Inhaltsverzeichnis Einleitung


Tab. 6.1 Vier Grundkomponenten menschlichen Handeln in der Kultur, veranschaulicht an den Bereichen Musik (a



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Tab. 6.1 Vier Grundkomponenten menschlichen Handeln in der Kultur, veranschaulicht an den Bereichen Musik (a) und Handlungstypen im Jugendalter (b)




Aneignung

Vergegenständlichung

a) Beispiel Musik







Subjektivierung

Genussvolles Hören

Komponieren, Improvisieren

Objektivierung

Erkennen musikalischer Strukturen

Genaues Nachspielen und Nachsingen

b) Beispiel Jugendalter







Subjektivierung

Rock-und Popkonzerte anhören

Produkte der Jugendkultur herstellen

Objektivierung

Aufbau von

Wissensstrukturen durch schulisches Lernen



Erfindungen im Programm „Jugend forscht“

Handeln und für typische Handlungsmuster im Jugendalter. Tabelle 6.1 kombiniert die beidenBegriffspaarealssubjektivierendeundobjektivierendeVergegenständlichungsowie subjektivierende und objektivierende Aneignung.

6.5 Isomorphie als Regulationsprinzip zwischen Subjekt und Kultur

Verbindet man die vier Handlungskomponenten von Aneignung, Vergegenständlichung, Objektivierung und Subjektivierung mit der Perspektive, dass alles Handeln auf Gegenstände bezogen ist, so präsentiert sich das Subjekt nicht losgelöst von seiner Umwelt, sondern immer bezogen auf Objekte:



S O

Im Alltagshandeln ist dieser Gegenstandsbezug als Umgang mit Gegenständen oder auch als Konstruktion von Gegenständen äußerlich sichtbar. Der Gegenstandsbezug existiert aber auch ohne äußeres Handeln. Jede Repräsentation von Gegenständen oder Sachverhalten, jedes gedankliche Manipulieren mit Inhalten bedeutet Gegenstandsbezug. Daher gibt es aus ökologischer Sicht nicht das reine Subjekt, sondern nur das auf Umwelt bezogene Subjekt, und für die Spezies Homo sapiens heißt das, das immer auf Gegenstände bezogene Subjekt. Wir nehmen Subjekte losgelöst und vereinzelt wahr, doch latent stehen sie immer mit Objekten in Beziehung. Daher präsentiert sich das Subjekt S als:


6.5 Isomorphie als Regulationsprinzip zwischen Subjekt und Kultur

S (O)

Betrachtet man die Kultur als Universum von Gegenständen, so muss man auch aus dieser Perspektive das Subjekt mitdenken. Hinter den kulturellen Gegenständen sind Akteure verborgen. Der Trinkbecher existiert nur scheinbar unabhängig von uns. In ihm steckt sowohl der Geist des Konstrukteurs, der die Idee des Bechers (oder der Trinkschale) vor einigenzehntausendJahrenvergegenständlichthat, alsauchfürdenNutzerdieMöglichkeit des Trinkens. Daher ist es eigentlich notwendig, das Objekt O immer in Bezug auf das (latent vorhandene) Subjekt zu sehen:



(S ) O

Nun lässt sich die Wechselwirkung zwischen Kultur und Individuum exakt beschreiben. Wenn Individuen als handelnde Subjekte in ihrer Umwelt, die wir als kulturelle Umwelt definieren, überleben wollen, müssen sie mit den Gegenständen so umgehen, wie es die Kultur vorsieht. Im einfachsten Fall aus Bechern trinken, mit Messer und Gabel (bzw. mit Stäbchen) essen, die Hebelwirkung des Hammers richtig nutzen und ein Kraftfahrzeug adäquat steuern. Aber auch Wissensgegenstände verlangen genau die Handlungsstruktur, die ihre Konstrukteure vorgesehen haben. Betrachten wir diese Entsprechung an einigen Beispielen.

