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8.4 Identität

Was ist Identität?

Der Begriff Identität und verwandte Konzepte wie das ,Selbst‘ spielen in den Sozialwissenschaften eine zentrale Rolle. Identität bezieht sich zunächst auf die einzigartige Kombination von persönlichen unverwechselbaren Daten, wie Name, Alter, Geschlecht undBeruf. IneinemengerenSinnistIdentitätdieeinzigartigePersönlichkeitsstruktureines Individuums verbunden mit dem Bild, das sich andere von dieser Persönlichkeitsstruktur machen. Der Philosoph und Psychologe William James und nach ihm der Soziologe George Herbert Mead (1934) unterschieden zwischen dem I (Ich) und dem Me (mich). Das Me ist die individuelle Spiegelung des gesellschaftlichen Verhaltens, d.h. das Kind erfährt sehr früh über seine Eltern dieses gesellschaftliche Verhalten, es lernt, sich so zu geben und zu fühlen, wie es die Umwelt nahelegt. Es erfährt weiterhin Zuweisungen von der Umwelt, wie „Kind“, „Junge“ oder „Mädchen“, „brav“ oder „böse“. Auf diese gesellschaftlichen Zuweisungen reagiert nun das I (Ich). Es wird sich dieser Zuweisungen bewusst und entscheidet, in welchem Umfang und in welcher Form es sein Me ausgestalten möchte. Mead betont die Freiheitsgrade des I: „Die Handlung des I ist etwas, dessen Natur wir im Vorhinein nicht bestimmen können“ (S. 220). Damit postuliert Mead theoretisch die Offenheit von

Entwicklung.

Die Soziologie hat denn auch frühzeitig die Eigenleistung des Individuums beim Sozialisationsprozess betont. Krappmann beschreibt bereits Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts Identität als fortlaufenden Prozess der Herstellung von Gleichgewicht in dreierlei Hinsicht: a) als Gleichgewicht zwischen widersprüchlichen Rollenerwartungen (z. B. zwischen Kindesrolle in der Familie und Schülerrolle), b) als Gleichgewicht zwischen Anforderungen anderer und den eigenen Bedürfnissen (z. B. Forderungen nach Fleiß und Lernen gegenüber dem eigenen Wunsch nach Freizeit und Spiel), c) als Gleichgewicht zwischen dem Bedürfnis, sich und seine Einmaligkeit anderen gegenüber darzustellen, und von anderen als gleich und zugehörig anerkannt zu werden; also


ein Gleichgewicht zwischen Anpassung und Selbstdurchsetzung. Krappmann (1973) sieht aufgrund der Durchsicht soziologischer Ansätze zum Thema Identität vier Leistungen, die das Individuum zu erbringen hat:

  1. Rollendistanz: die mit den eigenen Rollen (Schüler, Heranwachsender, Berufstätiger) verbundenen Vorschriften und Normen reflektieren und interpretieren.

  2. Aktive Rollenübernahme (role-taking): sich in die Rollen anderer einfühlen und dieseErkenntnis für das eigene Handeln nutzen.

  3. Ambiguitätstoleranz: verschiedenewidersprüchlicheWertgeltungen, Vorschriftenunddie damit verbundene Unsicherheit tolerieren und ertragen.

  4. Identitätsdarstellung: gesellschaftliche Rollen erhalten individuelle Ausprägungen;das Individuum stellt sie umgeformt in seiner Persönlichkeit dar und versucht, die errungene Identität durchzusetzen.

Obwohl diese Sichtweise sich an westlichen individualistischen Kulturen orientiert, gilt sie in modifizierter Form auch für kollektivistische Kulturen, nur dass dort die Strategien der Selbstdurchsetzung sublimer und versteckter eingesetzt werden müssen.

Die Psychologie konzentriert sich in ihrem Verständnis von Identität noch stärker auf das Einzelindividuum. So kennzeichnet etwa Bosma (in Bosma und Jackson (1990) Identität unter anderem durch folgende Merkmale:



  • Identität ist eine Antwort auf die Frage. Wer bin ich?

  • Die Antwort auf diese Frage wird im günstigen Falle durch eine realistische Einschätzung der eigenen Person sowie der Erwartungen der Gesellschaft erreicht.

  • Es kommt zur kritischen Hinterfragung kultureller Wertgeltungen und zur Auseinandersetzung mit zukünftigen Entwicklungsaufgaben, wie Familiengründung und Beruf. Eine gelungene Auseinandersetzung führt zu Engagement und Verpflichtung.

Das Ringen um Identität findet zwar im Rahmen der biologischen (evolutionär grundgelegten) und der kulturellen Angebote bzw. Zugriffsmöglichkeiten statt, aber es führt zur individuell einmaligen Ausprägung der Persönlichkeit, die ein Selbstverständnis (oft auch Selbsttheorie genannt) entwickelt und vor diesem Selbstverständnis verantwortlich handelt. Die sensible Phase für den Identitätsaufbau ist in allen Kulturen das Jugendalter. In westlichen Kulturen haben die Jugendlichen lange Zeit für diese Entwicklungsaufgabe, in schriftlosen Kulturen wird die Identitätsbildung viel rascher abgeschlossen.

