert etappenweise die Gaben der Evolution zu Tage.


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