Zunächst das Beispiel Mathematik, weil bei ihr diese Entsprechung besonders klar wird. Baut ein Kind die mathematische Struktur der vier Grundrechnungsarten nicht isomorph zu mathematischen Gesetzen auf, kann es nicht rechnen. Umgekehrt: Das mathematische Wissen wurde im Laufe der Kulturgeschichte von einzelnen genialen Mathematikern entwickelt und strukturgleich zu deren individuellem Wissen zum Bestandteil der Kultur.

Auch die Musik verlangt Strukturgleichheit von Kultur (kulturellem Wissen) und Individuum(individuellemWissen). BeimangelnderGleichheitkommteszumfalschenSingen und Musizieren. Die musikpsychologische Forschung konnte zeigen, wie sich Strukturgleichheit in der Musik während der ersten Lebensjahre aufbaut. Sie vollzieht sich in drei Etappen (Bruhn und Oerter 1998; Trehub 2005; Stadler-Elmer 2005):



  1. Beachtung der Kontur des Auf und Ab ohne genaue Intervalleinhaltung. Hier ist dieKontur also das Strukturmerkmal, das Gleichheit kennzeichnet.

  2. Beachtung der Intervalle, aber mit Tonverschiebungen, weil noch kein Ankertonvorhanden ist (Intervall als strukturgleiches Merkmal).

  3. Richtiges Singen, Nutzung eines Ankertones, so dass die Tonart konstant bleibt. DieStabilität der Tonart ist somit das neue strukturgleiche Merkmal.

Natürlich zeigen sich solche Etappen auch bei Gebrauch manueller Werkzeuge. Beobachtungen von Kindern ergaben ebenfalls drei Schritte:

  1. Inadäquates Umgehen mit dem Werkzeug (strukturgleich ist hier nur das manipulierende Umgehen).

  2. Äußerlich ähnliches Hantieren, aber ohne Nutzung der Hebelwirkung (strukturgleichist die äußerliche Handhabung, wie sie visuell gegeben ist).

  3. Adäquater Umgang, Nutzung der Hebelkraft (Strukturgleichheit bei der eigentlichenFunktion des Werkzeugs)

EinZwischenruf, derausdiesenÜberlegungenfolgt: vorschulischeundschulischeBildung, muss dafür sorgen, dass ausgewählte wichtige kulturelle Wissensstrukturen bei Kindern und Jugendlichen strukturgleich (isomorph) aufgebaut werden. Dies gelingt keineswegs immer – im Gegenteil, vieles, das wir vermitteln, scheitert am inadäquaten Aufbau solcher Strukturen.

Verallgemeinern wir diese Sichtweise, so folgt daraus: Die individuelle Handlungsstruktur ist isomorph zur kulturellen Handlungsstruktur. Genauer: Die kulturell vorgegebenen Gegenstandsbezüge sind isomorph zu den individuellen Gegenstandsbezügen. Isomorphie wird hier in Anlehnung an die Mathematik als wechselseitige Abbildbarkeit von Strukturen verstanden. Der kulturelle Gegenstandsbezug ist in den individuellen Gegenstandsbezug abbildbar und umgekehrt. Die jeweilige kulturelle Struktur bezeichnen wir im Folgenden als objektive Struktur, die individuelle Struktur als subjektive Struktur. „Objektiv“ bezieht sich nicht auf die absolute Realität, sondern bezeichnet das, was in der jeweiligen Kultur als objektiv real und existent gilt.

Kulturelle Strukturen werden isomorph auf verschiedenen Ebenen aufgebaut, und verschiedene Personen erreichen unterschiedlich hohe bzw. differenzierte Ebenen. Fast nie gibt es eine perfekte Übereinstimmung zwischen kultureller Struktur und individueller Struktur. Isomorphie existiert nur in Ausschnitten bzw. auf einzelnen Strukturebenen.