Identitätsformen

Identität kann unterschiedliche Ausformungen erfahren. Letztlich gibt es so viele verschiedene Identitätsformen wie es Menschen gibt. Aber man kann natürlich versuchen, solche Formen nach Ähnlichkeit zu gruppieren. Die amerikanische Psychologin Marcia (1980) entwickelte ein Interview, mit dem sie ihre Probanden in vier Gruppen einteilen konnte: übernommene Identität, erarbeitete Identität, Diffusion und Moratorium. Personen mit übernommener Identität sind angepasst, glücklich, durchlaufen keine Krise, sind aber auch wenig neugierig und explorativ. Personen mit erarbeiteter Identität haben sich kritisch mit der Umwelt sowie deren Anforderungen und den eigenen Möglichkeiten auseinandergesetzt. Sie haben sich ein eigenes Wertsystem erarbeitet und feste Ziele vor Augen, die sie nachhaltig verfolgen. Das Moratorium ist ein Zustand, der bei der Erarbeitung der Identität zwischengeschaltet ist. Die Person zieht sich aus Verpflichtungen zurück, hält gewissermaßen inne, um mit sich und der Umwelt klarzukommen. Aber sie ist explorativ und sucht nach Neuem, vor allem nach dem, was der eigenen Entwicklung dienlich sein könnte. Die diffuse Identität schließlich ist das Gegenstück zur erarbeiteten Identität. Hier gibt es keine klaren Persönlichkeitsziele, das Individuum wird eher von außen kontrolliert, fühlt sich wenig verpflichtet, ist wenig neugierig und explorativ und in seinen Sozialbeziehungen eher stereotyp. Marcia (1989) fand in Untersuchungen, dass im Vergleich zu ihren früheren Ergebnissen der Anteil der Jugendlichen mit diffuser Identität auf das Doppelte angestiegen war. Sie unterschied mehrere Formen von Diffusion, darunter die kulturell adaptive, die für unsere Thematik von besonderer Bedeutung ist. Sie stellt nämlich eine Anpassung an die gegenwärtige Kultur dar. In vielen Berufsfeldern sucht man Bewerber, die fremdgesteuert für beliebige Ziele an beliebigen Orten eingesetzt werden können und sozial nicht oder nicht zu sehr gebunden sind. Prototyp dieser Identität ist der berühmte Agent 007, der, jederzeit verfügbar, beliebige Aufträge ohne moralische Skrupel ausführt, dabei sogar sein Leben riskiert, ohne zu fragen, ob es die Aufgabe wert ist, und der stereotype kurzfristige Sexbeziehungen zu hübschen Mädchen pflegt. Die diffuse Identität dieser Art, die bei uns vielfach erwünscht ist, fordert daher zur Kulturkritik auf.



Hirnforschung: Es gibt kein Ichzentrum – das Ich als Illusion

Neuerdings erklären Neurowissenschaftler und in ihrem Gefolge Psychologen, dass unser Ichbewusstsein, die Konstruktion unserer Identität, kurzum unser Selbst eine Illusion sei. Nirgends im Gehirn gäbe es ein lokales Ichzentrum. Die Selbstwahrnehmung eines Ich sei eine Täuschung, die uns das Gehirn vorgaukle. Metzinger (2009) kennzeichnet das Selbst daher als Konstruktion unseres Gehirns. Aus evolutionärer und kultureller Sicht habe sich diese Konstruktion als sehr vorteilhaft erwiesen, weil wir uns Handlungsfreiheit zuschreiben, uns als Urheber von Handlungen erleben und vermeinen, freie Entscheidungen treffen zu können. Unsere bewussten Willensentscheidungen treten später auf als die sie vorbereitenden Gehirnprozesse. Dieser Befund (Libet 1985), der uns noch näher in Kap. 16 beschäftigen wird, zusammen mit der nicht Lokalisierbarkeit des Ichbewusstsein führte zu dem Schluss, dass unsere Alltagsvorstellungen von unserem Selbst und unserer Handlungsfreiheit nicht existierten. Hier liegt ein doppelter Fehlschluss vor. Der eine Fehlschluss bezieht sich auf neurologische Ursachen und ihren phänomenologischen Effekt im Bewusstsein. Wenn es keinen „Homunculus“ im Gehirn gibt, der für das Selbst steht, so ist das Selbst dennoch keine Illusion. Wie Verschaltungen im Gehirn organisiert sind, damit wir uns als Selbst oder als Identität erleben, ist völlig nebensächlich. Wichtig ist nur, dass eine neurologische Gesamtorganisation existieren muss, damit Ichbewusstsein zustande kommt. Wir werden uns in Kap. 15 mit dem Problem des Bewusstseins auseinandersetzen. Aber schon jetzt sei darauf hingewiesen, dass die Umsetzung neurologischer Prozesse in Bewusstseinsvorgänge eine sehr komplexe Angelegenheit ist, die nicht auf dem einfachen 1:1-Verhältnis beruht.

Der zweite Fehlschluss bezieht sich auf das zugrundeliegende Realitätsverständnis. Neurowissenschaftler sehen Realität gerne als das an, was sie im Gehirn beobachten können. Das Selbst ist also nicht „objektiv“ real, wenn es keinen Homunculus als Entsprechung im Gehirn gibt. Das phänomenale Selbst ist jedoch äußerst real, wenn man seine Auswirkungen in der Umwelt betrachtet. Die Werkzeuge, die der Mensch dank seines selbstbewussten Planens und Handelns herstellt, sind objektiv real und können sogar die Lebenszeit ihres Herstellers (und damit seine Gehirnprozesse) überdauern. Auch das Selbst eines Aggressors, der dem Neurowissenschaftler empört eine Ohrfeige gibt, hinterlässt höchst reale Spuren, obwohl es doch gar nicht neurologisch existieren kann. Allerdings brauchen sich die Neurowissenschaftler zumindest bei uns in Deutschland nicht vor Angriffen zu fürchten, zum einen, weil wir keine Fundamentalisten sind, zum anderen, weil die Neurowissenschaftler meist viel vorsichtiger und vorläufiger formulieren und die Existenz des Selbst nicht rundweg leugnen.