Isomorphie zwischen objektiver und subjektiver Struktur reguliert also sowohl die Kulturgenese als auch die Ontogenese. In der Ontogenese passt sich das Individuum schrittweise der Kultur an, das konstruierende Subjekt baut sukzessive zur Kultur isomorphe Handlungsstrukturen auf. In der Kulturgenese entstehen neue Handlungsstrukturen in Form von Gegenstandsbezügen, die isomorph zu individuellen Strukturen ihrer Konstrukteure sind und sein müssen.

Abbildung 6.4 beschreibt die Regulation zwischen objektiver und subjektiver Struktur als Wechselwirkung. Das Individuum (subjektive Struktur) formt die Kultur vorübergehend oder dauerhaft durch den Prozess der Vergegenständlichung. Die Kultur (objektive Struktur) wird vom Individuum durch den Prozess der Aneignung übernommen. Als Regulationsprinzip fungiert somit die Isomorphie. Sie hält das Verhältnis von Individuum und Kultur im Gleichgewicht.

6.6 Kulturelle Meme als neue Form der Weitergabe von Information





Abb. 6.4 Die Herstellung von Strukturgleichheit (Isomorphie) zwischen Kultur (objektiver

Struktur) und Individuum (subjektiver Struktur)



6.6 Kulturelle Meme als neue Form der Weitergabe von Information

Der Evolutionsbiologe Dawkins (2009) hat den Begriff des Mem (von engl. Memory) eingeführt und es dem Gen gegenübergestellt. Meme beinhalten das kulturelle Wissen, das wie die Gene von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das Wissen hat aber die Chance, sich von Generation zu Generation zu vergrößern. Auf diese Weise können sich Kulturen und wir in ihnen viel rascher entwickeln. Kulturelle Evolution geht also um Zehnerpotenzen rascher vonstatten als biologische Evolution. Wir haben uns biologisch seit den letzten 100.000 (vielleicht auch „nur“ 40.000) Jahren kaum verändert, aber unsere Kultur hat riesige Sprünge gemacht. Seit dem 16./17. Jahrhundert hat sich die Entwicklung beschleunigt und in den letzten hundert Jahren ein rasendes Tempo angenommenen: vom Auto über das Flugzeug zu Rundfunk und Fernsehen, zu Telefon und Handy, zum Computer und Internet, auf dem man das gesamte Wissen menschlicher Kulturen abrufen kann, und schließlich zur Raumfahrt. Das alles ist in den letzten hundert Jahren passiert. Die kulturellen Meme sind hauptsächlich auf zweierlei Weise geordnet: als Wissensgegenstände, die fachlogisch-wissenschaftlich zusammen gehören, und als Wissen über die Handhabung, den richtigen Umgang mit Gegenständen. Die erstgenannte Einteilung tritt uns in den Wissenschaftsdisziplinen der Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften sowie in allen übrigens Bereichen der Technik, des Warensortiments und in Form der Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens gegenüber. Die zweite Form, das Wissen über die Handhabung von „Gegenständen“ haben wir am konkretesten in der richtigen Bedienung von Werkzeugen und Maschinen vor uns. Diese Art des Wissens beinhaltet aber auch die Kompetenzen im Umgang der Menschen untereinander, also die Anwendung von Regeln, Wertorientierungen und Normen im sozialen Miteinander. Schließlich bezieht sich dieser Wissensbereich auch auf methodische Kenntnisse über den Umgang mit wissenschaftlichem und technischem Wissen.

Wissensgegenstände, die zusammengehören, bezeichnet man auch als Memplex (zusammengesetzt aus Meme und Komplex). Wie wird nun dieses Wissen in der Kultur repräsentiert? Zunächst und vor allem existiert es als kollektives Gedächtnis. Bestimmte Dinge werden von allen gewusst, sonst könnten die Menschen in der sie umgebenden Kultur gar nicht existieren. Die Soziologen haben sich schon lange vor Dawkins Wortprägung der Meme mit dem kulturellen Wissen befasst. Daher benutzen sie für den gleichen Sachverhalt andere Bezeichnungen. Als weitreichend hat sich der Begriff der kollektiven bzw. sozialen Repräsentation erwiesen. Ein früher Erklärungsansatz stammt von Durkheim (1898), der Kultur und die Entwicklung des einzelnen in der Kultur auf die kollektive Repräsentation gründet, die später als soziale Repräsentation reformuliert wurde (Moscovici 1988). Wissensinhalte und Wertgeltungen sind als gemeinsamer Besitz vorhanden und werden permanent weiterentwickelt. Durkheim (1898) unterschied zwischen kollektiven und individuellen Repräsentationen. Während individuelle Repräsentationen Gegenstand der Psychologie seien, müsse sich die Soziologie mit kollektiven Repräsentationen beschäftigen. Er bezieht kollektive Repräsenation auf Religionen, Riten, Sprache, Gebräuche, magische Praktiken und Weltsichten. Sowohl Durkheim (1898) als auch Wundt (1900–1920) wandten sich gegen einen Reduktionismus, der diese Phänomene auf individuelle Repräsentationen zurückführt. Moscovici (1988) begründete in Frankreich die empirische Untersuchung von sozialen Repräsentationen und definiert sie

als:


Wertsysteme, Ideen und Praktiken mit doppelter Funktion: erstens um eine Ordnung zu etablieren, die die Individuen befähigt, sich in ihrer materiellen und sozialen Welt zu orientieren und sie zu meistern; und zweitens um Kommunikation zwischen den MitgliederneinerGemeinschaftzuermöglichen, indemsiemiteinemKodefürsozialenAustausch und einem Kode für eindeutige Benennung und Klassifizierung verschiedener Aspekte ihrer Welt und ihrer individuellen und Gruppengeschichte ausgestattet werden (op. cit., S. 211).

Eine Repräsentation ist dann sozial, wenn sie in mindestens zwei Personen (,minds‘) vorhanden ist oder war. Sobald Vorstellungen von der gesamten Ethnie oder Gesellschaft geteilt werden, wie etwa das demokratische Verständnis in westlichen Kulturen, kann man erneut von kollektiven Repräsentationen sprechen. Damit ergibt sich ein Kontinuum auf der Ebene gemeinsamer Repräsentationen von mindestens zwei Vertretern bis zur Nation oder ethnischen Großgruppe. Kollektive Vorstellungen können auch nationalitätsübergreifend sein. So besitzen Moslems eine Reihe gemeinsamer Repräsentationen über Bräuche, Rituale und Gesetzesvorschriften über viele Nationen hinweg. Kollektive und soziale Repräsentationen sind also ein Mittel zur Beschreibung von Kulturen und Subkulturen.

6.7 Das EKO-Modell: eine erste Annäherung





Abb. 6.5 Das Zusammenspiel von Evolution und Kultur, ein erster Schritt zum EKO-Modell, der aktiven Beitrag des Individuums und seiner Ontogenese ist noch nicht einbezogen

Der enorme Vorteil der Weitergabe von kulturellen Meme gegenüber der in den Genen gespeicherten Information besteht darin, dass das in einer langen kulturellen Entwicklung angehäufte Wissen innerhalb einer einzigen oder einer halben Generation weitergeben werden kann. Wozu die Kultur Jahrtausende brauchte, wie etwa dem Erwerb der Schriftsprache, kann innerhalb von wenigen Jahren (z. B. von 6–18 Jahren, bei der Schriftsprache von 2 Jahren) erworben werden. Beispiele für kulturelle Meme sind das Inzesttabu als überdauerndeVorschrift, dieModealskurzlebige, meistnurwenigeJahrehaltendeInformation sowie unsere Wertvorstellungen über Menschenrechte, Individualität und Gleichheit aller Menschen.