Was aber die Hirnforschung für das Jugendalter und die Identitätsbildung konkret beiträgt, istderBefund, dassimJugendalternochbeträchtlicheVeränderungenimFrontalhirn stattfinden. Haben diese Veränderungen die weitere cerebrale Entwicklungen Einfluss auf eine besondere Ausprägung des Selbstbewusstseins im Jugendalter? Da das Frontalhirn Kognition, Emotion und Verhalten koordiniert, liegt diese Vermutung nahe. Zudem gibt es eine Zunahme an zirkulären neuronalen Verschaltungen im Frontalhirn, weshalb man spekulieren kann, dass die späte Reifung des Frontalhirns sich auch auf die Metakognition, die Selbstreflexion und Introspektion auswirkt (Lewis 2002).



Stufen des Menschenbildes

Die persönliche Überzeugung, dass man für die Konsequenzen seines Handelns einstehen muss und dass man eine sich selbst Rechenschaft gebende Identität besitzt, zeigt sich weltweit in ganz verschiedenen Kulturen. So haben wir in Ostasien, Indonesien, Europa, den USA und in Peru Untersuchungen zum Menschenbild durchgeführt, aus denen hervorgeht, dass es überall ähnliche Strukturniveaus des Menschenbildes gibt (Oerter et al. 1996a, 1996b). Als Methoden verwendeten wir ein ausführliches Interview und DilemmaGeschichten, bei denen die Probanden Lösungsvorschläge machen sollten. Die Niveaus des Menschenbildes seien im Folgenden kurz beschrieben, wobei sie als „Stufen“ bezeichnet werden, weil sie als aufeinanderfolgende Entwicklungsniveaus aufgefasst werden.



Stufe I: Mensch als Akteur. Der Mensch wird durch seine Handlungen (arbeiten, kochen, Auto fahren), durch äußerliche Merkmale (Körpergröße, Kraft, Kleidung) und seinen Besitz (Haus, Auto, Familie) beschrieben.

Stufe II: Mensch als Träger von Eigenschaften. Der Mensch wird durch psychische Merkmale, wie Fertigkeiten, Eigenschaften und Fähigkeiten beschrieben. Bei den sozialen Bezügen stehen Alltagspflichten und -aufgaben im Vordergrund. Sozialbeziehungen werden instrumentell als Geben und Nehmen verstanden. Zwischen Ziel und Ergebnis (Zielerreichung) rücken Mittel und Wege, wie Anstrengung, Fleiß, Planung. Der Hauptfortschritt zur Stufe I besteht a) im Übergang von Oberflächenmerkmalen zu Tiefenmerkmalen und b) damit von bloßer Beschreibung zum Versuch einer Erklärung von Verhalten.

Stufe IIIa: Autonome Identität. Menschen werden durch einen organisierenden Kern, der Identität, dem Selbst, beschrieben. Sie planen und organisieren ihr Leben nach langfristigen, sinnstiftenden Zielen. Dabei wird Autonomie zum zentralen Anliegen. Sie wird entweder psychisch oder ökonomisch als Selbständigkeit verstanden und tritt je nach Kultur eher in den Dienst von Familie, Gemeinde und Gesellschaft oder in den Dienst der Selbstverwirklichung. Andere Personen werden als strukturell gleich, aber inhaltlich verschieden konzipiert, was zur Haltung der Toleranz und Achtung führt. Diese Einstellung wiederum wird möglich durch das relativistische Denken, das jenseits des logischen Denkens unterschiedliche Wahrheiten (vor allem im Bereich der Werthaltungen und Interessen) gelten lässt.

Der Hauptfortschritt zur Stufe IIIa besteht in der hierarchischen Integration von Handlung und Eigenschaft zur Identität. Daher bildet das Niveau IIIa bereits eine Drei-EbenenStruktur.



Stufe IIIb: Mutuelle Identität. Selbst bzw. Identität werden nun aus der Wechselbeziehung von zwei oder mehr Personen (Selbsts) abgeleitet. Identität definiert sich durch die Beziehung zu anderen. Die Person erkennt nicht nur Lebensstile und Überzeugungen anderer an, sondern versucht sie in die eigene Weltanschauung bzw. Lebensplanung zu integrieren. Dies führt zu Widersprüchen, weshalb menschliche Existenz als widerspruchsvoll und konflikthaft beschrieben wird. Als kognitive Leistung wird das subjektiv-dialektische Denken nötig, das mit Widersprüchen, die sich nicht logisch auflösen lassen, umzugehen vermag, sie aber noch subjektiv als Widersprüche in der Person oder zwischen Personen versteht. Die Konzeption des Menschen auf dieser Stufe ist eine Vier-Ebenen-Struktur, weil sie oberhalb der Konzeption der autonomen Identität das Verständnis für die Beziehung zwischen Menschen als definitorisches Kriterium ausweitet.

Stufe IV gesellschaftlich-kulturelle Identität. Auf dieser Ebene erfolgt eine vollständige Neustrukturierung des Menschenbildes. Der Mensch wird als Element großer Systeme, nämlich der Gesellschaft und Kultur, verstanden. Das Subjekt erfährt einen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht, z.B. in Bezug auf persönliche Ziele und Wünsche auf der einen und gesellschaftlich-kulturellen Zwängen auf der anderen Seite, aber auch als Wahrnehmung von Widersprüchen in der Gesellschaft selbst, denen man als deren Mitglied nicht gerecht werden kann (z. B. Widerspruch zwischen Beruf und Familie, Leistung und Konsum, Gegenwarts- und Zukunftsorientierung). Diese Erkenntnis und deren Verarbeitung für Lösungsvorschläge werden durch das objektivdialektische Denken möglich. Eigenes zielgerichtetes Handeln führt im System nun nicht mehr ohne weiteres zum Erfolg, wie auf früheren Stufen angenommen wurde. Vielmehr lässt sich das System als Ganzes nur durch gemeinsames kollektives Handeln verändern. Der Fortschritt auf dieser Ebene besteht in der Integration früherer Niveaus in eine systemische oder quasi-systemische Ordnung, was eine völlige Umstrukturierung bisheriger Konzeptionen nötig macht.