6.7 Das EKO-Modell: eine erste Annäherung

Das Anliegen dieses Buches ist es, Evolution, Kultur und individuelle Entwicklung (Ontogenese) in ihrem Zusammenspiel darzustellen und dadurch das Verständnis vom Menschen zu vertiefen. Abbildung 6.5 veranschaulicht den bisher dargestellten Zusammenhang in einem ersten Modell, das wir als EKO-Modell kennzeichnen wollen (E:

Evolution; K: Kultur; O: Ontogenese). In der Abbildung ist das Verhältnis als Dreieck sichtbar. Der Evolution verdanken wir zugleich die Kultur: sie gehört zum Homo sapiens (dargestellt als Pfeil von „Evolution“ zu „Kultur“). Was die Evolution dem Individuum beschert, ist dort aufgelistet als: Kreation des Gegenstandes, Sprache, Empathie, Theory of Mind (Trennung von äußerer und mental repräsentierter Realität), Kontrolle (die uns befähigt, aktuelle Bedürfnisse zugunsten späterer Ziele zurück zu stellen), Zeittiefe (die uns in die Lage versetzt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden), Vorstellungen/Repräsentationen (die uns die Welt ein zweites Mal verfügbar macht) und Ich-Bewusstsein (das alle vorherigen Fähigkeiten koordiniert und für das Handeln organisiert). Das alles und dazu die körperlichen Besonderheiten werden uns bereits von der Evolution beschert und machen unsere Einmaligkeit in der Tierwelt aus.

Die Kultur als Universum von Gegenständen sammelt im Laufe der Menschheitsgeschichte Wissen an, das man als Meme oder als kollektive (soziale) Repräsentationen bezeichnet. Von diesem Wissen profitiert der einzelne Mensch, indem er das Wissen der Kultur übernimmt und als subjektive Struktur bei sich aufbaut. Was er vom kulturellen Wissen, das prinzipiell zur Verfügung steht, übernimmt, hängt maßgeblich von der Umwelt ab. Bietet sie viele Chancen der Vermittlung (gutes Bildungssystem), wird der Einzelne viel übernehmen können, bei ungünstigen oder gar lebensgefährdenden Bedingungen, wie wir sie in Ländern der Dritten Welt vorfinden, wird er wenig lernen können. Das Modell berücksichtigt noch nicht die Eigenaktivität des Individuums, sein Eingreifen in die Kultur und seine Möglichkeiten der Nutzung seines evolutionären Potenzials. Diesem Mangel werden wir im nächsten Kapitel Rechnung tragen.



6.8 Weitergabe kulturellen Wissens: das Individuum als aktiver Konstrukteur

Wie werden Meme und Memplexe bzw. soziale Repräsentationen an die nächste Generation weitergegeben? Die via regia der Verknüpfung von sozialen bzw. kollektiven Repräsentationen und individuellen Repräsentationen erfolgt durch das gemeinsame Konstruieren von Realität, durch Ko-Konstruktion. Dieser Gedanke geht bereits auf Wygotski (1978, 1987) zurück und hat in der deutschen Soziologie als Konstruktion der sozialen Wirklichkeit (Berger und Luckmann 1970) und radikaler noch bei Luhmann (1990, 1993) als „Konstruktion der Welt in der Welt“ seinen Platz erobert. Zunächst aber zu Wygotskis Ansatz.



Die kulturhistorische Schule

Als die Sowjetunion durch die Ereignisse der Revolution starke gesellschaftliche Veränderungen erfuhr, wurde davon auch das psychologische Denken beeinflusst. Es entstand die kulturhistorische Schule, deren einflussreichster Vertreter Wygotski (1896–1934) war.

6.8 Weitergabe kulturellen Wissens: das Individuum als aktiver Konstrukteur

Das wichtigste Ziel dieser Schule war die Erklärung der Verbindung von Individuum und Gesellschaft. Der Terminus ,historisch‘ beinhaltet im Gegensatz zur üblichen Bedeutung des Wortes die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Schon damals führte die kulturhistorische Schule das Verständnis vom Menschen als aktivem Gestalter seiner Entwicklung ein, eines Akteurs, der sich die kulturellen Inhalte seiner Gesellschaft aneignet und damit zum Mitglied der Kultur wird.