Diese Strukturniveaus sind als Wissensstrukturen und nicht nur als inhaltsleere formale Strukturen aufzufassen. Damit lässt sich das Prinzip kultureller Universalität mit dem Prinzip der Kulturspezifität verbinden: die formale Seite der Struktur bildet universelle Merkmale des Menschenbildes ab, ihre inhaltliche Seite kennzeichnet die spezifisch kulturellen (oder individuellen) Merkmale.

Für unsere Thematik der Selbstgestaltung von Entwicklung ist die Stufe IIIa von besonderer Bedeutung. Hier geht es um die Konzeption einer autonomen Identität, die selbstverantwortlich handelt, ihre Fähigkeiten zu langfristigen Zielen einzusetzen weiß und sich selbstgesetzten Werten verpflichtet fühlt. Die Überzeugung einer autonom handelnden Identität ist also vermutlich eine kulturelle Universalie. Warum sie universell ist, hat vor allem mit zwei Bedingungen zu tun. Die eine hängt mit den neuen neurologischen Befunden über unser Ichbewusstsein und unsere Konstruktion eines Selbst zusammen. Es hat sich in der Evolution des Menschen offenkundig als vorteilhaft erwiesen, eine Instanz des Selbst zu entwickeln, das sein Handeln organisiert und sich fähig fühlt, seine Umwelt zu kontrollieren. Wie diese „Illusion“ zustande kommt, ist dabei bedeutungslos. Die zweite Wurzel dieser Universalie stammt aus der Kultur. In jeder Kultur sorgen Erziehung und Sozialisation dafür, dass Individuen Selbstbewusstsein und die Überzeugung, selbstverantwortlich entscheiden und handeln zu müssen, erwerben. In individualistischen Kulturen wie den westlichen ist dies unmittelbar evident. In kollektivistischen Kulturen geht es zwar primär um die Ziele und das Wohlergehen der Gruppe, aber zur Verwirklichung solcher Ziele bedarf es (von der Überzeugung her) autonom handelnder Individuen. Zudem müssen die Individuen ihre eigenen Anliegen mit großem sozialen Geschick durchzusetzen versuchen. Kurzum, jede Kultur benötigt selbständig und effizient handelnde Personen, sie definiert den Erwachsenen schlichtweg durch dieses Merkmal.

Der Vollständigkeit halber sei noch ein spezifischer Befund unserer Untersuchungen mitgeteilt. Bei den Hochlandindianern in Peru und bei einer Untergruppe von Probanden in Indonesien (Arbeiter und Arbeiterinnen auf einer Teeplantage bei Bandung) fand sich neben den oben beschriebenen Stufen eine Struktur des Menschenbildes, die Züge der Stufen IIIa und IIIb enthielt, aber rein kollektiv orientiert war. Wir gaben ihr die Nummerierung IIIc (Bäßler 2001; Oerter und Bäßler 2002). Diese Struktur enthält Elemente der autonomen und der mutuellen Identität, aber ohne klar auf das Selbst bezogen zu sein. Daher kann man diese Struktur als kollektive Identität bezeichnen. Autonome und mutuelle Identität treten zugunsten des Kollektivs (der Dorfgemeinde, der Familie) zurück. Der Sinn des Lebens speist sich aus dem Bedürfnis, für das Ganze aktiv zu sein, und Ziele gemeinsam zu verwirklichen. Was als Kern jedoch bleibt, ist die Überzeugung, selbständig solche kollektiven Zielsetzungen verwirklichen zu helfen.

Als grobe Altersangaben kann man für die fünf Niveaus aufgrund unserer Befunde für deutsche Stichproben festhalten:


  • Mensch als Akteur und Besitzer: 7–11 Jahre

  • Mensch als Träger von Eigenschaften: 11–15 Jahre

  • Autonome Identität: 15–19 Jahre

  • Mutuelle Identität: ab 19 Jahren

  • Gesellschaftlich-kulturelle Identität: ab ca. 20 Jahren für 20–25% der StudentenStichproben

8.5 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse

Entwicklungsaufgaben

Man kann menschliche Entwicklung rein biologisch als Wachstum und Reifung beschreiben. DannbleibtallerdingsdasWesentlichemenschlicherOntogeneseaufderStrecke. Man kannEntwicklungalsZunahmeundstrukturelleVeränderungvonKompetenzenwieSprache, Intelligenz, WissenundSozialverhaltendarstellen. DannbleibtwiederumBiologisches und Kulturspezifisches außen vor. Die Entwicklungspsychologie hat ein Konzept entwickelt, dass diese Einseitigkeiten aufhebt, nämlich den Begriff der Entwicklungsaufgabe (Havighurst 1982). Im menschlichen Lebenslauf stellen sich typische Aufgaben, die das Individuum bearbeiten und bewältigen muss. Solche Aufgaben beginnen und enden mit biologischen Notwendigkeiten: Geburt, Wachstum, Geschlechtsreife, Zeugung von Nachkommenschaft und Tod. Andere Aufgaben stellt die Kultur: Schuleintritt, Schulabschluss, Eintritt ins Berufsleben, Familiengründung. Schließlich gibt es Entwicklungsaufgaben, die sich das Individuum selbst stellt, wie das Erreichen eines bestimmten Schulabschlusses und eines Berufsziels, das Umwerben und Gewinnen einer Partnerin oder eines Partners, die Suche nach persönlichem Sinn im eigenen Leben und das Verfolgen bestimmter individueller Interessen.

All diese Aufgaben verbinden in unterschiedlicher Gewichtung biologische, kulturelle und individuelle Anliegen. Sie beinhalten vor allem die eigenen Bemühungen um Lösungsversuche und Bewältigungsformen. Damit wird das Konzept zu verbindenden Wirkmechanismus von Evolution, Kultur und Selbstgestaltung.
Tab. 8.2 Die acht Lebenskonflikte nach Erikson (1973)

Lebenskonflikt

Alter

Urvertrauen versus Urmisstrauen

erstes Lebensjahr

Autonomie versus Scham

2/3 Jahr

Initiative versus Schuldgefühl

4/6 Jahr

Werksinn und Leistung versus Minderwertigkeit

7 Jahr bis Pubertät

Identität versus Identitätsdiffusion

Adoleszenz

Intimität/Solidarität versus Isolation

Junges Erwachsenenalter

Generativität versus Stagnation/Selbstabsorption

Mittleres Erwachsenenalter

Integrität versus Verzweiflung

Höheres Erwachsenenalter

Es lohnt sich, die Systematik solcher Entwicklungsaufgaben im gesamten Lebenslauf etwas näher in Augenschein zu nehmen. Erikson (1973) hat sie in Form von acht Lebenskonflikten konzipiert, womit zum Ausdruck kommt, dass man auch an Aufgaben scheitern kann. Tabelle 8.2 zeigt die Lebenskonflikte im Überblick und dazu in der zweiten Spalte die ungefähren Altersangaben.

Diese Lebenskonflikte sind eher kulturelle Reflexionen als empirische Vorschriften. Inzwischen hat man eine Fülle von altersbezogenen Aufgaben formuliert, von denen praktisch besonders diejenigen für die frühe Kindheit und das Jugendalter bedeutsam sind. In der frühen Kindheit vollzieht sich Entwicklung dramatisch und sehr schnell, hält aber eine bestimmte Reihenfolge ein, die noch stark reifungsbedingt, also biologisch mitdeterminiert ist. Im Gegensatz dazu ist das Jugendalter eine Epoche, die stark gesellschaftlich-kulturell geprägt ist und in schriftlosen Kulturen nur als rascher Übergang, der von Initiationsriten begleitet ist, stattfindet. In westlichen Kulturen hat sich das Jugendalter immer weiter ausgedehnt und wurde zu einem Entwicklungszeitraum, der je nach Situation 8 bis 12 Jahre umfassen kann. Diese lange Entwicklungszeit wird nötig, um sich konstruktiv mit der Kultur, in die man hineingewachsen ist, auseinanderzusetzen, die eigene Identität zu entwickeln und neue Perspektiven einzuführen. In Tab. 8.3 sind Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit solchen der Adoleszenz gegenübergestellt.

Die Altersangaben sind nur grobe Richtwerte und variieren im Jugendalter stark, denn Jugendliche zeigen markante Altersunterschiede in der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben. Politische Partizipation in Form von Wahlen wurde von 21 auf 18 und jüngst in Bremen auf 16 Jahre herabgesetzt. Im Gegensatz dazu ist die Vorbereitung auf Ehe und Familie heute weit nach oben verschoben. Viele junge Erwachsene widmen sich zunächst der beruflichen Karriere und denken erst später an Familie und Kinder. Gerade die Verlagerung der Schwangerschaft in ein späteres Alter zeigt, wie bei Entwicklungsaufgaben Evolution, Kultur und Ontogenese interagieren. Aus biologischer und evolutionärer Sicht istesehergeboten, Kinderfrühzugebären, wennFrauendasoptimaleAlter(etwazwischen 20 und 30 Jahren) haben. Auch die Kultur hat lange Zeit die biologische Rolle der Frau betont und sie mit Verhaltensvorschriften belegt, die sie ganz auf die Fürsorge für Kin-

Tab. 8.3 Entwicklungsaufgaben in der frühen Kindheit (Waters und Sroufe 1983) und im

Jugendalter (Havighurst 1982)



Frühe Kindheit

Alter

Adoleszenz

Alter

Physiologische Regulation

0–3 Monate

Neue und reifere Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen

Ab 13 J.

Handhabung von Spannungen

3–6 Monate

Übernahme der

Geschlechtsrolle



14–17 J.

Aufbau einer Bindung

6–12 Monate

Akzeptieren des eigenen

Körpers und seine effektive

Nutzung


13–18 J.

Erfolgreiche Exploration

12–18 Monate

Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern

17–19 J.

Individuation (Autonomie)

18–30 Monate

Vorbereitung auf Ehe und

Familie


Ab 20 J.

Kontrolle von Impulsivität 30–54 Monate Wertorientierung und Aufbau 15–20 J. eines ethischen Bezugssystems.

Geschlechtsrollenidentifikation

Gewinnung einer Beziehung zu Gleichaltrigen Weltanschauung.

Sozial verantwortliches 16–20 J.

Verhalten erstreben und erreichen

der und Ehemann festlegten. Die wirtschaftliche Entwicklung, aber auch die individuellen Emanzipationsbemühungen führten zur Erweiterung der Geschlechtsrollendefinition. Die heute regelhaft gegebene Verbindung von Beruf und Familie ist zugleich ein veränderter Umgang mit unserer Evolution als Ergebnis individueller Initiativen der Frauen und kulturell-gesellschaftlicher Veränderungen.