Eine weitere Leistung der kulturhistorischen Schule besteht in der Integration von individueller und gesellschaftlicher Entwicklung. So wie das Individuum seine Zukunft durch instrumentelles Handeln gestaltet, so formen die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Zukunft durch kollektives Handeln. Im Gegensatz zu den meisten kulturanthropologischen und kulturpsychologischen Richtungen, die sich hüten, Kulturen nach ihrem Entwicklungsstand zu klassifizieren, betrachtet die kulturhistorische Schule Kulturen unter dem Aspekt des niedrigeren und höheren Entwicklungsniveaus und überträgt damit den wertenden Entwicklungsgedanken auch auf Kulturen.

Schließlich vereinigt die kulturhistorische Schule den sozialen und kognitiven Aspekt, indemsieallehöherenBewusstseinsphänomeneaussozialerInteraktionableitet. Dasheißt, dass höhere geistige Leistungen ohne Kultur und deren Entwicklung nicht möglich sind. Die Evolution bildet zwar die Basis, aber erst die Kultur ermöglicht beim Individuum die Entstehung solcher Leistungen. „In der Entwicklung des Kindes tritt jede höhere Funktion zweimal in Szene – einmal als kollektive Tätigkeit, das heißt als interpsychische Funktion, das zweite Mal als individuelle Tätigkeit, als innere Denkweise des Kindes, das heißt als intrapsychische Funktion“ (Wygotski 1987, S. 302). Diese Behauptung lässt sich an einem Beispiel veranschaulichen, von dem bereits früher die Rede war: Bevor das Kind die Grammatik der Muttersprache erwirbt, gibt es einen Vorläufer im Handeln. Das Kind lernt in Interaktion mit Erwachsenen oder älteren Geschwistern Handlungsschemata, bei denen ein Akteur an einem Gegenstand oder einer Person eine Handlung ausführt (die Glocke läuten, den Ball rollen). Mit diesem Handlungsschema wird die spätere Grammatik Subjekt – Prädikat – Objekt vorweggenommen. Die Grammatik ist gewissermaßen noch äußerlich, sie existiert als interpsychische Funktion.

Bei Wygotski besteht die zentrale Erklärung für Lernen und Entwicklung in der Vermittlung mit Hilfe mentaler Werkzeuge. Solche Werkzeuge sind Sprache, Zeichen und Symbole. Sie werden von der Kultur bereitgestellt und sorgen für die Mediation kulturellen Wissens und Handelns. Mit Karpov und Haywood (1998) lassen sich dabei zwei Formen der Vermittlung zwischen Kultur und Individuum unterscheiden: Metakognitive und kognitive Vermittlung. Die metakognitive Vermittlung bezieht sich auf den Erwerb semiotischer Werkzeuge zur Selbstregulation. Semiotische Werkzeuge sind sprachliche, gestische und andere Zeichen zur Steuerung des Verhaltens. Zunächst reguliert ein sozialer Partner das Verhalten des Kindes durch äußere Sprache (Verbote, Anregungen, Hinweise u. dergl.). Dann reguliert das Kind selbst das Verhalten anderer und das eigene Verhalten durch äußere (laut gesprochene) Sprache. Schließlich reguliert das Kind sein Denken und Verhalten durch inneres Sprechen.

DiezweiteFormderVermittlungdurchmentaleWerkzeugebeziehtsichaufdenErwerb wissenschaftlicher Begriffe (kognitive Mediation). Die kognitive Mediation ist notwendig, um sich die in wissenschaftlichen Begriffen neugeordnete Welt zu erobern. Auch hier ist die soziale Interaktion mit kompetenten Partnern wichtig. Diese mentalen Werkzeuge können nicht alle in eigener Regie nachkonstruiert oder gar erfunden werden.