Abbildung 8.3 zeigt ein Strukturmodell der Entwicklungsaufgabe, das diesem Wechselspiel gerecht wird. Das Individuum nimmt die Anforderungen der Kultur, die bestimmte Aufgaben stellt, wahr und setzt sich damit auseinander. Die eigene Bedürfnislage und Einschätzung der persönlichen Fähigkeiten führt dann zur Zielsetzung, die das Individuum zu verwirklichen trachtet. Bei der für die Evolution zentralen Aufgabe der Familiengründung (bzw. der Herstellung familienähnlicher Beziehungen) ließen sich die beiden Lebenskonflikte Eriksons (Tab. 8.3) Intimität versus Isolation sowie Generativität versus Stagnation heranziehen. Zunächst geht es um den Aufbau intimer Beziehungen zum Partner oder zur Partnerin und dann, je nach Lebensplanung des Paares um Planung des Nachwuchses. Die moderne Art des Umgangs mit dieser Aufgabe unterscheidet sich beträchtlich von früheren Formen. Vor allem ist die individuelle Entscheidungsfreiheit, ob man Kinder will oder nicht, gewachsen. Es besteht die Möglichkeit, dass die kulturelle und individuelle Entwicklung der Evolution zuwiderlaufen, was in diesem Falle bedeutet, dass eine Gesellschaft schrumpft oder gar ausstirbt. Deutschland ist zurzeit eine sterbende Nation. Will sie fortbestehen, muss sie fortpflanzungswillige Ethnien aufnehmen.



Abb. 8.3 Dynamik von Entwicklungsaufgaben im Wechselspiel zwischen Individuum (subjektiver Struktur) und Kultur (objektive Struktur)

Kritische Lebensereignisse

Das Konzept des kritischen Lebensereignisses ist sowohl in der Klinischen Psychologie (Thoits 1983) wie in der Entwicklungspsychologie (Filipp 1990) systematisch genutzt worden. Während aus klinischer Perspektive kritische Ereignisse eher als Stressoren betrachtet wurden, hat man sie unter Entwicklungsperspektiven auch in ihrer fördernden Wirkung analysiert. Die normativen kritischen Lebensereignisse (also solche, die regulär im Lebenslauf auftreten, wie Schuleintritt, Examen, Heirat etc.) werden zu Entwicklungsaufgaben, wenn man sich vor ihrem Eintreten mit ihnen auseinandersetzt und auf sie vorbereitet.



Non-normative kritische Lebensereignisse (also solche, die unerwartet und unvorbereitet eintreten) werden von den Klinikern bei gravierenden Formen als traumatische Erlebnisse bezeichnet. Verbindet man die klinische mit der Entwicklungsperspektive, so ergibt sich als Folge die Berücksichtigung des Zeitpunktes des Eintretens kritischer Lebensereignisse. Unerwartete Invalidität hat beispielsweise in der Jugend einen anderen Stellenwert als im Alter. Die konstruktive Aktivität bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse bezieht sich sowohl auf Wahrnehmung und Einschätzung als auch auf Verarbeitung und Bewertung des Bearbeitungsversuches. Der Umfang an konstruktiver Aktivität kann hierbei sehr groß sein und bis zu einer völligen Umorganisation des Selbst sowie der Sicht von Mensch und Welt führen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn es um einschneidende kritische Ereignisse geht, wie eine tödliche Krankheit oder Invalidität in jungen Jahren. Einige non-normative belastende Ereignisse, die im Lebenslauf auftreten können, sind zum Beispiel:

  • Für das Kleinkind: Erkrankung und Abwesenheit der Mutter

  • Für das Kleinkind und Vorschulkind: Krankenhausaufenthalt und lange Krankheit

  • Für das Schulkind: Schulversagen

  • Für Jugendliche: Liebeskummer (führt bekanntlich manchmal zum Suizid)

  • Für jugendliche Mädchen: Unerwünschte Schwangerschaft

  • Für junge Erwachsene: Fehlendes Angebot an Arbeitsstellen

  • Für Erwachsene: Verlust des Arbeitsplatzes, Arbeitslosigkeit

  • Für Eltern: Kinderlosigkeit

  • Für jedes Alter: Unfall, Pflegefall, Invalidität

  • Für Eltern: Geburt eines behinderten Kindes

  • Für jedes Alter: Chronische Krankheiten

  • Für mittleres Erwachsenenalter: Scheidung

  • Meist für mittleres und höheres Erwachsenenalter: Depression

  • Für höheres und hohes Alter: Demenz, Alzheimer

  • Für höheres und hohes Alter: Körperliche Behinderung

  • Für höheres und hohes Alter: Verlust des Partners, der Partnerin

  • Für alle: Das eigene Sterben. Obwohl der Tod uns alle erwartet, wird er (außer im hohen Alter) nicht als normatives Ereignis gesehen

Die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen fällt höchst unterschiedlich aus. Sie hängt natürlich von Persönlichkeitsmerkmalen ab, und damit vom Zusammenspiel zwischen Anlage und Umwelt. Aber sie erfordert mehr noch die geistigen Leistungen der Interpretation des Ereignisses oder der Aufgabe und kreativer Einfälle von Lösung und Bewältigung des anstehenden Lebensproblems. Als der berühmte Physiker Stephen Hawking promovieren wollte, riet ihm sein Doktorvater ab; er meinte, dass er wegen seiner schweren Muskelerkrankung den Abschluss der Promotion nicht mehr erleben würde. Hawking promovierte dennoch und ist bereits 70. Die Parolympics werden von Menschen bestritten, die ihre Körperbehinderung hervorragend meistern. Ein Extrembeispiel für die Bewältigung des Partnerverlustes: Nach dem Tod seiner Lieblingsfrau (1631) ließ Großmogul Shaj Jahan für sie das berühmte Tadsch Mahal errichten und bewältigte so den großen Verlust. Beispiele der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen lassen sich beliebig fortsetzen. Sie geschehen täglich neu und zeugen von der aktiven und kreativen Mitgestaltung an der eigenen Entwicklung.

Natürlich gibt es auch positive kritische Lebensereignisse, wie Gewinn im Lotto, erster Preis in einem Wettbewerb, Kennenlernen einer Partnerin oder eines Partners, Wiederherstellung nach langer Krankheit, das Feiern eines runden Geburtstags, Miterleben der Erfolge von Kindern und Enkelkindern u. v. a. m.



Gespräch der Himmlischen

Dionysos: Ich will mit dem Dreierpack Anlage – Umwelt – Selbstgestaltung beginnen. Der Unterschied zur alten Anlage-Diskussion ist doch die Verankerung der Gene in der Evolution. Anlage beinhaltet nicht nur genetische Grundlagen für Verhalten, sondern generell, dass der Mensch ein Tier ist und seine Gene unverändert über Jahrtausende hinweg weitergegeben hat. In der Anlage vereinen sich generelle Merkmale des Homo sapiensmitspezifischenAusprägungeneinzelnerMerkmale, die, wiebeianderenTieren auch, eine Variation in der Population erfahren. Auf diese Weise ist jedes Individuum einmalig. Das nutzt man ja auch zum Nachweis der Täterschaft bei Verbrechen.

Apoll: In analoger Weise ist die Umwelt in der Kultur verwurzelt, die zum Teil universelle Züge trägt, zum Teil aber spezifische Besonderheiten aufweist und schließlich für ein bestimmtes Individuum sogar eine einmalige ökologische Nische darstellt. Dionysos: Mit Umwelt ist aber auch die biologisch-chemische Umwelt gemeint, ohne die der Mensch nicht leben könnte.

Apoll: Richtig, aber beim Menschen ist die biologische Umwelt immer durch die Kultur überformt. Die Zubereitung der Nahrung, das Gastmahl, die Trinkkultur, die Haltung beim Essen, z.B. liegend oder sitzend, die Vorschriften, wie man mit seinen Ausscheidungen verfährt, und vieles andere zeigen, dass auch die basalen biologischen Umweltbedingungen durch die Kultur mitgeformt werden.

Athene: Neu ist in dem Dreierpack die Eigengestaltung von Entwicklung. Sie beinhaltet eine Fülle von Problemen. Die Behavioristen haben z.B. von der Selbstgestaltung nichts gehalten, sondern alles auf Reiz-Reaktions-Koppelungen reduziert. Allerdings gingen sie bei der operanten Konditionierung davon aus, dass der Organismus spontan eine Vielfalt von Reaktionen produziert, von denen die erwünschten verstärkt werden. Ohne die vielfältige Aktivität gibt es also auch auf der untersten Ebene kein Lernen. Als man mehr über die Motivation und das Denken wusste, war die Annahme unvermeidlich, dass der Mensch seine Entwicklung selbst mitgestaltet und nicht nur Opfer der Umstände ist. Wie weit er seine Chancen nutzen kann, hängt von den Freiheitsgraden, die ihm die Umwelt gewährt, von seiner eigenen Initiative und Willenskraft und von seinem Anlagepotenzial ab.

Aphrodite: An die Selbstgestaltung hat der Mensch seit jeher geglaubt, denn er hat Schöpfungsmythen entworfen, bei denen ein Akteur die Umwelt nach seinem Gusto konstruiert. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat der Mensch seine Gestaltungskräfte nach außen projiziert und unter anderem auch uns erschaffen. Mir scheint, dass der Mensch von Anfang an danach strebt, vollkommen zu werden. Die ganz Kleinen ahmen den Erwachsenen nach, die sie für vollkommen halten. Später wählen sie Vorbilder aus, die ihren Idealvorstellungen am nächsten kommen. Und schließlich, wenn sie erkennen müssen, dass sie nicht vollkommen sein können, entwerfen sie uns Götter. Aber selbst uns haben sie mit Fehlern ausgestattet. Wir sind eifersüchtig, üben grausame Rache und missbrauchen oft unsere Macht.

Apoll: AufderApsismeinesTempelsinDelphistehtderberühmteSatz: GnothiSeautón. Er ist Anfang und Ende der Selbstgestaltung in der menschlichen Entwicklung.

Athene: Ja, „Erkenne dich selbst“ hat sich später zur Maxime erweitert: Werde, der du bist! In dieser Aufforderung steckt noch mehr der Entwicklungsgedanke als in der Inschrift auf deinem Tempel.

Dionysos: Damit sind wir beim Aufbau der Identität angelangt. Kein Wunder, wenn das Jugendalter die wichtigste Epoche für die Identitätsentwicklung bildet. Denn zu dieser ZeitspieltnochmalsdieBiologie, meineDomäne, einewichtigeRolle. Körperwachstum, Zunahme an Kraft und vor allem die Geschlechtsreife führen zur Beschäftigung mit sich selbst und dem eigenen Körper.

Aphrodite: Und es ist die Zeit, in der die Menschen besonders nach Vollkommenheit suchen, sich fragen, wer will ich werden, wie kann ich mich verbessern, sehe ich gut aus? Wisst ihr, dass die Mehrzahl der Mädchen in westlichen Ländern mit ihrem Körper unzufrieden ist? Die Mädchen halten sich für zu dick, selbst dann noch, wenn sie normalgewichtig sind und wirklich gut aussehen.

Dionysos: Zeus sei’s geklagt, viele von ihnen werden psychisch krank und verweigern die Nahrung. Die Anorexie ist zur Plage westlicher Kulturen geworden.