Die Ontogenese (individuelle Entwicklung) kann nicht die gesamte Geschichte der Menschheit replizieren, sondern muss in sehr kurzer Zeit die Ergebnisse Jahrtausende langer Entwicklung aufnehmen. Diese Idee hat Rogoff (1990) weitergedacht und Lernen und Entwicklung als Prozess beschrieben, durch den die Kinder als Novizen in die Kulturgemeinschaft, die Gemeinschaft der Experten, hineinwachsen. Während dieser Prozess in einfachen Kulturen auch ohne Schule gelingt, dient ihm in komplexen Kulturen wie der unseren die Institution der Schule. Dabei kann aber das interaktive Lernen zu kurz kommen und somit den Gesamtprozess der Enkulturation stören.

Ursprünglich standen in der Menschheitsgeschichte nur zwei Methoden der Übernahme von kulturellen Meme zur Verfügung, die Nachahmung und die mündliche Weitergabe von Information. Die Nachahmung ermöglichte die zweite Form der Wissensordnung, den Umgang mit Objekten. Durch Imitation lernte die nächste Generation, wie man mit Werkzeugen und mit Menschen umzugehen hat. Die ältere Generation diente als Handlungsmodell. Natürlich wurde Verhalten auch durch Verstärkung gelernt: richtiges Verhalten wurde belohnt, falsches bestraft oder – besser noch – nicht beachtet. In heutigen Jäger- und Sammlerkulturen, wie den Eipos oder den Yupnos auf Neuguinea, sind Nachahmung und Verstärkung auch jetzt noch die wichtigsten Formen des Lernens. Sie ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch, werden aber durch weitere Formen des Lernens ergänzt. Sobald komplexere arbeitsteilige Gesellschaftsstrukturen entstehen, wird auch das kulturelle Wissen komplexer, es bedarf kundiger Lehrer, die das Wissen gezielt an Einzelpersonen oder (privilegierte) einzelne Gruppen weitergeben. Dies geschieht absichtsvoll (intentional), und die Lernenden richten ihre Aufmerksamkeit auf das zu vermittelnde Wissen (intentionales Lernen). Es kommt zur Einrichtung von Schulen und zur schichtspezifischen Weitergabe kultureller Information. Kulturelles Wissen war zum Teil Geheimwissen, generell war es bestimmten Gruppen vorbehalten. Die Gleichberechtigung bei der Bildung ist eine Errungenschaft der Neuzeit und keineswegs bereits vollständig verwirklicht. So sind in Deutschland die Bildungschancen nach wie vor sehr ungleich verteilt (PISA: Baumert et al. 2002).

Aber allen Lernformen – von den niedrigsten bis zu den höchsten – ist gemeinsam, dass sie Konstruktionsleistungen des Individuums darstellen. Menschliches Lernen funktioniert nicht nach der Methode des bekannten Nürnberger Trichters, bei dem in ein passives Subjekt Wissen einfließt, sondern als aktiver Konstruktionsprozess. Nicht die Eltern und Lehrer gewährleisten Lernen beim Individuum, sondern nur das Individuum selbst. FreilichwäreesindenmeistenFällenhoffnungslosüberfordert, wennesalleinzurechtkommen müsste. Erwachsene helfen, indem sie Wissen gemeinsam mit dem Kind oder Jugendlichen aufbauen. Individuelle Konstruktion wird unterstützt und oft auch erst ermöglicht durch Ko-Konstruktion. Dieser gemeinsame Aufbau von Wissen führt in einem nächsten Schritt

6.8 Weitergabe kulturellen Wissens: das Individuum als aktiver Konstrukteur

zum selbständigen unabhängigen Lernen (Konstruieren). Auch hier haben wir Wygotskis Schritte vom interpsychischen zum intrapsychischen Prozess vor uns. Wir werden in späteren Kapiteln diese allgemeine Idee differenzierter vor dem Hintergrund einer großen Zahl neuer empirischer Forschung zu modifizieren und zu differenzieren haben.


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