Apoll: Das hängt mit der Kultur zusammen. Wenn eine Kultur ein Schlankheitsideal vertritt, dem viele Mädchen nicht gerecht werden, kommt es zu solchen negativen Selbstbildern bis hin zur verzerrten Selbstwahrnehmung. Aber die Kultur hat auch positive Einflüsse auf die Jugendlichen. Jungen und Mädchen bilden sich ihre eigene Kultur, sie suchen in Musik, Kleidung und Sprache das aus, was zu ihnen passt. So entstehen regelrechte Jugendkulturen. Auch mit der Hauptkultur setzen sie sich auseinander und nehmen nicht mehr alles einfach hin. Sie rebellieren, erproben Grenzüberschreitungen und werden nicht selten zum Ärgernis der Erwachsenen.

Athene: Das ist eine alte Geschichte. Schon auf einer Keilschrift in Ur in Chaldäa, die 4.000 Jahren alt ist, steht: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe“. Unser verehrter Sokrates klagte: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widerspricht ihren Eltern, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Lehrer“. Und Aristoteles äußerte: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“.

Aphrodite: Es wäre im Gegenteil entsetzlich, wenn alle Jugendliche eine übernommene Identität besäßen. Beim Zeus, was wäre das langweilig.

Apoll: nicht nur langweilig, sondern es würde Stagnation der Kultur bedeuten. In den letzten 50 Jahren gab es in der Musikkultur, die gemeinhin Pop- und Rockmusik genannt wird, Tausende von neuen Songs. Stagnation in der Kultur bedeutet, dass die Kultur stirbt. Man kann nicht nur aus der Vergangenheit leben.

Athene: Es gäbe nicht nur Langeweile und Stagnation, sondern auch Gefahren. Die heutige Gesellschaft braucht neue Ideen und die Beteiligung der Jugend an Politik und sozialem Zusammenleben. Aber was ist eigentlich mit dem EKO-Modell? Es ist in diesem Kapitel nicht einmal erwähnt worden.

Dionysos und Aphrodite: Dann lasst uns selbst versuchen, das EKO-Modell an den neuen Informationsstand anzupassen.

Apoll: Beginnen wir mit dem Dreierpack, er bildet eine schöne geometrische Figur: das Dreieck. (Er zeichnet in der Abbildung 8.4 das Dreieck Anlage – Umwelt

– Selbstgestaltung ein.)



Athene: Jetzt müssen wir die drei Punkte mit dem EKO-Modell verbinden. (Zeichnet Evolution, Kultur und Ontogenese ein und verbindet die Begriffe mit Pfeilen zum

Dreierpack.)



Aphrodite: Was soll das bedeuten?

Dionysos: Was meinen Part betrifft, habe ich schon vorhin auf den Zusammenhang zwischen Evolution und Anlage hingewiesen. Die menschliche Evolutionsgeschichte manifestiert sich in seinen Anlagen, sowohl das Allgemein-Menschliche als auch die unverwechselbare Einmaligkeit der Anlagen beim Individuum.



Abb. 8.4 Das EKO-Modell in neuem Gewand

Apoll: Auch ich habe schon auf den Zusammenhang von Kultur als „Raum“ der Umwelt hingewiesen. Die Umwelt ist zwar auch eine biologische Umwelt, aber zum Ökosystem des Menschen gehören immer kulturelle Strukturen. Selbst die Nahrungsaufnahme ist durch die Kultur überformt. Essen und Trinken sind kulturelle Akte oder sollten es sein. Athene: Die Ontogenese des Menschen bezieht sich natürlich auf das gesamte Dreierpack. Trotzdem habe ich den Pfeil auf S (Selbstgestaltung) gerichtet, denn sobald es über die biologische Entwicklung hinausgeht, wird S zentral. Das Kind ist bewusst und mehr noch nicht bewusst konstruktiv aktiv beim Aufbau seines Weltverständnisses und seiner Handlungsfähigkeit in der Welt. Die eigene Gestaltungskraft und Zielgerichtetheit bleibt den Sterblichen durchs ganze Leben erhalten.

Dionysos: Ich fühle mich als Sachwalter der Evolution.

Apoll: Ich bin Sachwalter der Kultur.

Athene: Und ich Sachwalter der Ontogenese.

Aphrodite: Ich sehe mich, da alle Plätze belegt sind, als Sachwalter der Schönheit und Harmonie, der Ausgewogenheit und Balance des Ganzen, des optimalen Zusammenspiels zwischen den drei Mächten Evolution – Kultur - Ontogenese. Das bedeutet, Gesundheit, Glück und irdische Vollkommenheit.

Apoll: Unser EKO-Modell ist als göttliches Erzeugnis doch etwas akademisch geraten und entbehrt jeder künstlerischen Note. Die Erinnerung an die Inschrift meines Tempels in Delphi bringt mich auf die Idee, das EKO-Modell als Tempel darzustellen. Er hat an seiner Vorderfront drei Säulen: Evolution, Kultur und Ontogenese (zeichnet),



Abb. 8.5 Apollos Vorschlag für das EKO-Modell. (E Evolution, K: Kultur; O: Ontogenese; A: Anlage; U: Umwelt; S: Selbstgestaltung).

wird überdacht von einem Fries mit der Inschrift ,Gnothi Seautón‘ (zeichnet). Und schließlich bildet der Dreierpack mit Anlage, Umwelt und Selbstgestaltung den Giebel (zeichnet) (Abb. 8.5).



Athene: Das ist wirklich göttlich und überzeugt mich vollkommen.

Dionysos: Einfach irdisch-himmlisch. Wir könnten als jeweiliger Sachwalter noch unsere Namen in die Säulen eingravieren.

Aphrodite: Auchichbinbegeistert. DassolltedasLogofürallerestlichenKapitelwerden, allerdings mit Übersetzung des griechischen Textes.

Alle: Ne gute Idee das da – bei Nektar und Ambrosia!
Literatur

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Ontogenese: Molekulare Sicht 9



9.1 Kernwissen, Rüstzeug unserer Evolution

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